Unmittelbar nach der Krebsdiagnose wusste Martin bereits, welche Gegenstände er bis zu seinem Tod in der Nähe haben wollte. In seinem allerersten Tagebucheintrag, aus dem ich für die 6. Episode gelesen habe, erwähnte er eine kleine, hölzerne „Taschenmadonna“.
So nannte er das feinst geschnitzte Marienfigürchen, das mit gefalteten Händen aufrecht mitten in einem spitz zulaufenden Holzhaus steht. Es lässt sich über zwei Flügeltüren öffnen und schließen. Sie hängen an winzigen Scharnieren.
Das Marienhäuschen sieht durchaus ein bisschen kitschig aus.
Aber ist das wichtig? Manchmal machte Martin abends die Schotten dicht. Und morgens wieder auf. Ein kleines Ritual. Eine Erinnerung: Heute ist mehr dran als Alltag; immer auch ein bisschen Sonntag.
Martin verehrte die Muttergottes als Trösterin der Betrübten. Er fand Ruhe, wenn er ihre Sätze im Sinn hatte: darunter die mutige Frage des jungen Mädchens Maria an den Engel nach den näheren Umständen der angekündigten Geburt. „Wie soll das geschehen?“
Und schließlich Marias Antwort: „Mir geschehe nach deinem Wort.“
Da klingt ein Satz aus dem Vaterunser an: „Dein Wille geschehe.“ Auch dieses Gebetswort erwähnt Martin schon in seinem ersten Tagebucheintrag.
Wenn es ihm in den folgenden Monaten schlecht ging, war er versucht, diesen Satz als demütige Kapitulation zu sehen: „Es hat ja doch keinen Zweck, stark zu bleiben. Ich sterbe ohnehin…“.
An guten Tagen spürte er anderen Möglichkeiten nach. Er versuchte, Kraft zu halten: Vielleicht blieb ihm ja doch noch eine ordentliche Spanne Zeit, um Wichtiges zu erleben.
Heute steht das Marienhäuschen in unserer Küche in Aurich. Die Flügel weit geöffnet. Nicht dass ich die Figur jeden Tag bewusst wahrnähme oder mich gar von ihr inspirieren ließe, aber Marias Frage an den Engel bewegt auch mich hin und wieder.
Wenn ich große oder kleine “Weltgeschehnisse” partout nicht begreife, frage ich schon mal ein bisschen direkter.
„Was hast DU DIR bloß dabei gedacht?“