Von Rullerkes und versengten Fingerkuppen

Mit Freunden haben wir Neujahrskuchen gebacken. Für die Nicht-Ostfriesen in meiner Leserschaft: Das sind Hörnchen, die wie Eiswaffeln aussehen und keine sind. Ungefähr jede ostfriesische Familie pflegt ein eigenes, aber wirklich ganz eigenes und nahezu geheimes Rezept für die Rullerkes.

Den Teig setzen die Bäckerinnen und Bäcker schon vor dem Großbacktag an. Waschschüsselweise! Das halten Sie für übertrieben? Vonwegen. Er muss für Hunderte von Hörnchen herhalten und besteht im Wesentlichen aus Mehl, Butter, Wasser, Eiern…

… und wie könnte es in Ostfriesland anders sein: aus Kluntjes, also Kandis. Ostfriesen haben nicht nur einen im Tee, sondern auch im Kuchen. Die Kluntjes lassen den Teig nach dem Backen superschnell aushärten.

Gewürze fügen die Kuchenbäcker nicht in Prisen hinzu, sondern in Großportionen.

„Wie viel Kardamom nimmst du?“ „Sieben Tüten.“ „Und wie viel Anis?“ „Verrat ich nicht, aber Ungemahlener muss auch dran.“ „Und Zimt?“ „Wie Anis.“

Vor dem Backen wird in fachlichen Erörterungen die Qualität der Konsistenz besungen. „Noch einen Schluck Wasser dazu?“ „Schmeckt der Kardamom durch?“ „Ist genug Butter dran?“

Jedes Gramm Zutat in unserer Waschwanne zählt. Wer‘s nicht glaubt, setze sich an unseren Backtisch. Darauf glüht schon ein Waffeleisen. Was sage ich: Eins? Es glühen fünf mit den Gesichtsbäckchen der Bäcker um die Wette. Fünf Eisen für zwei rotglühende Bäckchenbäcker.

Die kämpfen in vermutlich zehnter Generation mit einer weiteren Herausforderung: All diese todsicher originalen Original-Rezepte gelingen am besten in uralten Waffeleisen, die genauso eigen sind wie die Rezepte und die Bäcker.

Die Eisen backen oblatendünne Waffeln und drücken ihnen kunstvolle Motive in den Leib.

Hingebungsvoll reiben die Männer die Innenseiten der Waffeleisen mit Speckschwarten ab und fügen dem Speckschwartenglanz der Altvorderen eine weitere Generation Fett hinzu. Viele Eisen, die jetzt in ostfriesischen Küchen Küchlein schockbacken, stammen aus der Zeit, als die Elektrostecker noch Porzellanmäntelchen trugen. Diese Geräte zählen zu den moderneren Fabrikaten, denn gern plaudern die Bäcker über Zeiten, als Oma die Rullerkes noch in einem Eisen über offenem Feuer buk.

Backtafel mit modernen Eisen, Rundholz, Rullerkes, Miniportion Teig (von der Waschschüssel abgenommen).

Während die beiden Rotbacken löffelweise Teig in die Eisen füllen, sitzen die Damen mit Rundhölzern startklar. Die Dünnfladen, die ihnen sodann, von Männerhand mit einem Messer aus den Eisen gehoben und flach zugeworfen, auf ein Brettchen fliegen, sind heiß, sehr heiß. Spitze Finger greifen das Glühgut und drehen es in null-komma-nix mit dem Rundholz zu einer konischen Tüte. Das dauert zwei, drei Sekunden. Währt die Tat länger, lässt sich der schnell aushärtende Fladen nicht mehr rollen und die Fingerkuppen sind weggeschmort (was sich bei Hunderten von Neeijahrskooken ohnehin nicht ganz vermeiden lässt).

Zwischendurch feuern die Rullerkes-Rollerinnen die Backmänner an und bringen die Rotbäckchen mit schwarz gefärbtem Humor zur Weißglut: „Nehmt doch mal weniger Teig“, „Das Eisen ist ja gar nicht richtig heiß“, „Das Eisen ist ja viel zu heiß“… Jedes Eisen eist halt anders.

Am Ende verstauen wir die vielen Hundert Neujahrskuchen in Blechdosen. Wir bestaunen jedes Hörnchen und geben das Zählen irgendwann auf. Es wird wohl auch dieses Jahr langen. Jetzt noch schnell Molkereisahne geschlagen – und rein damit in die Krüllkooken. Lecker!

Auf ein Neues im nächsten Jahr. Bis dahin haben sich die Fingerkuppen erholt,

vermutet herzlich eure

Blattflüsterin

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