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Lusitania-Skandal

Zensur in der Marienbasilika Kevelaer: 1918 Kriegsbilder übermalt



Stummel-Bilder in der Basilika.

Friedrich Stummel stellte 1916 im linken Kreuzarm der Basilika die apokalyptischen Gestalten Pest, Tod, Krieg und Hunger (v.l.) dar. Was diese Heimsuchungen für die Menschen der Gegenwart bedeuteten, zeigte der Kirchenmaler in vier Szenen aus dem tobenden Weltkrieg: Unter der „Pest“ sah man kranke und verwundete Soldaten mit Sanitätern, unter dem „Tod“ den Untergang des britischen Passagierschiffs „Lusitania“ nach Torpedierung durch ein deutsches U-Boot, unter dem „Krieg“ die Beschießung der französischen Stadt Reims durch Deutsche und unter „Hunger“ einen Soldaten, der hungernden Kindern von seinem Brot gibt. Alle vier „Kriegsbilder“ mussten auf Druck der kaiserlichen Regierung und auf Veranlassung des Bischofs von Münster übermalt werden.
KB-Foto: Martin Willing


Die Regierung von Kaiser Wilhelm II. verlangte 1918, im letzten Kriegsjahr, von Bischof Johannes Poggenburg, vier zeitgenössische Kriegsbilder von Friedrich Stummel in der Marienbasilika auszulöschen. Der Münsteraner Bischof ordnete daraufhin ihre Übermalung an. Nur widerstrebend folgten Wallfahrtsrektor Peter Kempkes und Kirchenmaler Friedrich Stummel der Anordnung. Seit 1918 sind die Bilder verschwunden.

Der krasse Fall von Zensur blieb unter der Decke, bis 1979 Kreisoberarchivrat Gregor Hövelmann im Priesterhausarchiv auf die Korrespondenz zwischen Münster und Kevelaer aus dem Jahr 1918 stieß. Seitdem ist aus Beschreibungen immerhin bekannt, was Stummel dargestellt hatte.

Zeichnungen oder gar Fotografien von den vier verschwundenen Bildern konnten bisher nicht gefunden werden. Das ist verwunderlich: Alles, was an die Wände der Basilika gemalt werden sollte, musste vorher von Münster genehmigt werden; also dürften auch für die vier Kriegsbilder Entwürfe vorgelegt worden sein. Jedoch weder in Münster, noch in Kevelaer sind sie archiviert.

Während im Bistumsarchiv nicht einmal Textdokumente zur Kriegsbilderaffäre aufzufinden sind, verfügt das Priesterhausarchiv wenigstens über den aufregenden Briefwechsel, den Hövelmann 1979 eingesehen hat. Allerdings: Als wir Ende 2011 zur Vorbereitung dieses Beitrags die besagte Archivakte in die Hand nahmen, mussten wir feststellen: Die Dokumente fehlen.

Die der Zensur zum Opfer gefallenen Kriegsbilder Stummels waren die ersten und einzigen Arbeiten, über die sich der Kirchenmaler kritisch mit seiner Jetztzeit auseinandersetzte. Ihr Verlust ist umso schmerzlicher, als sie die künstlerische Bedeutung Stummels, den man nicht nur im freundlichen Sinn den „letzten Nazarener“ nennt, unterstrichen hätten. Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe, die Übermalungen daraufhin zu überprüfen, ob die Kriegsbilder tatsächlich zerstört worden sind oder ob sie unter der Übermalung existieren. Wenn sie noch vorhanden sind, könnte das Stummel-Ensemble seine ursprüngliche Fassung zurückbekommen.

Von den vier Kriegsbildern stieß den Kritikern die Darstellung der torpedierten „Lusitania“ besonders übel auf. Sie wollten nicht dulden, dass zusätzlich zur weltweiten Empörung über den Angriff auch noch Kritik an der Kriegsführung im eigenen Land geäußert wurde. Das deutsche U-Boot U 20 hatte am 7. Mai 1915 das damals größte Schiff der Welt vor der Südküste Irlands versenkt. 1.198 Menschen waren ums Leben gekommen, darunter 94 Kinder und 287 Frauen.

Die kurze Zeit zwischen Torpedo-Treffer und Untergang war überaus dramatisch: Eiskaltes Wasser strömte durch den aufgerissenen Rumpf in den heißen Kesselraum Nr. 1, was zu einer zweiten, erheblich stärkeren Explosion führte. Jetzt konnte das mit hoher Geschwindigkeit fahrende Schiff weder gestoppt, noch manöviert werden. Daran scheiterte der Rettungsplan von Kapitän Turner, den Dampfer an der Küste auf Grund zu setzen.

Das zum Untergang verurteilte Schiff wurde von den Turbinen vorwärts getrieben und dabei immer stärker unter Wasser gedrückt. Der Sinkvorgang wurde auf diese Weise dramatisch beschleunigt. Wegen der erheblichen Schlagseite konnten viele Rettungsboote nicht ausgefiert werden. Etliche stürzten unbesetzt ins Meer. Zu Wasser gelassene Rettungsboote wurden von dem sinkenden Schiff, das immer noch in Fahrt war, mitgerissen. Die vier riesigen Schornsteine saugten beim Untergang noch ungezählte Menschen, die im Wasser trieben, ein.

Untergehende LusitaniaDer Todeskampf dauerte 18 Minuten. Dann war von der „Lusitania“ nichts mehr zu sehen.

Die untergehende „Lusitania“ in einer Zeichnung. So dürfen wir uns das verschwundene Stummel-Bild in der Basilika vorstellen, das zusätzlich im Vordergrund das deutsche U-Boot zeigte.

Unter den Opfern befanden sich 128 Amerikaner. Ihr Tod, durch ein deutsches U-Boot herbeigeführt, leitete in den USA einen „Stimmungsumschwung“ unter den Bürgern und in der Regierung ein: Die bis dahin überaus zögerlichen Amerikaner traten am 6. April 1917 in den Krieg gegen Deutschland ein; das leitete die vernichtende Niederlage des Kaiserreichs ein.

Sowohl die amerikanischen als auch die britischen Archive halten die Akten zu den Vorgängen um die „Lusitania“ bis heute unter Verschluss. So bleibt die Rolle von Winston Churchill ungeklärt, dem in einer der zahlreichen Theorien ein diabolischer Schachzug unterstellt wird: Danach wäre die „Lusitania“, die außer den britischen und amerikanischen Passagieren auch Unmengen an Munition für England transportierte, gezielt ins Kampfgebiet der U 20 dirigiert worden, um die USA endlich zum Kriegseintritt zu bewegen.

Als Friedrich Stummel 1916 den Untergang der „Lusitania“ skizzierte und sein Schüler Josef Cürvers das Fresko wie auch die drei weiteren Kriegsszenen ausführte, hatte sich der Weltkrieg von seiner schlimmsten Seite gezeigt. Etwa zwei Jahre lang waren die Wandbilder im linken Kreuzarm der Marienbasilika zu sehen – niemand nahm Anstoß, vielleicht auch deswegen nicht, weil Details der relativ kleinen Kriegsbilder nur mit einem Fernglas zu erkennen waren. Ein Soldat, der sie in Augenschein genommen hatte, brachte 1918 den Stein ins Rollen, indem er in einer Kölner Zeitung gegen die angebliche Verunglimpfung deutschen Soldatentums in der Kevelaerer Basilika polemisierte.

Stummel wehrte sich, wie auch Pfarrer Peter Kempkes, nach Kräften gegen die vom Bischof angeordnete Übermalung. Der Künstler bot in seiner Not sogar an, die Schiffe umzuflaggen, so dass auf dem Bild ein britisches U-Boot einen deutschen Dampfer versenkte. Und wenn das auch nicht akzeptiert werde, könne er sämtliche Kriegsszenen in den Dreißigjährigen Krieg verlegen, was allerdings wegen der Schiffe etwas mehr Arbeit bereite.

Aber Münster hatte entschieden. Es blieb nur die Übermalung. Für Stummel war sie besonders tragisch: Seine letzte bedeutende „Arbeit“ in Kevelaer war die Zerstörung seiner kritischen Kriegsbilder. Der Künstler starb zehn Monate nach der Kapitulation.

RMS Lusitania
1906 Stapellauf, 31.550 Bruttoregistertonnen, 239,3 m lang, 26,75 m breit, vier Dampfturbinen, 25 Knoten Höchstgeschwindigkeit, maximal 2.165 Passagiere, 802 Mann Besatzung. 

© Martin Willing 2012, 2013