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Kapitel 19

11. April 1945

Bochum, Essen und Olpe sind bereits am Vortag durch die Alliierten eingenommen worden; nun stehen die Amerikaner in Mülheim. Von hier wollen sie auf Duisburg vorstoßen.

Bei Fliegerangriffen im Sauerland wird am 11. April Anni Königshofen getötet. Die Kevelaererin ist noch keine 23 Jahre alt. Am selben Tag stirbt im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Linken bei Königsberg Karl-Heinz Baers aus Kevelaer - eine Woche vor seinem 21. Geburtstag.

Die US-Armee befreit das Konzentrationslager Buchenwald und weitere KZ bei Weimar und Nordhausen.

Derweil füllt sich das Entlasslager für deutsche Kriegsgefangene in der Nähe des Schlosses Wissen. „25 Autos mit deutschen Kriegsgefangenen“, notiert eine Freundin von Maria v. Gisteren für den 11. April.

Entlasslager Wissen
Eines der wenigen (leider undeutlichen) Fotos vom Entlasslager Wissen.

Entlasslager Wissen 2
Kriegsgefangenen-Entlasslager Wissen. Fotos aus: "Krieg am Niederrhein", Dokumentarfilm

12. April 1945

Gegen 13 Uhr erreichen amerikanische Soldaten - ohne Widerstand - das Rathaus in Duisburg. Polizeipräsident Krampe unterzeichnet Kapitulation und Übergabe der Stadt.

Im Führerbunker zu Berlin wiederholt Hitler seinen Befehl zur Verteidigung deutscher Städte. Wer aufgebe und nicht kämpfe, werde mit dem Tod bestraft. Fliegende Standgerichte sollen zum äußersten Widerstand anhalten.

Während sich im Kellerlabyrinth unter der Reichskanzlei die Wirklichkeit längst verdunkelt hat, geben die Berliner Philharmoniker ein letztes Konzert und spielen zum Schluss Wagners „Götterdämmerung“. An den Ausgängen stehen uniformierte Hitlerjungen und verteilen an die Besucher kostenlos Zyankalikapseln.

Auch für Holland bahnt sich der letzte Akt an. Seit Wochen leiden die Niederländer Hunger, weil anhaltender Streik einheimischer Eisenbahner mit Schiffsblockaden durch die Deutschen beantwortet worden ist. Die Lebensmittelversorgung ist zusammengebrochen. Es droht eine Katastrophe.

Nach wie vor ist der größte Teil des Landes von den Deutschen besetzt. Nur der Süden Hollands ist befreit.

Seys-InquartReichskommissar Dr. Seyß-Inquart, der seine Verantwortung für Deportation und Ermordung von über 100.000 Juden aus Holland verdrängt hat und sich tatsächlich Gedanken darüber macht, wie er nach dem Krieg beim Wiederaufbau der Niederlande nützliche Dienste leisten könnte, sucht den Kontakt zu den Alliierten.

Dr. Seyß-Inquart. Foto aus: du Prel/Janke, Die Niederlande im Umbruch. S. 129

Am 12. April macht er in Den Haag den Vertretern des niederländischen Widerstands Vorschläge. Die alliierten Truppen, so entwirft Seyß-Inquart sein Szenario, dringen nicht tiefer in die westlichen Niederlande ein. Im Gegenzug werde die Wehrmacht auf weitere Verwüstungen und Überschwemmungen des Landes verzichten. Die Alliierten, schlägt Seyß-Inquart vor, übernehmen die Versorgung des niederländischen Volkes mit Lebensmitteln. Per Schiff herbeitransportierte Nahrungsmittel sollen unter Kontrolle des Internationalen Roten Kreuzes in die besetzten Niederlande befördert werden.

Die Vorschläge werden schriftlich festgehalten. Mit der Niederschrift begeben sich die Vertreter des niederländischen Widerstands nach London, wo die Exil-Regierung und Hollands Königin Wilhelmina seit ihrer Flucht vor den Deutschen residieren. In Berlin, im Führerbunker, hat man keine Ahnung von dem Alleingang des Reichskommissars in Den Haag.

13. April 1945

Seyß-Inquart empfängt in seinem Reichskommissariat Vertreter des niederländischen Widerstands, die Informationen aus London mitbringen. Die Exil-Regierung ist offenbar bereit, jede noch so kleine Chance zu ergreifen, um weiteres Unheil von den Niederländern abzuwenden. Seys-Inquart, der vorgibt, tiefes Mitleid mit dem niederländischen Volk zu empfinden, schickt einen Vertreter des Widerstands zu Prinz Bernhard und bietet Verhandlungen darüber an, wie die Alliierten gefahrlos Lebensmittel ins besetzte Holland bringen könnten.

Unterdessen ereignet sich im Führerbunker ein Scheinwunder von skurriler Unwirklichkeit. „Mein Führer, ich gratuliere Ihnen!“ ruft Goebbels mit überschnappender Stimme in den Telefonhörer. „In den Sternen steht geschrieben, daß die zweite Aprilhälfte für uns den Wendepunkt bringen wird. Heute ist Freitag, der 13. April!“

Gemeint ist der Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt am 12. April, der durch die Zeitverschiebung erst jetzt in Berlin bekannt wird. Hitler, der immer wieder von der „Vorsehung“ gesprochen hat und sich von ihr auserwählt fühlt, sieht in Roosevelts Tod eine gleiche Fügung der „Vorsehung“, wie sie schon Friedrich dem Großen geholfen habe.

1759 stand nach der Schlacht bei Kunersdorf die totale Niederlage Preußens kurz bevor. Doch anstatt auf Berlin zu marschieren, zögerten die Österreicher und Russen zwei Wochen lang und rückten sogar ab. König Friedrich nannte es das „Mirakel des Hauses Brandenburg“. Dieser von Friedrich II. geprägte Begriff wurde später irrtümlich auf den Tod der Zarin Elisabeth (1762) bezogen, nach derem Tod das Bündnis Russlands mit Österreich zerbrach, worauf der preußische König einen Separatfrieden mit Russland schließen konnte.

Hitler, über dessen Schreibtisch im Bunker ein Bild Friedrichs hängt, sieht in seinem Wahn die Wiederholung der Geschichte. Er lässt sich die Papiere mit den Meldungen über Roosevelts Tod geben und fuchtelt mit ihnen herum: „Hier! Sie wollten es nie glauben! Wer hat nun recht?“ Das „Wunder des Hauses Brandenburg“ kehre noch einmal wieder, sagt Hitler. „Der Krieg ist nicht verloren! Lesen Sie! Roosevelt ist tot!“

So wie die Verknüpfung des „Wunders“ mit dem Tod der Zarin Geschichtsklitterung ist, so aberwitzig irreal ist der Grund für Hitlers aufflammende Euphorie. Roosevelts Tod - Nachfolger wird H. Truman - hat auf den Kriegsverlauf nicht den geringsten Einfluss. Eine Möglichkeit, mit den Westalliierten einen Separatfrieden zu schließen, um dann - gemeinsam mit ihnen - den Krieg gegen die Sowjetunion fortzusetzen, hat es nicht einmal ansatzweise gegeben. Seit der Konferenz von Casablanca (1943) steht ohne jeden Zweifel fest: Dem NS-Regime bleibt nur die bedingungslose Kapitulation.

Oder die Ausschaltung - wie in Österreich: Noch am selben Tag wird die von Gauleiter Baldur von Schirach zur Festung erhobene Stadt Wien von den Sowjets erobert. In drei Monaten wird das 1938 an Deutschland angegliederte Land in seinen Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt sein.

14. April 1945

Die im Ruhrkessel eingeschlossenen Soldaten sehen das Ende konkret vor Augen. Aus dem Süden stoßen die Amerikaner bis nach Hagen vor und durchbrechen den Kessel in der Mitte. Die deutsche Heeresgruppe B ist zerschnitten und abgedrängt. Ein Teil, der kleinere, sammelt sich um Iserlohn, der andere zieht sich in Richtung Düsseldorf zurück. Jede Chance auf einen Ausbruch ist vertan. Hilfe von außen ist nicht zu erwarten. Trotzdem weist Generalfeldmarschall Model jeden Gedanken an Kapitulation von sich. Ein Angebot der Amerikaner lehnt er ab. Model weiß, dass jedem, der sich Hitlers Durchhaltebefehlen widersetzt, Sippenhaft für seine Familie droht.

15. April 1945

Models Truppen im Ruhrkessel haben fast keine Munition und Lebensmittel mehr. An den Rändern des immer enger geschnürten Rings nehmen die Amerikaner täglich mehr als tausend Soldaten gefangen, zuweilen sogar 5.000 am Tag. Als Kriegsgefangene behandelt werden auch die von Model nun entlassenen Soldaten, die sehr alt oder sehr jung sind. Die Amerikaner erkennen ihren Status als Zivilisten nicht an und internieren sie.

Derweil tritt in Kevelaer der von der britischen Militärbehörde eingesetzte Gemeinderat zu seiner ersten Sitzung zusammen. Bürgermeister Theodor van Ooyen, die Stadträte Franz Bourgeois, Bernhard Pier, Wilhelm Stassen und Wilhelm Polders II sowie Polizeichef Peter Plümpe bilden die Leitung im Rathaus. Zugeordnet sind als Vertreter der zum Amt Kevelaer gehörenden Gemeinden Wilhelm Pliss (Wetten), Peter Tebartz (Twisteden) und Johann Winkels (Kleinkevelaer), ferner als Vertreter der Wirtschaftskommission Roman Seifert, Cornelius Müller, Johann Ingenbleek, Peter Rühl und Josef Kitzhöfer. Sie alle sind Teilnehmer der ersten Sitzung am 15. April unter dem Vorsitz von Bürgermeister Theodor van Ooyen († 21.10.1945). Sie haben die Aufgabe, Kevelaer in die Normalität zu führen.

Am selben Tag sehen die Alliierten Grauenhaftes. Als britische Truppen das KZ Bergen-Belsen befreien, können sie das Ausmaß des im deutschen Namen begangenen Terrors nicht fassen. Die Bilder von den Leichenbergen und den Menschen, die überlebt haben, gehen um die Welt. Nach ihrer Befreiung sterben in den folgenden Tagen und Wochen noch etwa 14.000 der ehemaligen Häftlinge an Unterernährung und Entkräftung.

Bergen-Belsen
Vor der Befreiung: KZ-Häftlinge von Bergen-Belsen.

Während Bergen-Belsen befreit wird, beschließt das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, wie mit den noch unter deutscher Leitung stehenden KZ verfahren werden soll - mit Sachsenhausen, Dachau, Neuengamme, Flossenbürg und Ravensbrück. Himmler befiehlt - so ist es für Dachau und Flossenbürg dokumentiert -, dass kein Häftling lebend in die Hände der Alliierten fallen dürfe. Bitten des Roten Kreuzes, die Lager übernehmen zu dürfen, werden abgelehnt.

Für Himmler sind die KZ-Häftlinge „Verhandlungskapital“, das bei Gegenleistungen der Alliierten, so glaubt er, eingesetzt werden könne. So nehmen die Deutschen die Häftlinge aus einigen KZ mit in die Rückzugsräume, und die Todes-märsche beginnen. Zugleich be-kräftigt Himmler seine Befehle: „Keine deutsche Stadt wird zur offenen Stadt erklärt. Jedes Dorf und jede Stadt werden mit allen Mitteln verteidigt und gehalten. Jeder deutsche Mann, der gegen diese selbstverständliche nationale Pflicht verstößt, verliert Ehre und Leben.“

Dabei ist längst alles verloren. Am 15. April, dem Datum von Himmlers Befehl, treffen amerikanische und sowjetische Truppen bei Torgau an der Elbe zusammen.

16. April 1945

Im Ruhrkessel gibt es eine ehrenvolle Übergabe an die Amerikaner - es ist die einzige: In Iserlohn meldet vor seinen angetretenen Soldaten ein Hauptmann einem amerikanischen Offizier die Kapitulation seiner Einheit. Die Alliierten veröffentlichen diesen Unterwerfungsakt zunächst nicht, um die Familien der deutschen Soldaten nicht der Gefahr der Sippenhaft auszusetzen.

In Düsseldorf, der letzten noch nicht besetzten Großstadt im Westen, will sich eine Gruppe mit Unterstützung des Kommandeurs der Schutzpolizei, Oberstleutnant Jürgens, den Durchhaltebefehlen widersetzen und weiße Flaggen hissen. Zu ihrem Schutz lässt Jürgens den Polizeipräsidenten, den SS-Brigadeführer Korreng, verhaften. Aber SS-Männer können Korreng befreien und nehmen nun Jürgens fest. Der tapfere Mann wird vor ein Standgericht gestellt und noch am selben Tag getötet. Trotzdem schlagen sich Widerständler zu den Amerikanern durch und bieten an, Düsseldorf, das nur noch von 4.000 Polizisten verteidigt werde, kampflos zu überlassen. Die Amerikaner glauben ihnen nicht und verzichten.

Damit ist das Ende des Kampfs um Düsseldorf wieder ungewiss. Wie dagegen Berlin enden soll, ahnt die Bevölkerung seit dem frühen Morgen: Der Sturm der Roten Armee auf die Hauptstadt hat begonnen.
Kapitel 19

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© Martin Willing 2012, 2013