Stummel,
Friedrich
►
Kevelaers
bedeutender Künstler | * 1850 | † 1919
Es
dauert seine Zeit, bis Kevelaer mit der Kunstkritik umzugehen versteht,
die in den 1960er-, 70er-Jahren in dem Vorwurf gipfelt, Stummel und
seine Schüler hätten sich wertlosem Historismus hingegeben und
epigonenhaft den Stil der Kirchenmaler des Mittelalters übernommen. Die
Zeit der „Nazarener“ sei, als Stummel und seine Schüler die Basilika
ausmalten, vorbei gewesen. Ob es nicht besser sei, die Wandbilder zu
übertünchen.
Glücklicherweise waren die Wallfahrtsrektoren
Johannes Oomen und
Richard Schulte Staade nicht dieser umstrittenen Meinung. Als 1979
das
Kevelaerer Museum unter Federführung von Dr. Ulf Leinweber eine
erste umfassende Stummel-Ausstellung präsentierte und dazu einen
wichtigen Katalog publizierte, konnte jeder Interessierte nachvollziehen,
dass in der Marienstadt mit dem Stummel-Werk ein wertvolles Kapitel der
Kunstgeschichte geschrieben worden ist. Spätestens durch den Beitrag von
Astrid Grittern in der KB-Beilage „Unsere Heimat“ Ende 1996, die in
Kurzfassung Erkenntnisse aus ihrer 1999 veröffentlichten Dissertation
(„Die Marienbasilika zu Kevelaer“) vorwegnahm, fand das Stummel-Werk
vor einem breiten Publikum seine gerechte Beurteilung.
Friedrich Franz Maria Stummel wird 1850 in Münster geboren. Seine Mutter
unterhält dort ein Atelier für Damenkonfektion. Was sein Vater beruflich
macht, ist nicht bekannt. Friedrich besucht die Domschule in Münster und -
nach dem Umzug der Eltern nach Osnabrück - das dortige Gymnasium. Hier
betreibt Vater Stummel - erfolglos - ein Geschäft für Fotografie.
Friedrich bricht als 16-Jähriger die gymnasiale
Ausbildung ab und beginnt ein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie,
das sich bis 1878/79 hinzieht. Die verarmten Eltern und zwei Schwestern
ziehen zu ihm nach Düsseldorf. Der junge Mann muss wesentlich zum
Unterhalt der Familie beitragen und verdient neben seinem Studium Geld.
Er gibt Privatunterricht, zeichnet für eine Modezeitschrift und bemalt
Gegenstände wie Spazierstöcke.
Nach seinem Akademiestudium lernt Stummel bei Prof. Eduard von Gebhardt
weiter, von dem er später sagen wird: „Was ich kann, verdanke ich
Gebhardt.“ Der vielseitige, lebenslustige Künstler leitet in Düsseldorf
einen Kirchenchor, engagiert sich in der Seelsorge und zählt zu den
führenden Organisatoren der Kostümfeste des Düsseldorfer Künstlerbundes
„Malkasten“. Stummel durchwandert u.a. den Niederrhein und lernt den
Kalkarer Vikar Wolff kennen, mit dem er sich anfreundet.
Dank eines Stipendiums der Regierung kann Friedrich Stummel 1878 eine
mehrmonatige Italienreise unternehmen - die erste von insgesamt 18.
Stummel arbeitet unter Ludwig Seitz an den Chorfresken im Dom von
Treviso und unter Prof. Friedrich Geselschap in Rom. Geselschap ist von
Stummel so überzeugt, dass er ihn ab 1880 für Aufträge nach Berlin
verpflichtet.
Stummels Zusammenarbeit mit dem Kirchenmaler Geselschap - sie gestalten
in Berlin das Zeughaus aus und konzipieren Kartons zu den Mosaiken für
die Fassade des Kunstgewerbemuseums - gilt zwar als erfolgreich, doch
Stummel leidet an der Großstadt. Er gesteht seinem Freund Wolff in
Kalkar, wie unglücklich er sich in Berlin fühle („eine öde Wüste“), und
bittet ihn, ihm irgendein „Kirchlein“ am Niederrhein zu vermitteln, das
er ausmalen dürfe.
Wolff macht den Kevelaerer Wallfahrtsrektor
Joseph van Ackeren auf den Künstler aufmerksam, was „den Stein ins
Rollen“ bringt: Der Pastor, den nackten Grauputz in der Basilika vor
Augen, unterbreitet Stummel kein Angebot für ein „Kirchlein“, sondern
eines für ein ganzes Künstlerleben. In Kevelaer wartet eine
überwältigende Aufgabe auf ihn.
Stummel ist erschreckt und fasziniert zugleich. Er schickt sein
Probebild „Maria überreicht dem Hl. Dominikus den Rosenkranz“ und reist
bald darauf in die Marienstadt. Stummel wird eingeladen, im Juni und
August 1881 zwei Gewölbekappen mit Ornamenten in der Beichtkapelle
zu gestalten. Über der Tür malt er das Bild „Maria Magdalena salbt den
Heiland“ - Probewerke, die es nun zu begutachten gilt. Eine von van
Ackeren einberufene, hochkarätig besetzte Kommission prüft Stummels
Arbeit. Man ist sicher: „Stummel ist unser Mann.“ Er wird beauftragt,
erst einmal die Beichtkapelle auszumalen, um Erfahrungen für den großen
Auftrag der Basilika-Ausgestaltung zu sammeln.
Stummels Werk in Kevelaer kann beginnen.
Es geht nicht allein um die Ausmalung einer Kirche; es geht bei dem
„Projekt Kevelaer“ auch um die Wiederbelebung der sakralen Kunst des
Mittelalters, die von einflussreichen Geistlichen des Rheinlandes
besonders gefördert wird. Die Auftraggeber, aber auch Stummel selbst
erkennen sofort ein Defizit: Er hat Schwächen in der Monumentalmalerei.
Im Einvernehmen mit dem Priesterhaus begibt sich der Künstler auf eine
neunmonatige Italienreise, um sich durch Studien der Mosaik- und
Freskenzyklen in Venedig, Padua, Florenz, Siena, Assisi und Rom
weiterzuentwickeln. Nach seiner Rückkehr nimmt er im Priesterhaus
Wohnung und bezieht hier ein Atelier. 1882 beginnt Stummel mit dem
Wandgemälde des Jüngsten Gerichts in der Beichtkapelle.
Ein Jahr später stellt er Heinrich Lamers (Kleve) als wohl ersten
Gehilfen des Ateliers ein. 1884 kauft Stummel von einem Bäcker ein Haus
an der Amsterdamer (heute: Egmont-) Straße, in das er, seine Eltern und
seine Schwester Johanna einziehen. An das Wohnhaus wird ein Atelier
angebaut. Im selben Jahr tritt mit Heinrich Derix, dem Vater von
Hein Derix, nach Heinrich Lamers und Albert Kreusch ein dritter
Schüler ins Atelier ein.
Erste „Fremdaufträge“ treffen ein, und Stummel, der Workaholic, nimmt
sie an: Er arbeitet 1885 in Anholt, Keeken und Kleve, beteiligt sich an
Ausstellungen, bekommt weitere Aufträge und beginnt, sein Atelier, das
zu einem Großunternehmen für sakrale Kunst werden wird, auszudehnen: Er
gründet im Dezember 1885 eine Mal- und Zeichenschule in Kevelaer, in der
er die dringend benötigten Helfer selbst ausbilden will. Mindestens 59
Schüler werden es am Ende sein, die in Stummels Atelier gelernt und
gearbeitet haben.
1887 wird das mittlere Chorfenster für die neue St.-Urbanus-Kirche in
Winnekendonk von der Glasmalerei Derix in Goch nach Entwürfen Stummels
hergestellt. Im Jahr darauf malt Stummel die Decke der Gnadenkapelle mit
Szenen aus der Lauretanischen Litanei und aus dem Marienleben auf
Goldgrund mit reicher Ornamentik aus. Stummels Neo-Renaissance-Malereien
mit Stuckdekor werden von Jakob Holtmann ausgeführt.
Ein Schicksalsschlag wirft Friedrich Stummel, beruflich längst ein
gemachter Mann, beinahe aus der Bahn. Er verliebt sich in seine neue
Schülerin Maria von Winckler, die 1889 in sein Atelier aufgenommen
worden ist, und macht ihr einen Heiratsantrag. Maria lehnt ab, weil sie
nach ihrer Kunstausbildung in den Ursulinenorden eintreten will. Stummel
fühlt sich elend und ist, da völlig überarbeitet, einem Zusammenbruch
nahe. Der Unglückliche begibt sich zur Kur nach Bad Königstein im
Taunus. Von dort aus besucht er in Wiesbaden die Familie seiner
geliebten Schülerin und lernt Marias jüngere Schwester, Helene von
Winckler, kennen. Stummel ist wie umgewandelt: Sofort verliebt er sich
in die 22-Jährige, und beide feiern noch während des Kuraufenthalts
Verlobung.
Stummel kauft 1890 - einige Wochen vor seiner Heirat im August - am
Markt in Kevelaer ein Haus. Helene Stummel wird in ihren Erinnerungen
über ihren Mann und sich schreiben: „So erregte seine Heirat natürlich
die größte Spannung, und ich wurde scharf aufs Korn genommen, was mir
zunächst ganz lustig vorkam. Ich sollte aber erfahren, daß es nirgendwo
schwerer vergolten wird, nicht wie alle anderen zu sein, als in einem
Ort wie Kevelaer“. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor.
Ende Juni 1891, nach zehnjähriger Vorbereitung, beginnt sie endlich -
die Ausmalung der Marienbasilika. Der Künstler und seine Helfer fangen
im Antoniuschor an.
Stummel und seine Schüler arbeiten - parallel zu ihrem Kevelaer-Auftrag
- auch in Kranenburg, Lobberich, Sonsbeck, Weeze, Osnabrück,
Griethausen, Rees, Marienbaum, Dülken, ab 1895 in Aengenesch, Aachen,
Bracht und Lüdinghausen, Köln, Luxemburg, Pelplin, ab 1896 in Moers,
Witten und Billerbeck.
1896 baut Stummel an der Gelderner Straße 29 ein neues Atelier. Die
Familie wohnt weiterhin an der Amsterdamer Straße. Als 1897 die
Ausmalung des Josef- und Marienchores in der Basilika vollendet ist,
nimmt das Großunternehmen Stummel Arbeiten in Grieth, Hartefeld,
Kranenburg, Appeldorn, Duisburg-Meiderich, Waldniel und Tönisberg an.
Geistliche, die den Wallfahrtsort in Scharen besuchen und Stummels
Arbeiten sehen, geben sich im Atelier als potenzielle Auftraggeber die
Klinke in die Hand. 1899 bekommt Stummel den königlichen Kronenorden IV.
Klasse verliehen.
Seine Frau Helene entwickelt sich zu einer führenden Künstlerin der
Paramentik. Sie initiiert die Gründung eines Stickvereins in Kevelaer,
der im Paramentenverein weiterbesteht.
Glasmaler Derix lässt 1900 vom Architekten Caspar Clemens Pickel in
Nachbarschaft zu Stummels Atelier an der Gelderner Straße 31 und 33 ein
architektonisch verwandtes Haus (Atelier und Wohnung) bauen, worin sich
die enge künstlerische und unternehmerische Verbindung zwischen Stummel
und Derix ausdrückt. Daneben stehen Wohnhaus und Atelier von
Heinrich Holtmann, gegenüber das des Bildhauers Jakob Holtmann und
dort nebenan Atelier und Wohnhaus von Josef Renard. In der Nachbarschaft
wohnen Bildhauer Dierkes und Stummel-Schüler Schoofs. Im Stummel-Atelier
selbst lebt längere Zeit Maler Josef Cürvers und - am Bahnhof - Maler
Knautz.
Diese „Ballung“ zeigt, dass Kevelaer dank Stummel eine Gemeinde der
Künstler geworden ist. Stummels Unternehmen zieht immer weitere Künstler
an.
Als 1904 die Ausmalung des Johanneschores in der Basilika unter starker
Beteiligung des inzwischen selbstständigen Heinrich Holtmann vollendet
ist, gefährdet ein besonderes Angebot an Stummel das Basilika-Projekt:
Er soll die Professur an der Hochschule zu Berlin-Charlottenburg für
mittelalterliche Malerei übernehmen. Aber Stummel lehnt ab. Er hat als
Kirchenmaler bereits einen solchen Ruf erworben, dass er - 1907 - im
Herder'schen Konversationslexikon mit einem eigenen Stichwort geführt
wird.
1909 beginnt in der Basilika die Ausmalung der Vierung und des südlichen
Querschiffs (bis 1912), 1913 folgt die des Nordquerhauses (bis 1916).
Zu einem Eklat kommt es 1917, im vorletzten Jahr des Weltkrieges.
Stummel hat für vier kleinere Wandfelder unter der Nebenorgelbühne - im
linken Kreuzarm der Basilika - Szenen entworfen, die das Elend des
gerade tobenden Krieges drastisch zeigen. Josef Cürvers hat die
Malereien ausgeführt. Ausgerechnet in der als liberal geltenden
„Kölnischen Zeitung“ (28.7.1917) erscheint eine heftige Kritik an diesen
Darstellungen, die der Kriegspropaganda zuwider laufen.
Die Kritik wird auf höchster Ebene verhandelt. Die Regierung drängt auf
Entfernung. Stummel will die Wandbilder retten und schlägt dem
Kevelaerer Wallfahrtsrektor vor, die Nationalembleme ins Unverfängliche
zu verändern, notfalls könne er die Szenen in den Dreißigjährigen Krieg
verlegen. Pastor Peter Kempkes, auf Stummels Seite, muss dem Druck
nachgeben, als auch der Bischof von Münster darauf besteht, dass die
Elendsbilder übertüncht werden. 1918 werden die Stummel/ Cürvers-
Wandbilder unsichtbar gemacht (
Der Lusitania-Skandal).
Es ist das letzte Lebensjahr von Friedrich Stummel. Monatelang ist er
krank, dann ereilt ihn ein Schlaganfall, in dessen Folge Stummel Mitte
September 1919 in Kevelaer stirbt. Sein Grab befindet sich auf dem
Friedhof im Marienpark.
Die gerade begonnenen Gewölbemalereien im Chor der Basilika werden nach
Stummels Tod unter Leitung von Heinrich Holtmann in enger Zusammenarbeit
mit
Karl Wenzel
fortgeführt. Holtmann nimmt zum Teil gravierende
Änderungen der Pläne vor.
Mit dem Tod Stummels bricht die Leitfigur weg, der Garant für Aufträge,
von denen inzwischen Dutzende Künstler in Kevelaer profitieren.
Zusätzlich beschwert durch die Not der Nachkriegsjahre, erfasst viele
Künstler Existenzangst. Sie schließen sich 1920 zum „Kevelaerer
Künstlerbund“ zusammen, der als Berufsverband dem drohenden
Auftragsmangel entgegenwirken soll. Aber die Zeichen sind nicht günstig.
Das Generalvikariat kündigt bereits an, weitere Ausmalungen der Basilika
zu den bis dahin vereinbarten Kosten nicht mehr zu genehmigen. Es werden
preiswertere Materialien eingesetzt (z.B. Schlagsilber statt Blattgold).
1925 malt Heinrich Holtmann die Nischen unter den zugemauerten
Apsisfenstern der Basilika mit Engelfiguren aus. Als diese Arbeiten 1926
beendet sind, ist die Basilikaausmalung nach 35 Jahren zunächst
abgeschlossen. Mit der Vollendung der von Stummel begonnenen Ausmalung
der Beichtkapelle durch seine Schüler und - 1936 - mit dem Entwurf des
Malers Ludwig Baur (Telgte) für das Westfenster im Südquerhaus der
Marienkirche („Maria Mittlerin der Gnaden“) endet die große Stummel-Zeit
in Kevelaer.
Stummels Bedeutung für Kevelaer manifestiert sich nur zu einem Teil in
den farbenprächtigen Historienmalereien der Gotteshäuser am
Kapellenplatz. Der Maler schafft die Grundlagen für das Charisma der
modernen Wallfahrtsstadt, die sich heute auch als „Stadt der Kunst und
des Kunsthandwerks“ definiert. Erst das künstlerische Element, dem
Einmaligkeit inne wohnt, begründet überzeugend den „Unverwechselbar“-Slogan.
Stummels mindestens 59 Schüler und weitere Kunstschaffende und
Kunsthandwerker, die der Ausnahme-Künstler anzog, legten das
human
capital an, das sich verzinst und in die zweite oder dritte Generation
übertragen hat. Von diesem Kapital zehrt der Ort fortdauernd. Die
heutige Ansammlung von künstlerisch und kunsthandwerklich Tätigen in
Kevelaer ist durchaus vergleichbar mit der zu Stummels Zeiten,
gleichwohl, ihr fehlt die Leitfigur eines Stummel.
Er war vielleicht der bedeutendste Künstler, der je in der Marienstadt
gewirkt hat.