Gestern ist Martin gestorben. Sein Leichnam liegt aufgebahrt im Maler-Atelier. Große Fenster öffnen meinen Blick in den Garten, und dieser Garten öffnet die Sicht zu drei Seiten tief hinein in die Landschaft. Die Nachbarn wohnen weit entfernt. Sonnenuntergänge ereignen sich am Horizont hinter dem Haus und Sonnenaufgänge davor. Großes Panorama, als wär‘s ein Versprechen: Alles dauert fort.
Vor zwölf Jahren, als Martin vom Niederrhein in dieses Haus nahe der ostfriesischen Nordsee zog, stand hier kein Baum. Eine Weide lag ungenutzt im Hinterland. Wir verwandelten sie mit Stauden, Sträuchern und fünf Großbäumen aus einer abgewickelten Gärtnerei in einen lichten Park mit großer Wiese.
Jetzt, am Tag nach Martins Tod, gehe ich hinaus auf diese Wiese und durchwandere die Weite. Vor einigen Jahren hatten wir am Nordgraben einen kleinen Birkenhain angelegt. Längst verbünden sich die Kronen zu einem Laubdach. Rosenduft überall und Tausende von Blüten. Diesen Garten hat Martin geliebt. Er war der Duft seiner Freude. Jetzt ist er der Duft meiner Wehmut. Noch fühle ich keinen Schmerz, nur seine fürsorgliche Ankündigung: „Ich hole dich ein, bald.“

Martin und ich – wir kannten uns über drei Jahrzehnte und waren als Journalisten am Niederrhein in denselben Redaktionen Kollegen gewesen. Wir hatten uns geschätzt, ergänzt und vertraut, auch 1981, als wir im niederrheinischen Kevelaer eine alte Verkaufszeitung übernahmen. Schon bald nannten Freunde sie „die ZEIT in klein“. Sie war unerschrocken, investigativ, gespickt mit Hintergrundinformationen, Kommentaren und witzigen Glossen. Unser Blatt galt als kleinste Wochenzeitung Deutschlands, die von journalistischen Vollprofis verantwortet wurde. Die Bezieher mussten sie teuer kaufen und nannten das Kevelaerer Blatt bei seinem Kosenamen: Kävels Bläche.
Doch Martin wurde am Niederrhein des Lebens nicht froh. Er litt über Jahre an seiner privaten Situation. Oft fand er tagelang aus seinen depressiven Stimmungen nicht heraus.
Im September 2002 machte er sich plötzlich auf den Weg. Er war kurz zuvor mit seinem Reisemobil in Ostfriesland gewesen und hatte mitten im Feld bei Großheide 15 Kilometer von der Küste entfernt ein altes Landarbeiterhaus entdeckt. Es war unbewohnt. Martin stöberte den Eigentümer auf und mietete das Haus mit zwei voll eingerichteten Ferienwohnungen.
Er fuhr nach Hause, packte PC, Drucker, Handtücher und Kulturbeutel in seinen Smart, schrieb einen Brief, legte ihn mit Blumen in die Wohnung, die er verließ, und war fort. Der Schock in der Familie blieb aus, obwohl Martin den Abschied ausgesprochen hatte. Ich hörte von Angehörigen: „Der ist bald zurück. Der ist doch im Alltag aufgeschmissen.“
Martin hatte nie einen Haushalt geführt. Im neuen Domizil in Großheide brannte das Essen an. Buntwäsche schleuderte bei 90 Grad zwischen blütenweißen Bettlaken. Martin stieg auf Fertig-Nahrung um und kaufte zu den eingefärbten Leinentüchern knallrote Bettbezüge.
Er lachte, wenn er am Telefon davon erzählte. Ich besuchte ihn und war angetan von der Weite der Felder und dem Mangel an Zwang. Martin trug ausgehfeindliche Schlabberhosen: So nannte er die unmöglichen Beinkleider aus grauem Teddystoff. Sie beulten sich wurstig um Schenkel und Hintern. Wenn Martin über die Wiese schritt, fing sich der Wind in den Hosenröhren und blähte sie auf. Es sah urkomisch aus. Er stellte einen Tisch und einen Stuhl auf die Weide, trank seinen grünen Tee und ließ sich die Haare zausen. Ich fuhr immer häufiger freitagabends 300 Kilometer von Kevelaer nach Großheide und eröffnete für Martin eine kleine Hauswirtschaftsschule. Er war ein miserabler Schüler und unwillig sowieso.
Sonntagabends kehrte ich heim an den Niederrhein. Wochentags machten wir Zeitung. Martin war vom neuen Domizil aus schnell digital mit der Heimat-Redaktion vernetzt und arbeitete von Großheide aus, ich vor Ort in Kevelaer.
Freunde trugen Martins Umzug ohne große Überraschung mit, als habe sich lediglich die Zeit für einen Schritt erfüllt, den Martin nun gegangen war.
Mit der Zeit entdeckten wir einander auf neue Weise. 2004 offenbarten wir unsere Liebe.

Ich kaufte das Anwesen. Immer wieder durchschritt ich die Zimmer und fühlte eine Enge, die zum Haus nicht passen wollte. Es hatte viel zu viele Wände. Sie umzäunten kleine Räume.
Ich dachte mir die Wände weg und wünschte mir einen Panoramablick ins freie Hinterland.
Ich sprach über Lichteinfall und Laufwege, über Deckenhöhen und Dielenböden und plante die Struktur des Hauses um. Martin ging erwartungsfroh mit; so beauftragte ich Handwerker aller Art. Sie gossen neue Fundamente und legten im Hinterhaus unter abgehängten Decken den ehemaligen Heuboden und das alte Ständerwerk mit mächtigen Mittelpfetten frei. In die Außenwand zur Weide ließen wir groß wie ein Scheunentor das Panoramafenster einsetzen. Unsere Blicke wurden weit.
Martin richtete sich eine Schreinerwerkstatt ein und begann, wie in englischen Nobel-Zimmern die Wände ein Drittel hoch mit Holz zu verkleiden. Nur nutzte er keine Nobel-Ware, sondern billige Fichtenlatten, die wir dunkel beizten, schliffen und lackten. Sie hüllten die Zimmer in einen Charme, der den einfachen Stil des Landarbeiterhauses unterstrich. Alles wirkte warm.
Martin bestückte ganze Zimmer mit selbst getischlerten Holzmöbeln und mit Regalen, die vom Wohnzimmer über den nun offenen Heuboden haushoch bis unters Dach unseren Bücherschatz aufnahmen.
Abends tuckerte Martin mit einem Aufsitzmäher über das 5.000 Quadratmeter große Land, als hätte er einen Schlepper unterm Hintern. So zähmte er die harmlose Weide.
2008 verkauften wir das Kävels Bläche und arbeiteten fortan als freie Journalisten für verschiedene Zeitungen. Ich zog zu Martin. Wir fanden Freunde. Und Martin nutzte sein Gesprächstalent. Bei oberflächlichem Geplänkel, in dem jeder nur Stichwortgeber für den Beitrag des nächsten war und in dem mancher vorführte, was er zu wissen meinte, schwieg Martin ohne Vorwurf. Manch ein Vielredner hielt ihn für einen langweiligen Gesellschafter. Da, wo Martin Interesse fühlte, redete und stritt er mit Wissen, Herzblut und druckreifer Sprache. Die Gabe, seinen Geist einzusetzen, nutzte Martin bis zu seinem vorletzten Lebenstag weit über seine tödliche Lungenkrebs-Diagnose hinaus.
Die hatte er am 7. Mai 2013 erhalten. Nach dem Arzttermin waren wir durch unseren Park gelaufen und im Birkenhain vor einem schön verzweigten Baum zur Ruhe gekommen. „Ich hab eine Idee“, hatte Martin gesagt und war in seine Werkstatt gegangen.
Er baute aus Bangkirai-Leisten ein Kreuz mit Dach für einen verwitterten Christuskorpus. Dem war irgendwann das eigene Kreuz abhandengekommen. Nur die Löcher in Händen und Füßen zeigten her, dass er einmal festgenagelt gewesen war. Behutsam trieb Martin neue Nägel durch die Löcher auf das Trägerholz. Der Korpus war nur ein Stück geformtes Metall. Doch Martin, im Innern oft voll von Bildern und Geschichten, ehrte mit seiner Vorsicht die Passion.
Wir schraubten das Werk in die schön verzweigte Birke. Auf einer Bank vor dem Kreuz war fortan unser Platz. Hier saßen wir eng beieinander, schauten in die Weite und lauschten den Vögeln. Wir hörten ihren Flügelschlag. Der Wind surfte durch die Blätter. Sie surrten und sangen. Wir besprachen den Tag mit seinen kleinen und großen Dingen; und wir beteten.

Über Monate hörte dieser Platz uns reden und schweigen – von Angst und Sorge, von Hoffnung und Trost und vom Loslassen schon vor dem Tod. Loslassen des eigenen Lebens und Loslassen des Geliebten.
Jetzt, am Tag nach Martins Tod, schaue ich vom hinteren Graben auf unser Haus, das umrankt von allerlei Grün in der Landschaft liegt. Ich laufe ins Birkenwäldchen, lasse mich auf unserer Bank vor dem Wegkreuz nieder und betrachte den Korpus. Ich habe kein Gebet. Ich fühle mich mit allem verbunden und muss nicht um Verbundenheit bitten, erst recht nicht um Verbundenheit mit Martin.
Wir kannten uns am Ende 37 Jahre lang. Er war schon in den ersten Tagen unserer beruflichen Zusammenarbeit der freieste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Wenn er mit Arbeitslederhut, Pfeife, Ledermantel bis an die Knie und seinen langen Haaren daher schritt, lag darin nicht die mindeste Provokation. Er ging so, wie er sich wohl fühlte, nicht uniformiert wie die meisten, die sich in kneifenden Zwirn zwängten und Martins Aufzug bespöttelten. „Oh, der Herr Redakteur, heute wieder ganz schick!“ Sie ließen sich lieber zwacken, als ihrer Konformität an den entscheidenden Weichstellen ein bisschen Luft zu gönnen.



Ab Anfang 2014 trug Martin keinen Lederhut mehr. Das Gutachten des Medizinischen Dienstes nannte ihn einen Schwerstpflegefall. Nach Bestrahlungen und Chemo-Therapien über Monate hinweg hatte er seine Haare eingebüßt. Martin ließ sich einen Bart stehen. Seine Begründung: „Auf dem Kopf bin ich kahl und kämpfe seit der Chemo um jedes Haar; da werde ich den Bart, der freiwillig sprießt, nicht abrasieren.“
In den letzten Wochen seines Lebens konnte Martin nur noch Kopf, Schultern und Arme bewegen. Tadellos arbeiteten sein Geist und sein Herz.
Sieben Tage vor seinem Tod kam ein guter Freund zu Besuch: Die zwei hatten sich einige Monate nicht gesehen. Martins Leib lag starr und aufgedunsen im Pflegebett. Der Freund beugte sich über Martin. Der klagte nicht. Er machte mir vor seinem Besucher eine Liebeserklärung. „Ich habe mit Delia das glücklichste Jahr meines Lebens hinter mir.“ Wertvolles Sterben.
Stunden vor seinem Tod wurde Martin einmal mehr von Luftnot geplagt. Er sagte: „Scheiße“ und unmittelbar darauf: „Wenn das jetzt mein letztes Wort war…“ Ich schlug ihm vor zu beten, so wie wir zuletzt jeden Abend gebetet hatten. Es war kurz nach Mitternacht in der ersten Stunde seines Todestags. Er flüsterte kraftlos und besorgt um das bisschen Luft in seinen Lungen: „Ich bete still.“ Ich sprach die Gebete vor, Martin bewegte die Lippen; dann kam das Bekenntnis, das ihn Abend für Abend bewegte. „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund.“ Nur um diese Gesundheit ging es ihm noch.
Ich sagte, ebenfalls wie an allen Abenden zuvor: „Der Friede sei mit dir.“ Martin nuschelte die alte Entgegnung: „Dank sei Gott dem Herrn.“ Das war sein letzter Satz.
Es folgten Stunden schlimmer Atemnot.
Martin starb am Pfingstmontag, 9. Juni 2014, seine Hand in meiner Hand, daheim in dem Haus, das er bei seinem Einzug „Maria Felixhusen“ genannt hatte, das glückliche Haus mit dem mütterlichen Vornamen Maria.