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    SACHBEGRIFFE |
Winkels, Johann

Bürgermeister von Kleinkevelaer | * 1902 | † 1978

Johann WinkelsUnter der Überschrift „’Kleiner Bürgermeister’ liebt kein Gedöns“ hat die Journalistin Renate Wilkes-Valkyser den folgenden Beitrag im Geldrischen Heimatkalender 1967 (ab S. 51) publiziert:

„Auf Grund der Berufungsverfügung des Herrn Landrats von Geldern vom 6. März 1936 wird der Bauer Johann Winkels hiermit unter Berufung in das Beamtenverhältnis mit Wirkung vom heutigen Tage zum Ehrenamtlichen Bürgermeister der Gemeinde Kleinkevelaer bestellt.“

Vieles hat sich seit dem 6. März 1936 verändert. Die Herren jener Zeit gingen oder wurden gegangen. Doch der Bauer Johann Winkels blieb Bürgermeister in Kleinkevelaer bis auf den heutigen Tag. 

Wenige Schritte abseits von der alten Straße, die einst die herzoglichen Residenzstädte Kleve und Jülich verband, wohnt in einem bescheidenen Bauernhaus der Repräsentant der kleinsten Gemeinde des Kreises Geldern. Neben der Haustür hängt der Kasten mit den öffentlichen Bekanntmachungen, das einzige Zeichen dafür, daß von hier aus über 128 Einwohner regiert wird. An der Haustür gibt es keine Klingel. Abgeschlossen wird sie nur nachts. Der „kleine Bürgermeister“ ist für jeden zu jeder Tageszeit zu sprechen. Sollte er nicht daheim sein, so ist er auf Acker oder Weiden zu erreichen. „Wer ein Amt übernimmt, der muß auch etwas tun. Im übrigen liebe ich kein Gedöns“, so lautet Johann Winkels schlichter Wahlspruch.

Schreibtisch und Telefon gibt es heutzutage in vielen Wohnstuben in Bauernhäusern, so auch auf dem Hof Winkels. Im Schreibtisch bei Winkels wird alles aufbewahrt, was zur Regierung einer kleinen Gemeinde notwendig ist. Für die Exekutive ist die Amtsverwaltung in Kevelaer zuständig. Von dort her reist denn auch alle paar Wochen die Verwaltungsspitze an, um sich‘s auf Polsterstühlen oder in Sofaecken des Winkelschen Wohnzimmers gemütlich zu machen. Im Verein mit sieben Ratsherren, die alle der CDU angehören, wird dann über Sein oder Nichtsein von Wegeausbau, Waldaufforstung, Wasserleitung und ähnlichen großen und kleinen Dingen beraten.

Doch gemütlich ist‘s nicht immer. Einen Bürgermeister mit dreißigjähriger Praxis kann auch ein eingefuchster Verwaltungsbeamter nicht mit schönen Reden überfahren. Das wurde erst jüngst deutlich, als im Rat die Sprache auf die Strukturverbesserung der Gemeinden kam. Bekanntlich hört man im Zusammenhang mit diesen Bestrebungen, daß den Kleinstgemeinden das letzte Stündchen schlagen soll. ,,Nur über unsere Leichen“ konnte dazu der Bürgermeister die einhellige Meinung des Kleinkevelaerer Gemeinderates kundtun.

Dreißigjährige Übung macht Meister, aus Johann Winkels einen Bürgermeister, der seine Meinung zu vertreten und begründen weiß. Der Nestor unter den Ortsvorstehern ist auch deren kleinster weit und breit. Das brachte ihm den Ehrentitel ,,Der kleine Bürgermeister“ ein. Fragt man die, die ihn kennen, so hört man: „Kleiner Bürgermeister - aber oho!“

„Oho“, denkt auch jeder, der ihm erst einmal ein paar Minuten lang gegenübersitzt. Aus dem mageren, kantigen Gesicht wird man von offenen, hellen Augen gemustert. Und man weiß, er braucht nur wenige Augenblicke, um sein Gegenüber einzuschätzen. Dann hat er auch schon den richtigen Ton gefunden. „Wie ich zu meinem Amt kam. Da fragen Sie mich zuviel. Ich war noch nicht mal Parteigenosse. Von der Sorte hatten wir hier überhaupt nur ein paar, und die wollte man wohl nicht an die Spitze der Gemeinde stellen. Ich war Vorsitzender der Bruderschaft und im Vorstand von anderen Vereinen. Da steckte so ein bißchen Führungsprinzip drin. Vielleicht hat man mich deshalb genommen, weil ich sowieso genug im Ort war?“ Johann Winkels wird den Grund nicht erfahren.

Doch muß er sich im Amt wohl bewährt haben, denn auch als die tausendjährige Macht mit der Besatzungsmacht den Platz wechselte, hatten die Briten an Johann Winkels Vergangenheit nichts auszusetzen. Und als dann später demokratisch gewählt wurde, blieb das Amt samt Würde und Last beim ,,kleinen Bürgermeister‘‘. Man kann unschwer voraussehen, daß er da noch lange bleiben wird, denn Johann Winkels‘ großes Vorbild ist sein Parteifreund Konrad Adenauer. Ihn bewundert er, nicht zuletzt den Kanzler, der im hohen Alter zu regieren verstand. „Doch so lange wie der Alte werde ich‘s nicht machen. Das sind Ausnahmen. Und die Jungen sollen auch mal was tun.“ Doch er ist erst 64 Jahre alt und weiß noch nicht, wann er für sein Amt nicht mehr kandidieren will. Auf jeden Fall kann man dem kleinen Bürgermeister zutrauen, daß er den richtigen Zeitpunkt schon erkennen wird.

Derzeit reichen seine Kräfte noch soweit, daß er etliche Ämter ausfüllt, die zum Teil gewiß nicht schlichter in ihren Problemen sind, als sein Bürgermeisteramt. Er ist Vorsitzender beim Wasser- und Bodenverband Blumenheide, bei Martinskomitee und Kirchenchor, Ehrenvorsitzender der Bruderschaft und Jagdvorsteher. Das alles sind Ämter, die er schon jahrzehntelang betreut. Irgendwie ist man bald überzeugt, daß Johann Winkels nicht nur der lieben Gewohnheit wegen zu derartigen Aufgaben berufen wird. Er weiß Interessen zu vertreten. Er hat Verständnis für den Mitmenschen, der in Kleinkevelaer immer auch Nachbar ist, was die Probleme manchmal nicht einfacher macht und Arbeit am grünen Tisch nicht erlaubt. Er versucht, den gerechtesten Weg zu gehen.

So hat er auch gute Gründe, wenn er dagegen ist, daß Kleinkevelaer vom großen Nachbarn Kevelaer her geschluckt werden könnte. Erstens hat Kleinkevelaer geschichtliche Daten vorzuweisen, die lückenlos bis 1229 zurückreichen. Da kann die Verwaltungsstadt nicht dran tippen. Man ist immer selbständig gewesen und nicht bereit, diese Eigenständigkeit so ohne weiteres aufzugeben, vor allem nicht wegen des Gemeindeeigentums.

Hier muß unweigerlich das Stichwort „Gemeindewald“ fallen. 600 Morgen groß ist das Gemeindegebiet. Rund 15 Prozent dieser Fläche sind Gemeindeeigentum. Der größte Teil dieser Gemeindefläche ist Wald, und zwar Wald, den man wie einen Augapfel hütet. Mögen auch manche Mächte über die kleine Gemeinde hinweggerollt sein, mögen auch manche dieser Mächte im Wald gehaust und gebrandschatzt haben, als wär‘s der eigene gewesen. Die Kleinkevelaerer haben immer dafür gesorgt, daß aus den abgeholzten und abgebrannten Flächen wieder Wald wurde. Dafür hat man, wenn‘s gar nicht anders ging, selbst oft genug mit angepackt. Man hat erlebt, daß blanke Goldtaler, das Vermögen der Gemeinde, in Inflationen und Währungen dahinschmolzen wie Butter an der Sonne. Aber der Wald blieb. Und das, was für 128 Einwohner viel ist, soll im großen Topf des Amtes Kevelaer verschwinden, wo es nur noch einen Tropfen ausmacht? Dazu sagt Johann Winkels ein klares Nein.

Wenn‘s sein muß, dann spricht der „kleine Bürgermeister“ hart. Lieber ist‘s ihm allerdings, wenn alles seinen geordneten Gang geht. Von seinen Erinnerungen pflegt er besonders die angenehmen. Er ist wandelndes Histörchenalbum seiner Gemeinde. Er weiß noch genau, wie sein Vater von jenem Überfall erzählte, den eines Tages die Kleinkevelaerer Bauern freventlich planten und ausführten. Gegen die aufs engste verschwisterte Nachbargemeinde zog man zu Karneval 1900 auf dem Rücken der braven Ackerpferde zu Feld. Die Kleinkevelaerer nahmen das zehnfach größere Twisteden im Handstreich, verhafteten den Ortsvorsteher und alle wichtigen Persönlichkeiten, setzten sie in einer Gastwirtschaft fest, wo sie so lange Tribut zu zahlen hatten, bis die Kleinkevelaerer Pferde den Heimweg allein finden mußten.

Einfach war das Bürgermeisteramt in Zeiten des tausendjährigen Reiches nicht. Da sagte doch der damalige Pastor Hegenkötter in der Sonntagspredigt Dinge, die manchem unangenehm in den Ohren klangen. Die Parteispitze des Kreises rief Johann Winkels zu sich, um von ihm zu hören, was man offiziell bestätigt haben wollte, um weitere Schritte zu unternehmen. Johann Winkels weiß heute noch, daß er erschrocken den unvorsichtig-mutigen Worten des Pfarrers gelauscht hatte. Doch die Parteispitzen mußten von ihm hören, er verschlafe die Sonntagspredigt meist. List hilft in vielen Lebenslagen. Auch in den vierziger Jahren wurde von höherer Instanz die Auflösung der Kleinkommune erwogen. Im Bürgermeisterschreibtisch lag schon der Plan bereit, wie man im Falle dieses Falles das Gemeindeeigentum, vor allem natürlich den Wald, dem Zugriff solcher Bestrebungen entziehen könnte. Wäre der unheilvolle Plan ausgeführt worden, hätte man kurzerhand das Gemeindeeigentum unter die Bürger verteilt.

Auch von ernsten Dingen weiß Johann Winkels zu berichten, davon, wie ihn eine Nacht lang ein betrunkener Besatzungssoldat mit der Pistole bedrohte. Davon, daß die Gemeinde plötzlich 35 Flüchtlinge aufzunehmen hatte. „Ich vergesse bis heute das Bild nicht, wie die Leute ankamen. Es mochten ja ein paar Querköpfe dabei sein. Für uns war es nicht so einfach, die Leute unterzubringen, und das, was wir noch hatten, mit ihnen zu teilen. Aber wie sie da saßen, hungrig und durchfroren, und nichts mehr an Hab und Gut, da taten sie mir alle doch leid. Es muß was getan werden für die Leutchen, hab ich mir gedacht. Jetzt sind viele davon noch hier und richtige Kleinkevelaerer geworden.“

Als erster unter Gleichen hatte der Bürgermeister 1966 über einen Etat in der Größenordnung von 48.000 Mark zu befinden. Die Straßenbeleuchtung wurde angelegt. Wirtschaftswege sind alle ausgebaut bis auf einen, für den die anstehende Flurbereinigung noch eine neue Richtung finden wird. Eine Wasserleitung bekam man im Anschluß an Twisteden. Der Gemeindewald ist restlos wieder aufgeforstet.

Schulprobleme, Vereinsangelegenheiten, kurzum Kulturelles und Wirtschaftliches, das wird alles in Gemeinschaft mit der Nachbargemeinde Twisteden gelöst. Es ist ein überschaubares Reich, das der ,,kleine Bürgermeister” zusammen mit dem Gemeinderat regiert, immer mit einer klaren Meinung, dem Willen zum Ausgleich und wenn‘s die Interessen wollen, mit Härte oder List. Immer aber werden auch mit einem „Klaren“ die Entscheidungen bekräftigt, die bei den Ratssitzungen im Bürgermeisterzimmer nur selten nicht einstimmig gefaßt werden.

© Martin Willing 2012, 2013