17. April 1945
Um 14.50 Uhr blasen die Amerikaner einen schon befohlenen Luftangriff
von über tausend Bombern auf Düsseldorf ab. Um 15 Uhr rücken US-Soldaten
aus, um die Stadt, die offenbar nicht mehr verteidigt wird, zu besetzen.
Es fällt kein einziger Schuss. Die Amerikaner nehmen deutsche Soldaten
und Polizisten gefangen.
Generalfeldmarschall Model stellt seinen verbliebenen Soldaten der
Heeresgruppe B im Bergischen Land frei, entweder in Gruppen kämpfend aus
dem Ruhrkessel auszubrechen oder sich einzeln, in Zivil oder in Uniform,
durchzuschlagen. Die letzten Reste an Munition sind aufgebraucht.
In Massen nutzen seine Soldaten die Gelegenheit, zu kapitulieren und
sich in die Hände der Alliierten zu begeben. Am Ende sind es 317.000
Wehrmachtsangehörige, die in Gefangenschaft gehen. Den Führerbefehl aus
Berlin (14.4.), kämpfend aus dem Kessel auszubrechen, kennen sie nicht.
Model hat den Befehl wegen der aussichtslosen Lage nicht weitergegeben.
Was Berlin davon hält, hören sie am 20. April in einer Rundfunkrede von
Goebbels. Der Minister beschimpft die Soldaten als Verräter.
Model
erschießt sich vor seiner Gefangennahme in einem Wald nördlich von
Düsseldorf.
Walter Model.
Otto Moritz Walter Model (* 1891), 1944 zum Generalfeldmarschall
ernannt, war wegen der von ihm befohlenen Gräueltaten gegen die
Zivilbevölkerung hinter der Ostfront von der Sowjetunion in die Liste
der Kriegsverbrecher aufgenommen worden.
Im Norden der Niederlande warten die Einheimischen
sehnsüchtig auf ihre baldige Befreiung. Es herrscht bittere Not. Falls
die Besetzung anhalten sollte, droht ungezählten Holländern Tod durch
Verhungern, zumal Tausende von Juden in ihren Verstecken heimlich
mitversorgt werden. Dafür fälscht die Widerstandsbewegung
Lebensmittelkarten. Aber es gibt kaum noch etwas dafür. Pro Person
werden nur ein halbes Pfund Brot und eine winzige Portion Fleisch
zugeteilt. Das muss für eine Woche reichen.
Als „Festung Holland“ steht der Norden der Niederlande immer noch unter
der Knute der Deutschen. Generaloberst Blaskowitz weiß nichts von den
Versprechungen des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart gegenüber der
niederländischen Exil-Regierung, von weiteren Überschwemmungen und
Zerstörungen abzusehen.
Blaskowitz lässt am 17. April den Polder
Wieringermeer überfluten, um die Alliierten aufzuhalten.
18. April 1945
Dr. Werner Pauen († 2010), der spätere Medizinaldirektor im Kreis Kleve,
erlebt in Herne das Ende des Kriegs. Er ist im Marienkrankenhaus
eingesetzt.
Dr. Werner Pauen (nach
seiner Pensionierung in Kevelaer).
► „Pausenlos wurden verletzte Menschen eingeliefert. Gegen 23
Uhr reichte die Schwester Oberin den Sanitätern eine Tasse Suppe im
Keller. Plötzlich erschien oben auf der Treppe eine Schwester und rief:
‚Schwester Oberin, die Amerikaner sind im Haus‘. Ein Kumpel sagte zu
mir: ‚Für uns ist der Krieg aus‘. In diesem Moment erschienen auf der
Kellertreppe zwei schwarze GI‘s. Dort die bewaffneten Soldaten, unten
die Deutschen mit der Suppentasse in der Hand. Ein fast komisches Bild.“
Werner Pauen wird in Gefangenschaft abgeführt und bei Rheinberg im
Wiesen-Lager interniert.
In der Gegend
um Leipzig begegnet der deutsche Soldat Heinrich Stein,
der nach dem Krieg Ratsmitglied in Kevelaer werden wird, am 18. April
den Amerikanern. Stein versteckt sich im Schuppen eines kleinen
Bauernhofs und sieht durch die Schlitze des Holzes, wie der
Bürgermeister des Dorfs mit einer weißen Fahne den Alliierten
ent-gegengeht.
Heinrich Stein (2005).
Stein zieht Zivilkleidung an, zwingt sich zur Ruhe,
begibt sich auf die Straße und spaziert an den Soldaten vorbei. Ein paar
Tage danach wird er doch noch festgenommen und darf den Ort nicht
verlassen. Er tut es trotzdem und flüchtet zu Fuß in Richtung Westen.
Unterwegs wird er wiederum verhaftet, aber weil sein Name nicht auf der
Liste der gesuchten Kriegsverbrecher steht, wird er am folgenden Tag
frei gelassen.
Heinrich Stein schafft es zu Fuß bis nach Westfalen, wo er Pfingsten
1945 seine Familie in der Nähe von Dorsten findet.
19. April 1945
Die gesamte Hügelkette von Seelow bis hinauf nach Wriezen östlich von
Berlin ist in russischer Hand. Die Rote Armee vernichtet Schlag um
Schlag die Reste der deutschen Abwehrfront und bringt selbst die größten
Opfer: 70.000 Russen fallen bei diesen Stellungskämpfen vor Berlin,
12.000 Deutsche.
20. April 1945
Im Kriegsgefangenenlager bei Rheinberg herrschen grausame Bedingungen.
„Wie eine Viehherde werden wir zusammengetrieben“, berichtet der Maler
Curtius Schulten. „Und wieder brennt die Sonne unbarmherzig in diesem
Frühling vom wolkenlos blauen Himmel. Ich bin dem Verdursten nahe. Viel
Platz haben wir, man kann sich bewegen, einmal langlegen, aber es gibt
kein Wasser. Langsam füllt sich das Lager.“
Für den 20. April notiert Curtius Schulten:
► „Das Wetter wird schlechter,
starker Wind kommt auf. Dann regnet es. Bis auf die Haut sind wir naß,
durchgefroren. Wer wird das durchhalten? Keine Baracke, kein Zelt, rein
nichts ist hier, nicht mal eine Küche, geschweige denn ein Arzt oder ein
Krankenrevier. Wir sind eingesperrt wie eine Herde auf der Weide. Wir
verzweifeln nahezu alle. (…) Glücklich der, der einen Löffel hat, ein
König, wer eine leere Konservendose besitzt. Wie die Maulwürfe graben
wir uns in die Erde, um Schutz vor Regen und brennender Sonne zu
finden.“
Auch Werner Pauen hat schlimme Erinnerungen an den 20. April im
Rheinberger Lager:
► „Es war die Hölle. In 24 Stunden bekamen die Soldaten
zwei Kekse und einen Löffel Spinat zu essen. Das war die Ernährung im
Lager. Die Wiese wurde aufgeteilt und eingezäunt mit Stacheldraht in
Sektoren, durch die ‚Straßen‘ führten. So war die Bewachung durch die
Amerikaner einfacher.“
Pauen ist als Sanitäter mit der Entlausung der
Gefangenen beschäftigt. Er steht den ganzen Tag in einer Wolke des
versprühten Giftes. Sanitäranlagen gibt es nicht, kein Klo, keine
Waschgelegenheit. „Gefangene, die flohen, wurden abgeschossen.“
Pauen
sieht mit eigenen Augen, wie ein erschossener deutscher Soldat zur
Abschreckung mit den Füßen an einen Jeep gebunden und durch die
Lagerstraßen gezogen wird, während der Kopf ständig irgendwo
gegenschlägt. Nach zwei Wochen hat Pauen das Glück, von den Amerikanern
anderswo gebraucht zu werden. Er darf das Lager verlassen.
Der 20. April ist „Führers Geburtstag“. Zum letzten Mal verlässt Hitler
seinen Bunker in Berlin. Die Szene, in der ein greisenhafter, an
Parkinson leidender „Führer“ mit zitternder Hand einem der angetretenen
Hitlerjungen die Wange tätschelt, ist weltbekannt geworden. Der
56-jährige Hitler nervt mit der sich hinschleppenden Zeremonie etliche
der Umstehenden, die auf heißen Kohlen sitzen und sich rechtzeitig in
Sicherheit bringen wollen. Der Ring um die Hauptstadt ist bereits fast
geschlossen.
Nach der Szene im Garten des Bunkers befiehlt Hitler ein Wunder: Seine
Generäle sollen in einem großen Befreiungsschlag die Sowjets
zurückdrängen und aus Berlin vertreiben. Jeder weiß, dass das ein
Hirngespinst ist. Niemand wagt, es auszusprechen.
Im Bunker treffen Goebbels, Himmler, Bormann und Speer sowie weitere
hochrangige Vertreter des Regimes und der Wehrmacht aus Anlass des
Geburtstags von Hitler zusammen. Auch Göring lässt sich noch einmal
blicken, nachdem er 24 Lastwagen mit zusammengeraubten Kunstwerken und
Antiquitäten aus seinem Privatpalast Karinhall nach Süddeutschland
vorausgeschickt hat. Dann beginnt das hastige Allein-Lassen des Mannes,
der die Welt in Brand gesteckt hat. Einer nach dem anderen verabschiedet
sich von dem „Führer“. Hitler nickt nur noch und hat für niemanden ein
Abschiedswort.
An dem Tag des Exodus‘ aus dem Umfeld des Diktators erhält Dr. Alfred
Trzebinski, Oberarzt im Konzentrationslager Neuengamme, den Befehl, 20
jüdische Kinder zu ermorden, die als Versuchspersonen für die
Tuberkuloseexperimente des SS-Arztes Kurt Heißmeyer benutzt worden sind.
Die Zeit drängt. Die Briten nähern sich dem KZ. Die Kinder werden in
eine Schule bei Hamburg gebracht. Sie haben Spielzeug bei sich und
freuen sich über den Umzug. Der Arzt gibt ihnen Beruhigungsmittel. Als
sie schlafen, hängt ein Pfleger ein Kind nach dem anderen auf.
Der 20. April ist auch der Todestag des Pfarrers von Kapellen bei
Geldern, B. Thoms. 24 Jahre hat er in Kapellen als Seelsorger gewirkt.
Der am Altar der Klosterkirche St. Bernardin in Hamb zusammengebrochene,
krebskranke Mann stirbt im Krankenhaus Issum und wird in Kapellen
beigesetzt. Weil die bischöfliche Behörde in Münster unerreichbar ist,
setzt der nach Kevelaer zurückgekehrte Dechant
Wilhelm Holtmann kraft
besonderer Vollmacht den Kaplan und Studienrat Evers, den die Nazis vom
Bischöflichen Gymnasium vertrieben haben, als Pfarrverwalter ein.
In Holland erlebt Diet Eman,
eine christliche Widerstandskämpferin und
Helferin der Juden, der wir in dieser Serie noch einmal begegnen werden,
den Tag der Befreiung in Nijkerk nördlich von Amersfoort:
Diet Eman und der
Widerstandskämpfer Hein Sietsma. Die Sietsma-Gruppe überfiel deutsche
Behörden, um Lebensmittelkarten zur Versorgung der Juden zu erbeuten.
Vor jedem Überfall betete das Liebespaar: "Gott segne unseren Überfall."
► „Am 20. April
wurde das Feuer eingestellt. Plötzlich hörten wir nichts mehr - auf
einmal war es still, totenstill. Die Stille war unheimlich, denn wir
wußten nicht, was passiert war; wir hatten das Haus ja seit einigen
Tagen nicht verlassen. Aus der Richtung von Nijkerk hörten wir
Hurra-Rufe. Zögernd ging ich zur Straße - ich konnte es kaum glauben: So
weit das Auge reichte, sah ich Panzer, Panzer und noch einmal Panzer.
Aus dem Osten zogen die Kanadier heran! (…) Jetzt konnten die Juden sich
ins Freie wagen, jetzt konnte jeder, der untergetaucht war,
herauskommen. Die Kinder brauchten nicht länger im Haus zu bleiben. Es
herrschte eine unbeschreibliche Freude. (…) An diesem Abend gingen wir
auf den Marktplatz und sangen mit tränenüberströmtem Gesicht den
‚Wilhelmus‘, unsere Nationalhymne. Wir hatten sie seit Jahren nicht mehr
singen dürfen. (…) Ich nahm ein Fahrrad und fuhr von Dorf zu Dorf, um
nach ‚meinen‘ Juden zu sehen. Es war phantastisch, sie außerhalb ihrer
Verstecke zu begrüßen und vor allen Leuten mit ihnen reden zu können.
Einige von ihnen hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es war ein
Gefühl, als hätte sich eine riesige Wolke, die auf uns lag, gehoben -
wir waren frei!“
Am selben Tag treffen sich der Reichsführer-SS und ein Vertreter der
schwedischen Regierung zu einer weiteren Geheimverhandlung darüber, wie
der Krieg beendet werden könne. Himmler hat sich bereit erklärt, direkt
mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses zu sprechen. Die
zweieinhalbstündige Zusammenkunft findet in der Nähe Berlins statt.
Himmler kommt gerade von Hitlers letzter Geburtstagsfeier.
Der Massenmörder verteidigt gegenüber seinem jüdischen Gesprächspartner
die Judenpolitik des Dritten Reichs und lügt den Holocaust zu einer
Aktion herunter, die die Auswanderung der deutschen Juden zum Ziel
gehabt habe. Später habe man die „feindselig eingestellten Massen der
Ostjuden“ unter Kontrolle bringen müssen. In den Konzentrationslagern
sei es streng, aber gerecht zugegangen. Infolge von Seuchen sei die
Todesrate hoch gewesen, deshalb habe man große Krematorien bauen müssen.
Natürlich weiß der jüdische Verhandlungspartner, dass jedes Wort gelogen
ist. Aber er erduldet die Schamlosigkeit Himmlers, weil sich das Leiden
vielleicht verkürzen lässt.