Am Donnerstag zeigte der Rundfunk Berlin-Brandenburg den Film “Elser”. Er erzählt die Geschichte eines Schwaben, der 1939 nicht schweigen wollte, als fast alle schwiegen. Ein Teil des Dramas geschah in Kevelaers Nachbarschaft.
Martin Willing hat die Zusammenhänge 2012 recherchiert. Hans Georg Elser hatte 1939 im Alleingang versucht, Hitler in München zu töten. Weil das nicht gelang, sagte der später selig gesprochene Karl Leisner aus Rees vor Zeugen: “Schade.” Er wurde denunziert und kam in KZ-Haft. So sind die Schicksale des schwäbischen Widerstandskämpfers und des niederrheinischen Geistlichen aufs engste verknüpft. Und es gibt weitere Verbindungen.
Von Martin Willing
Was für ein dramatischer November 1939! Karl Leisner wird verhaftet, weil er „Schade“ gesagt hat, nachdem er im Radio von dem missglückten Attentat auf den „Führer“ gehört hat. Hitler und Himmler vermuten hinter dem Anschlag von München den britischen Geheimdienst. Deshalb werden zwei britische Agenten am Grenzübergang Niederdorf zwischen Herongen und Straelen gekidnapt und verschleppt – ein Spionagefall wie aus einem James-Bond-Drehbuch.
Die Nachricht elektrisiert den britischen Geheimdienst. Denn der „Secret Intelligence Service“ (SIS) hat zuvor von seinen Agenten Captain Best und Major Stevens in Den Haag Informationen von größter Wichtigkeit erhalten: In Deutschland gebe es eine Opposition, die Hitler beseitigen wolle. Erste Kontakte zu den Widerständlern seien geknüpft.
Britischer Agent Captain Best.
Allerdings gibt es diese Widerständler gar nicht. Der deutsche Sicherheitsdienst (SD) hat sie erfunden, weil er 1939 die britischen SIS-Agenten in den Niederlanden aus der Deckung locken will.
Ein deutscher Abwehrmann mit Tarnnamen „Dr. Solms“ kann bei einem Treffen in einem Venloer Hotel als angeblicher Vertreter der deutschen Opposition das Vertrauen der britischen Agenten Best und Stevens gewinnen. Sie merken nicht, wie „Solms“ sie hereinlegt, und liefern den Deutschen bereitwillig einen Beweis, dass sie tatsächlich Spione Ihrer Majestät sind.
Am 21. Oktober 1939 treffen sich Best und Stevens mit zwei weiteren „Oppositionellen“ aus dem Deutschen Reich, diesmal in Arnheim und abgesichert durch den holländischen Oberleutnant Klop, der sich den Deutschen als „Clopper“ und Brite vorstellt. Besprochen wird die Zeit nach der „Beseitigung Hitlers“.
Am 7. November kommen die britischen Agenten, der niederländische Oberleutnant und die angeblichen Verschwörer aus Deutschland am Grenzübergang Niederdorf zwischen Herongen und Venlo zusammen, um im Café Backus scheinbar gemütlich zu plaudern. Es wird verabredet, sich dort am folgenden Tag (8. November) wiederzusehen, dann aber in Anwesenheit eines (erfundenen) Generals, der im deutschen Reich den Widerstand anführe.
Die britischen Agenten werden misstrauisch, als am 8. November die Deutschen ohne General im Café Backus erscheinen. Nein, das sei nur aufgeschoben, hören sie. Der General sei unerwartet zu Hitler gerufen worden, und am folgenden Tag, 9. November, bei einem weiteren Treffen um 16 Uhr im Café, werde er dabei sein. Im übrigen sei bereits für einen der folgenden Tage das alles entscheidende Attentat auf Hitler geplant.
Was immer der britische Geheimdienst geglaubt haben mag – ein Ereignis am selben Abend verändert alles: Im Münchner „Bürgerbräukeller“ geht an diesem 8. November eine Bombe hoch, die Hitler getötet hätte, wäre er eine knappe Viertelstunde länger am Rednerpult und nicht schon aus dem Haus gewesen.
Nun glauben beide Seiten das Falsche: Die britischen Agenten halten die Geschichte einer großen Widerstandsbewegung im Nazi-Reich für quasi bestätigt, während Hitler und Himmler felsenfest davon überzeugt sind, dass nur der britische Geheimdienst ein solches Attentat habe einfädeln können.
Best und Stevens warten nun gespannt darauf, an der Grenze den unbekannten General des deutschen Widerstands zu treffen. Gleichzeitig befiehlt Himmler, die SIS-Agenten unverzüglich zu verhaften, denn Hitler glaube, dass der SIS hinter dem München-Attentat stecke.
Ein Sonderkommando der SS bezieht am 9. November rund um das Café Backus in Niederdorf Stellung, alle Mann in Zivil und mit Maschinenpistolen unter ihren Mänteln. Best und Stevens sowie der niederländische Oberleutnant Dirk Klop („Clopper“) treffen zur verabredeten Zeit am Grenzübergang ein und wollen gerade ihr Auto verlassen, als Schüsse fallen. Klop zieht sofort seinen Dienstcolt und legt auf die deutschen „Informanten“ an. Da rast ein Wagen des SS-Sonderkommandos heran. Klop schießt in die Windschutzscheibe und wird selbst schwer getroffen. Völlig überrumpelt lassen sich Best und Stevens festnehmen. Sie werden über die Grenze verschleppt und geraten in die Hände der Gestapo in Düsseldorf.
Der angeschossene Dirk Klop stirbt noch am selben Tag. Nach seinem Tod fälscht die Gestapo ein schriftliches Geständnis von Klop, das ein halbes Jahr später der Regierung in Den Haag – am Tag des deutschen Überfalls (10. Mai 1940) – überreicht wird, um sich zu rechtfertigen: Die Niederlande hätten sich nicht an ihre Neutralität gehalten und von ihrem Boden aus britische Agenten gegen das deutsche Reich operieren lassen. Da habe sich Deutschland schützen und das Land vorsorglich besetzen müssen.
Widerstandskämpfer Georg Elser.
Best und Stevens werden in Konzentrationslagern weggeschlossen und für spätere Schauprozesse am Leben gehalten. Himmler setzt alles daran, den durch Zufall beim Grenzübertritt zur Schweiz verhafteten München-Attentäter Georg Elser als Werkzeug des britischen Geheimdienstes zu entlarven. Himmler steht unter enormem Erfolgsdruck, weil Hitler endlich Beweise für die Verwicklung des SIS in das Attentat haben will.
Es gibt keinen zweiten belegten Fall, in dem Himmler selbst körperliche Gewalt ausgeübt hat: Im Verhörraum wird der Gefangene Elser mehrmals von Himmler brutal getreten. Der Reichsführer SS fürchtet um seinen Ruf bei Hitler als „kompetenter“ Geheimdienstchef. Als sich die Verwicklung des SIS in das Attentat nicht beweisen lässt, verbietet Himmler allen Eingeweihten, jemals wieder in seinem Beisein den „Fall Venlo“ zu erwähnen, den er, weil keine Verbindung zum Attentat in München herzustellen ist, wie eine Niederlage empfindet.
Während Best und Stevens überleben und am 4. Mai 1945 von den Alliierten aus dem KZ Dachau, wo auch der ihnen unbekannte Karl Leisner festgehalten wird, befreit werden, wird Georg Elser, der Einzeltäter von München, in Dachau am 9. April 1945 ermordet.
Karl Leisner.
Karl Leisner, der am Kevelaerer Gnadenbild wesentliche Prägungen erfahren hat, überlebt seine KZ-Haft nur bis zum 12. August 1945.
Von allem, was im November 1939 an der Grenze, vor ihrer Haustür, passiert ist, erfahren die Kevelaerer zunächst nichts. Die wichtigste Zeitungsnachricht jener Tage ist, dass in der Marienstadt der Martinszug „aus verständlichen Gründen leider ausfallen muss“.
Literatur u.a.: Heinz Bosch, Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas. Geldern 1970. – Peter Longerich, Heinrich Himmler. München 2008. – Ian Kershaw, Hitler 1936 – 1945. München 2002.