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Kapitel 21

21. April 1945

Toter SoldatDie Aussicht auf einen Sonntagsbraten sorgt für schöne Aufregung in Weeze: Es gibt tatsächlich Fleisch zu kaufen. „Drei Pferde“, schreibt Walter Siemes, „waren auf der Weide in Helsum erschlagen worden“ (Weeze im Rückblick).

Beim Anblick der Befreier und der gefallene Soldat.

An diesem Samstag wird Hitler, der meist erst zur Mittagszeit ansprechbar ist, im Führerbunker zu Berlin bereits gegen halb zehn geweckt, weil die Gegend um das Brandenburger Tor und den Reichstag unter Artilleriebeschuss liegt.

„Als Hitler kurz darauf unrasiert und sichtlich verstört ins Vorzimmer kommt, ist seine erste Frage: 'Was ist los? Woher kommt diese Schießerei?'. Auf die Erklärung (...) hin, daß das Zentrum (...) unter Beschuß genommen werde, wurde Hitler bleich: ‚Sind die Russen schon so nah?‘“ (Joachim Fest, Der Untergang)

Aus dem KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin treiben SS-Einheiten unmittelbar vor dem Eintreffen der Roten Armee 30.000 Häftlinge in Richtung Westen.

22. April 1945

In der verbunkerten Zentrale unter der neuen Reichskanzlei sorgen Wutausbrüche des Diktators für weiteres Chaos. Hitler stößt Schmähungen gegen seine Generäle aus. Nur von Verrätern sei er umgeben. Deshalb könne er nicht mehr führen. „Der Krieg ist verloren.“ Aber Berlin verlasse er nicht. „Eher jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.“ Dann sagt er den folgenschweren Satz:

„Tun Sie, was Sie wollen! Ich habe keine Befehle mehr.“

23. April 1945

Hermann Göring, immer noch zweiter Mann im Staat, erfährt in Berchtesgaden von der Absicht des Führers, in Berlin zu bleiben und sich dort das Leben zu nehmen. Göring lässt sich die Panzerkassette bringen, in der er den Führererlass vom 29. Juni 1941 aufbewahrt, mit dem Hitler ihn zu seinem Nachfolger ernannt hat:

„Wenn ich in meiner Handlungsfreiheit beschränkt sein oder durch irgendwelche Ereignisse ausfallen sollte, so ist der Reichsmarschall Hermann Göring mein Stellvertreter bzw. Nachfolger in allen Ämtern von Staat, Partei und Wehrmacht.“

Göring funkt am Nachmittag ein Telegramm nach Berlin: „Mein Führer, sind Sie einverstanden, daß ich nach Ihrem Entschluß, in Berlin zu bleiben und Berlin zu verteidigen, auf Grund des Gesetzes vom 29.6. 1941 nunmehr die Gesamtführung des Reiches übernehme? (...) Wenn ich bis 22 Uhr keine Antwort erhalte, nehme ich an, daß Sie Ihrer Handlungsfreiheit beraubt sind und werde ich nach eigenem Ermessen handeln.“

Zunächst nimmt Hitler den Funkspruch teilnahmslos zur Kenntnis. Erst am frühen Abend, als ihn Parteileiter Martin Bormann nach einem zweiten Telegramm Görings aus der Lethargie reißt, indem er erregt „Göring übt Verrat“ ruft, reagiert Hitler mit einem grenzenlosen Wutausbruch.

Er widerruft die Verfügung, beschuldigt Göring des Treuebruchs und verlangt in einer telegrafierten Antwort von Göring, sofort „aus Gesundheitsgründen“ von allen Ämtern zurückzutreten, wenn er straffrei bleiben wolle.

Bormann befiehlt unterdessen der SS, den Reichsmarschall in Berchtesgaden zu verhaften und zu liquidieren. Görings Haus wird am späten Abend umstellt. Doch bevor die SS-Männer Göring ergreifen können, richten amerikanische Bomber ein Trümmerchaos an. Görings Haus wird schwer beschädigt, Hitlers Sommerresidenz auf dem Obersalzberg ist nach am Fliegerangriff völlig zerstört.

In dem Durcheinander kümmert sich die SS nicht weiter um Göring. Hitler bestimmt Großadmiral Karl Dönitz zum Reichspräsidenten und Oberkommandierenden der Wehrmacht. Göring solle aus der Partei ausgeschlossen und aller Ämter enthoben werden.

Das gleiche Schicksal droht Rüstungsminister Albert Speer, der am Abend des 23. April seinem Drang nicht widerstehen kann, sich von Hitler persönlich zu verabschieden. Speer begeht die Torheit, Hitler zu gestehen, seit Wochen dessen Zerstörungsbefehle unterlaufen zu haben. Der folgende Augenblick entscheidet, mal wieder, über Leben und Tod. Hitlers Macht hätte immer noch ausgereicht, den Rüstungsminister wegen Missachtung des Führerbefehls unverzüglich erschießen zu lassen. Doch es gelingt Speer erneut, Hitlers sentimentale Seite anzusprechen. Als Speer versichert, seine Loyalität zu ihm, dem Führer, habe trotz der Befehlsverweigerung nie Schaden genommen, „füllten sich Hitlers Augen mit Tränen“ (J. Fest).

In derselben Nacht bietet Heinrich Himmler ohne Umschweife im schwedischen Konsulat in Lübeck den West-Alliierten eine Teilkapitulation an. Der oberste SS-Mann verrät seinen Gesprächspartnern, dass Hitler aufgegeben habe und schon bald tot sein werde. Himmler bittet um ein Treffen mit dem US-Oberbefehlshaber Eisenhower. An der Westfront werde die Wehrmacht die Waffen strecken, im Osten dagegen werde sie weiterkämpfen.

Unterdessen übernehmen in den Kreisen Geldern und Kleve neue Einheiten der Briten die Militärregierung. Kevelaer ist voll von Ausländern. Zu Tausenden sind sie in der beschlagnahmten Basilika und im Zeltlager im Bereich der Feldstraße untergebracht, um von hier aus in ihre Heimatländer entlassen zu werden. Dagegen sind schon alle Internierungslager in Bedburg-Hau, Kleve und Kellen restlos geleert.

Zeltlager Kevelaer
Im Zeltlager an der Feldstraße in Kevelaer.

Auch die letzten Zivilisten, die die Alliierten im Vorfeld ihrer Rheinüberquerung aus den linksrheinischen Dörfern abtransportiert haben, sind wieder zu Hause. Viele finden ihre früheren Wohnungen zerstört oder ausgeplündert vor.

24. April 1945

Der Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Dr. Arthur Seyß-Inquart, begibt sich zu einer Konferenz über die dramatische Ernährungslage in Holland von Den Haag, seinem Amtssitz, nach Deutschland. Auf der Rückreise in den noch besetzten Norden der Niederlande stellt er fest, dass kanadische Truppen bereits Groningen in Friesland erreicht haben.

Seyß-Inquart und seine Begleitung kommen unversehrt durch die Frontlinien und erreichen Den Haag. Der Reichskommissar bereitet sich auf direkte Verhandlungen mit Eisenhower über Lebensmittellieferungen für die vom Hungertod bedrohten Niederländer vor. Tatsächlich wird Eisenhower am Tag darauf ermächtigt, mit Seyß-Inquart zu verhandeln.

Bei den letzten Kämpfen in Norddeutschland fällt an diesem 24. April in Schaphusen westlich von Bremen der Kevelaerer Franz-Josef Neuy. Der 26-Jährige ist ein Bruder der Künstler Heinrich und Karl Neuy.

Berlin ist mittlerweile völlig abgeschnitten. Mittags haben sich zwei sowjetische Armeen im Südosten Berlins vereint und den Ring um die Stadt geschlossen.

25. April 1945

Ritter von Greim und die Pilotin Hanna Reitsch landen nach waghalsigem Flug am Brandenburger Tor. „Es gibt noch Treue und Mut auf der Welt“, sagt Hitler zu General von Greim, den er an Stelle Görings zum Oberbefehlshaber der kaum noch vorhandenen Luftwaffe und zum Generalfeldmarschall ernennt. Hitlers kurz aufgehellte Stimmung verdüstert sich wieder, als er vom Zusammentreffen der amerikanischen und sowjetischen Truppen bei Torgau an der Elbe erfährt.

Eisenhower schickt Seyß-Inquart in Holland eine Mitteilung, in der er eine sofortige Begegnung mit dem Deutschen vorschlägt und ihm freies Geleit durch die alliierten Linien über die „Hauptstraße West-Ost bei Amersfoort“ zusichert. Diese Mitteilung erreicht Seyß-Inquart allerdings erst am Tag darauf. Eisenhower, der sich bei den Regierungen der West-Alliierten absichert, hat die Zurückhaltung des eher ablehnend eingestellten britischen Premierministers Churchill mit dem Hinweis auflösen können, dass im Falle weiterer Überflutungen der Niederlande durch die Deutschen eine tausendjährige Kultur vom Untergang bedroht sei.

Da meldet BBC, dass die alliierte Luftwaffe am folgenden Tag beginnen werde, Nahrungsmittelpakete an Fallschirmen über den Niederlanden abzuwerfen. Diese im Radio verbreitete Nachricht alarmiert den deutschen Militärbefehlshaber im noch besetzten Teil Hollands, General Blaskowitz. Die Flugzeuge könnten statt der Lebensmittel auch Fallschirmjäger absetzen. Außerdem würde ein willkürliches Abwerfen von Paketen unter den verhungernden Holländern ein Chaos auslösen. Eine geordnete Versorgung mit Nahrungsmitteln sei so nicht möglich.

Blaskowitz lässt über einen Verbindungsmann aus dem niederländischen Widerstand noch in der selben Nacht nach London funken, die von BBC angekündigte Aktion müsse verhindert werden.

Sherman-Panzer
Sherman-Panzer im Angriff.

Die Amerikaner, die holländische Exil-Regierung in London und die deutschen Besatzer verständigen sich darauf, dass die Flugzeuge nur bei Tageslicht anfliegen und die Lebensmittelpakete ohne Fallschirme abwerfen, und zwar ausschließlich über Duindigt (nördlich von Den Haag), Valkenburg, Ypenburg und Waalhaven. Die Pakete sollen von Niederländern eingesammelt und weiterbefördert werden.

Am Himmel über den West-Niederlanden tauchen bald die ersten Bomber auf, die Lebensmittel und wenig später auch die Freiheit bringen.

Die Nacht vom 25. zum 26. April ist fast vorbei, als es im Führerbunker zu einer weiteren bizarren Begegnung mit Hitler kommt. So als könnten sich zwei Freunde nicht trennen, erscheint Speer noch einmal. Er steht, wie er in seinen Erinnerungen notiert, vor dem „erloschenen Greis“, selbst den Tränen nahe und nach Worten suchend. Speer will seinem Führer Adieu sagen.

„Also Sie fahren. Gut. Auf Wiedersehen“, sagt Hitler und lässt den enttäuschten Speer, der ein persönliches Wort zum endgültigen Abschied erwartet hat, stehen.

27. April 1945

Beim Endkampf um Berlin fällt im Spreewald der Soldat Johann Wilhelm Verhofstadt (38) aus Kevelaer, Mittelstr. 8.

Am selben Tag wird Mussolini auf der Flucht in die Schweiz am Comer See von italienischen Partisanen gefangen genommen und zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci erschossen.

Himmler erfährt von dem Schweden Graf Bernadotte, dass die Westmächte den angebotenen Teilfrieden ablehnen. Das Dritte Reich müsse bedingungslos kapitulieren. Damit hat Himmler ausgespielt. Als am Tag darauf die Alliierten den Reichsführer-SS vor aller Welt bloß stellen und dessen geheimes Angebot im Radio veröffentlichen, ist Hitler außer sich. Er hat Himmler zu seinen „Treuesten“ gezählt ...

Kapitel 21

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© Martin Willing 2012, 2013