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Geschichte vor Kevelaers Haustür im Jahr 1939: Elser-Attentat auf Hitler, Verhaftung Karl Leisners und das Agentendrama an der deutsch-niederländischen Grenze
Was für ein dramatischer November 1939! Karl Leisner wird verhaftet, weil er „Schade“ gesagt hat, nachdem er im Radio von dem missglückten Attentat auf den „Führer“ gehört hat. Hitler und Himmler vermuten hinter dem Anschlag von München den britischen Geheimdienst. Deshalb werden zwei britische Agenten am Grenzübergang Niederdorf zwischen Herongen und Straelen gekidnapt und verschleppt - ein Spionagefall wie aus einem James-Bond-Drehbuch.
Agent Captain Best, Attentäter Georg Elser, SS-Chef Himmler (v.l.).
Die Nachricht elektrisiert den britischen Geheimdienst. Der „Secret
Intelligence Service“ (SIS) hat von seinen Agenten Captain Best und
Major Stevens in Den Haag Informationen von größter Wichtigkeit
erhalten: In Deutschland gebe es eine Opposition, die Hitler beseitigen
wolle. Erste Kontakte zu den Widerständlern seien geknüpft.
Allerdings gibt es diese Widerständler gar nicht. Der deutsche
Sicherheitsdienst (SD) hat sie erfunden, weil er 1939 die britischen
SIS-Agenten in den Niederlanden aus der Deckung locken will.
Ein deutscher Abwehrmann mit Tarnnamen „Dr. Solms“ kann bei einem
Treffen in einem Venloer Hotel als angeblicher Vertreter der deutschen
Opposition das Vertrauen der britischen Agenten Best und Stevens
gewinnen. Sie merken nicht, wie „Solms“ sie hereinlegt, und liefern den
Deutschen bereitwillig einen Beweis, dass sie tatsächlich Spione Ihrer
Majestät sind.
Am 21. Oktober 1939 treffen sich Best und Stevens mit zwei weiteren
„Oppositionellen“ aus dem Deutschen Reich, diesmal in Arnheim und
abgesichert durch den holländischen Oberleutnant Klop, der sich den
Deutschen als „Clopper“ und Brite vorstellt. Besprochen wird die Zeit
nach der „Beseitigung Hitlers“.
Am
7. November kommen die britischen Agenten, der niederländische
Oberleutnant und die angeblichen Verschwörer aus Deutschland am
Grenzübergang Niederdorf zwischen Herongen und Venlo zusammen, um im
Café Backus scheinbar gemütlich zu plaudern.
Hier wurden die britischen Agenten gekidnapt: im „Niemandsland“ vor dem Café Backus in Niederdorf zwischen Herongen und Venlo. Foto aus: Heinz Bosch, Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas. Geldern 1970. S. 37
Es wird
verabredet, sich dort am folgenden Tag (8. November) wiederzusehen, dann
aber in Anwesenheit eines (erfundenen) Generals, der im deutschen Reich
den Widerstand anführe.
Die britischen Agenten werden misstrauisch, als am 8. November die
Deutschen ohne General im Café Backus erscheinen. Nein, das sei nur
aufgeschoben, hören sie. Der General sei unerwartet zu Hitler gerufen
worden, und morgen, 9. November, bei einem weiteren Treffen um 16 Uhr im
Café, werde er dabei sein. Im übrigen sei bereits für einen der
folgenden Tage das alles entscheidende Attentat auf Hitler geplant.
Was immer der britische Geheimdienst geglaubt haben mag - ein Ereignis
am selben Abend verändert alles: Im Münchner „Bürgerbräukeller“ geht an
diesem 8. November eine Bombe hoch, die Hitler hinweggerafft hätte, wäre
er noch am Rednerpult und nicht längst im Zug auf der Rückfahrt nach
Berlin gewesen.
Nun glauben beide Seiten das Falsche: Die britischen Agenten halten die
Geschichte einer großen Widerstandsbewegung im Nazi-Reich für quasi
bestätigt, während Hitler und Himmler felsenfest davon überzeugt sind,
dass nur der britische Geheimdienst ein solches Attentat habe einfädeln
können.
Best und Stevens warten nun gespannt darauf, an der Grenze den
unbekannten General des deutschen Widerstands zu treffen. Gleichzeitig
befiehlt Himmler, die SIS-Agenten unverzüglich zu verhaften, denn Hitler
glaube, dass der SIS hinter dem München-Attentat stecke.
Ein Sonderkommando der SS bezieht am 9. November rund um das Café Backus
in Niederdorf Stellung, alle Mann in Zivil und mit Maschinenpistolen
unter ihren Mänteln. Best und Stevens sowie der niederländische
Oberleutnant Dirk Klop („Clopper“) treffen zur verabredeten Zeit am
Grenzübergang ein und wollen gerade ihr Auto verlassen, als Schüsse
fallen. Klop zieht sofort seinen Dienstcolt und legt auf die deutschen
„Informanten“ an. Da rast ein Wagen des SS-Sonderkommandos heran. Klop
schießt in die Windschutzscheibe und wird selbst schwer getroffen.
Völlig überrumpelt lassen sich Best und Stevens festnehmen. Sie werden
über die Grenze verschleppt und geraten in die Hände der Gestapo in
Düsseldorf.
Am selben Tag wurde beim niederländischen Militär eine Urlaubssperre
verhängt. Der Alarm war durch diesen Grenzwischenfall bei Venlo
ausgelöst worden. Die Niederländer sahen darin Anzeichen, dass der schon
seit längerem befürchtete Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande
unmittelbar bevorstehen könnte.
Der angeschossene Dirk Klop stirbt noch am selben Tag. Nach seinem Tod
fälscht die Gestapo ein schriftliches Geständnis von Klop, das ein
halbes Jahr später der Regierung in Den Haag - am Tag des deutschen
Überfalls (10. Mai 1940) - überreicht wird, um sich zu rechtfertigen:
Die Niederlande hätten sich nicht an ihre Neutralität gehalten und von
ihrem Boden aus britische Agenten gegen das deutsche Reich operieren
lassen. Da habe sich Deutschland schützen und das Land vorsorglich
besetzen müssen.
Best und Stevens werden in Konzentrationslagern weggeschlossen und für
spätere Schauprozesse am Leben gehalten. Himmler setzt alles daran, den
durch Zufall beim Grenzübertritt zur Schweiz verhafteten
München-Attentäter Georg Elser als Werkzeug des britischen
Geheimdienstes zu entlarven. Himmler steht unter enormem Erfolgsdruck,
weil Hitler endlich Beweise für die Verwicklung des SIS in das Attentat
haben will.
Es gibt keinen zweiten belegten Fall, in dem Himmler selbst körperliche
Gewalt ausgeübt hat: Im Verhörraum wird der Gefangene Elser mehrmals von
Himmler brutal getreten. Der Reichsführer SS fürchtet um seinen Ruf bei
Hitler als „kompetenter“ Geheimdienstchef. Als sich die Verwicklung des
SIS in das Attentat nicht beweisen lässt, verbietet Himmler allen
Eingeweihten, jemals wieder in seinem Beisein den „Fall Venlo“ zu
erwähnen, den er, weil keine Verbindung zum Attentat in München
herzustellen ist, wie eine Niederlage empfindet.
Während Best und Stevens überleben und am 4. Mai 1945 von den Alliierten
aus dem KZ Dachau, wo auch der ihnen unbekannte Karl Leisner
festgehalten wird, befreit werden, wird Georg Elser, der Einzeltäter von
München, in Dachau am 9. April 1945 ermordet. Karl Leisner, der am
Kevelaerer Gnadenbild wesentliche Prägungen erfahren hat, überlebt seine
KZ-Haft nur bis zum 12. August 1945.
Von allem, was da im November 1939 an der Grenze, vor unserer Haustür,
passiert ist, erfahren die Kevelaerer zunächst nichts. Die wichtigste
Zeitungsnachricht jener Tage ist, dass in der Marienstadt der Martinszug
„aus verständlichen Gründen leider ausfallen muss“.
Literaturhinweise:
Heinz Bosch, Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas.
Geldern 1970.
Louis de Jong, Die Deutsche fünfte Kolonne im Zweiten
Weltkrieg. Stuttgart 1959.
Peter Longerich, Heinrich Himmler. München 2008.
Ian Kershaw, Hitler 1936 - 1945. München 2002.