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Buchhändlerin in Kevelaer | * 1925 | † 2002
Rosemarie Reul wusste von ihrem nahen Tod, als Delia Evers ein langes Gespräch mit der Buchhändlerin führte, auf dem die nachfolgende Erinnerung fußt.
Ihr Leben begann an der Basilikastraße 3. „Da ist meine Heimat, dort wurde ich am 30. August 1925 geboren. Ein Sonntagmorgen.“ Sie war das zehnte und letzte Kind von Margarethe und Heinrich Schröer, der ab 1909 im Erdgeschoss von Röschens Geburtshaus eine Buchhandlung betrieb. Schon als Kleinkind „war ich immer an Vaters Seite im Buchladen“, umgeben von seiner Fürsorge und all den Büchern.
Rosemarie Reul in ihrer Buchhandlung.
Die
ältesten sinnlichen Wahrnehmungen, an die sie sich erinnerte, kreisten
um „die Welt der Bücher“: Das Duftgemisch von Bücherpapier und
Bienenwachs, in Gerüchen nistende Geborgenheit.
Die Bücher zogen sie in eine eigene Welt. Der 27. September 1944 war ein
Mittwoch: Kevelaer wurde aus der Luft angegriffen, Flugzeuge dröhnten
über der Stadt, Bomben hagelten nieder, beschädigten das
Klarissenkloster schwer und rissen riesige Trichter zwischen Römerstraße
und Biegstraße. Margarethe Schröer rief im Haus an der Basilikastraße
angstvoll nach ihrer Tochter.
„Röschen, wo bist du?“
Rosemarie meldete sich nicht. Die Mutter fand sie in ihrem Zimmer, in
ein Buch vertieft, fern ab des Kriegs der Welten. Doch sie war kein
Kind, das sich in Fantasien flüchtete. Im Gegenteil: Das Mädchen liebte
die Wirklichkeit, das gelebte Leben von Menschen, ihre Biografien. „Der
Mensch war das Wesentliche.“
So sah sie später auch ihren Beruf. Es war keine Frage, was sie werden
wollte: Buchhändlerin. In diesem Beruf mochte sie nicht nur gedruckten
Werken nahe sein, sondern gerade auch den nicht niederzuschreibenden
„Biografien“, den ganz aktuellen Lebensgeschichten der Menschen, mit
denen sie in ihrem Laden zu tun hatte.
Rosemaries Mutter legte Wert darauf, dass das Mädchen einen richtigen
Abschluss machte. Sie lernte in Köln in einer angesehenen Buchhandlung,
die jedoch dreimal von Bomben zerstört wurde. So kehrte sie nach Hause
in den Laden ihres Vaters zurück und erlebte andere Zerstörungen als die
durch äußere Gewalt: Heinrich Schröer wurde von den Nazis geschnitten
und wirtschaftlich unter Druck gesetzt, weil er ihre Gesinnung nicht
teilte. Sie untersagten, dass die Schulen bei ihm bestellten, viele
Kevelaerer trauten sich nicht mehr ins Geschäft.
Im Januar 1945 wurde Kevelaer evakuiert, Rosemarie Schröer erlebte, wie
Johanna Froitzheim an den Haaren auf einen Laster gezogen wurde; sie
selbst wollte unter keinen Umständen weg und schob eine Bäckerlehre bei
Onkel Peter Janssen am Bürgerhaus in Winnekendonk vor; doch Männer
holten sie aus der Küche und zwangen sie zusammen mit Rita Linssen am
21. Januar 1945 auf einen Transport in eine Kaserne bei Hamburg und
später nach Göttingen, wo sie u.a. Telefonverbindungen herstellen
mussten.
Kurz vor Ostern 1945 sagte Rosemarie zu Rita: „Wir brauchen einen Ort,
wo wir feiern können.“ Sie gingen in den Wald, jede nahm einen
Weißdornzweig zur Hand, eine Kerze und einen Schott. So standen sie
draußen unter den Bäumen und besangen die Auferstehung.
Wenige Tage später wurde das Lager aufgelöst. Ihre Dienststelle sollte
nach Ulm verlegt werden. In einem Holzvergaser machten sie sich auf den
Weg. „Unterwegs sahen wir Soldaten, Jungen, 14 oder 15 Jahre alt. Sie
warteten in den Straßengräben. Einer rief nach seiner Mutter.“ In Ulm
kamen sie nie an. Die Soldaten auf dem Holzvergaser erkannten, dass
nichts mehr zu gewinnen war. Sie setzten Rosemarie und Rita irgendwo auf
der Straße ab.
Die beiden schlugen sich nach Amberg durch, schlichen sich in Güterzüge,
als junge Mädchen immer auf der Hut und in Angst vor den Schrecken, der
anderen Frauen widerfahren war. Auf abenteuerlichen Wegen kamen sie über
Hanau ins zerstörte Köln, „Bombentrichter an Bombentrichter, überall nur
Trümmer, und mitten darin stießen wir auf eine Fronleichnamsprozession.“
Nie wieder hat ein Menschenzug sie so beeindruckt. Sie kamen nach
Krefeld und sahen plötzlich einen Bekannten, den Kevelaerer
Bauunternehmer Gerd Tebartz. Er brachte sie am Abend in seinem Wagen
nach Hause.
Niemand wusste von ihrer Ankunft. Tebartz setzte die beiden bei Allofs
ab, Kaplan
Erich Bensch kam heran, lief
gleich weiter zu Rosemaries Eltern und rief ihnen zu: „Ich habe Röschen
gesehen. Sie ist hier. Ich habe sie selbst gesehen.“ Doch Rosemarie und
Rita nahmen einen anderen Weg; davon wird noch die Rede sein.
Als sie in die Basilikastraße 3 kamen, stand auf dem Tisch ein
Feldblumenstrauß. Mutter Margarethe hatte ihn am Abend zuvor gepflückt
und zu einer Bekannten gesagt: „Die sind für Röschen. Sie hatte
Feldblumen so gern. Sie kommt bald zurück.“ Jahrzehnte später sagte
Rosemarie über diese Vorahnung ihrer Mutter: „Was war das für eine
Beziehung der Herzen, was für eine Verbundenheit!“
Nach dem Krieg, 1947, ging sie erneut nach Köln, diesmal in die
Buchhändlerschule, die damals noch in der Universität gegenüber der Aula
untergebracht war. 1951 starb ihr Vater, wenige Wochen später die
Mutter. Sie fühlte sich einsam wie nie und ging jeden Tag zum Friedhof.
Der Übergang in die Selbstständigkeit als Buchhändlerin fiel ihr schwer.
Trotzdem machte der Beruf sie glücklich.
Sie war 26 Jahre alt, als sie
Heribert Reul, dem Maler, in ihrer
Buchhandlung begegnete. Bald schmiedeten sie Hochzeitspläne, auch
Wilhelm Polders
schmiedete: Eheringe aus einer Schröer‘schen Goldmünze. 1953 steckten
die beiden sich in der Basilika die Ringe an. Fast 50 Jahre lang lebten
sie „in dem Bewusstsein absoluter Treue und von Liebe getragen“, sagte
Rosemarie Reul. Eine lange Zeit war sie diejenige, die ihren kranken
Mann pflegte, nun war es der schon 90-jährige Heribert Reul, der seine
Frau umsorgte.
„Mein Leben war so bunt“, sagte Rosemarie Reul. Zwölf Kinder brachte sie
zur Welt, elf Jungen und ein Mädchen. Sie wurde Mutter, blieb
Buchhändlerin und sah in dieser „Doppelbelastung“ den Grund für ihre
Zufriedenheit. „Mein Beruf füllte mich innerlich aus. Diese Beglückung
für mich war zugleich eine Bereicherung für meine Familie.“ Das
Wichtigste, was sie und ihr Mann Heribert für ihre Kinder tun konnten:
„Wir haben sie aus vollem Herzen bejaht, und wir haben sie geliebt wie
sie waren, jeden auf seine Art. Wir haben nicht versucht, unseren
Kindern eine bestimmte Richtung vorzugeben. Wir haben sie ermuntert,
ihre eigenen Möglichkeiten wahrzunehmen und ihnen zu trauen.“
Einmal, erzählte Rosemarie Reul, wurde sie von einem Fremden gefragt,
wie sie ihre Kinder erzogen hätte. „Überhaupt nicht!“ Der Mann staunte.
Und Rosemarie Reul erzählte: „Wir haben einfach unser Leben gelebt, und
wir haben uns geliebt.“
1967 wohnten die Reuls immer noch im kircheneigenen Haus an der
Basilikastraße 3, unten die Buchhandlung, darüber die Wohnung, zehn
Kinder zählten bis dahin zur Familie; am Haus musste dringend etwas
getan werden. Heribert Reul wollte es kaufen. Architekt Karl Wierichs
machte Pläne. Er und
Josef Leenders setzten sich
dafür ein, dass das Haus an die Reuls überschrieben würde. Heribert Reul
erinnerte sich, wie er Dechant
Johannes Oomen besuchte, um
darüber zu sprechen. Doch der habe die Pläne verworfen „mit der
christlichen Begründung, man könne aus dem Grundstück [mit anderen
Investoren] ungleich mehr Gewinn erzielen.“ Heribert Reul sagte
Oomen wie versteinert: „Dann sind die Werte, die ich noch als Werte
empfinde, für Sie keine Werte mehr.“
Die Familie war erschüttert. Rosemarie: „Ich habe nur noch geweint. Das
war so grausam.“ Das Gebäude, fast 60 Jahre Heimat der Familie
Schröer-Reul, wurde abgerissen, das Zuhause wich einem Parkplatz. Mit
dem Bagger verloren sie ihre räumliche Unabhängigkeit: Zwar hatte
Rosemarie Reul bis dahin Vollzeit in der Buchhandlung gearbeitet, aber
sie war den Kindern - im selben Haus - nah gewesen („wenn sie in meiner
Nähe sein wollten, kamen sie und hingen an meinem Rockzipfel“). Jetzt
brauchten sie zwei Bleiben, eine für die Familie und eine für die
Buchhandlung. Sie fanden sie beide an der Basilikastraße.
Rosemarie Reuls Distanz zur Kirche wuchs, dabei fühlte sie sich im
Glauben an Jesus Christus stark. „Ich sehe die Kirche heute sehr
kritisch. Und das ist gut so. Daran bin ich gewachsen. Ich habe gelernt,
das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.“ So war sie dankbar für
ihre Erlebnisse: „Wenn ich meine bitteren Erfahrungen mit der Kirche,
die oft um Macht und Geld kreisten, nicht gemacht hätte, wüsste ich
heute nicht zu trennen.“
Sie hat nie Auseinandersetzungen gescheut, auch nicht, als sie mit einer
Spruchkarte im Schaufenster gegen Opus Dei protestierte und
dafür von zwei Geistlichen auf gefährlich üble Art beschimpft wurde. Am
Ende fragte sie die zwei, die sich wie Großinquisitoren einer
furchtbaren Zeit aufführten: „Warum haben Sie solche Angst? Ein Mensch,
der glaubt, braucht keine Angst zu haben. Sie aber haben Angst.“ Die
Männer drohten mit wirtschaftlichem Druck. Rosemarie Reul fühlte sich an
ihren Vater und die Nazis erinnert. Sie wollten schon dafür sorgen, dass
kein Mitbruder mehr bei ihr kaufen würde. Einige Bischöfe indes, und
nicht nur sie, besuchten die Buchhandlung immer wieder.
Rosemarie Reul mochte das Leitwort ihrer Mutter Margarethe: „Tue recht
und scheue niemanden.“ Die Buchhändlerin sagte unangenehme Wahrheiten,
aber „ich verpackte sie in Liebe. Nur dann kann der andere daran
wachsen.“ Besonders gern verschenkte sie aus einem großen Kasten
Spruchkarten; manchen Kunden bat sie, sich selbst aus der Sammlung zu
bedienen. Dann stand er links hinter der Theke im Laden, hielt mitten im
Alltag inne und tauchte ein in die Welt guter Gedanken.
Rosemarie und Heribert Reul
am 85. Geburtstag des Kirchenmalers (1996, v.l.): Dr. Peter Lingens,
Rosemarie und Heribert Reul sowie - halb verdeckt - Dr. Robert Plötz.
Eine Kundin wollte ein bezahltes Buch einstecken, Rosemarie Reul nahm es
noch einmal an sich: „Sie gestatten? Ein Buch muss zugänglich sein.“
Schon hatte sie den verschweißten Schutzumschlag entfernt. Eine andere
Frau bat sie darum, ein Buch hübsch einzupacken. „Ich schlage das Buch
in Geschenkpapier ein, ohne es zuzukleben“, sagte Rosemarie Reul:
„Vielleicht möchten Sie noch einen Gruß hineinschreiben.“
Wer in den Laden kam, musste mit ungewöhnlichen Begrüßungen rechnen.
Einer Frau sagte sie einmal: „Sie sind traurig!“ Die Kundin begann
sofort zu weinen, doppelt angerührt von der Achtsamkeit der
Buchhändlerin und ihrer so schlicht dargebotenen Bereitschaft, die
andere anzuhören. Ganz unbefangen legten Kunden ihre Biografien dar und
wurden vor Rosemarie Reul zu offenen Büchern. Ihr war es gleich, wen sie
vor sich hatte; oft wusste sie nicht einmal die Namen. In Kevelaer
nannten Freunde von Rosemarie Reul die Buchhandlung den „Beichtstuhl
rechts neben der Basilika“.
Im Advent 1999 kam der große Umbruch. Über 50 Jahre hatte sie in der
Buchhandlung gearbeitet. Da zog sie sich - vermutlich bei einem Sturz -
mehrere Wirbelbrüche zu. Erst kämpfte sie noch gegen die Schmerzen an,
wollte arbeiten, doch als die Diagnose feststand und eine weitere, sehr
schwere Krankheit dazu kam, war nicht mehr daran zu denken. Sie hatte
kaum Zeit, sich mit dem Ende ihrer Buchhändlerinnenzeit anzufreunden. Es
war einfach da. Sie nahm es wie viele andere Erlebnisse in ihrem reichen
Leben als Fügung.
Rosemarie Reul dachte wie so oft, es komme im Leben darauf an, sich von
seinem Ich und seinem Wollen zu lösen. „Ich denke von mir weg auf andere
hin; und ich darf mich selbst verlassen - auf Gott hin, dann werde ich
geführt“. So lebte sie mit ihrer Krankheit und ihren schweren Schmerzen
„in absolutem Vertrauen“ und ohne Angst vor dem Tod, denn „er gehört zum
Leben“.
Güte, Menschlichkeit und Frieden bewegten sie. „Wenn wir genau hinsehen,
unser eigenes Ich zurücknehmen und den Menschen gegenüber beachten, gibt
uns die Situation schon auf, was der andere von uns braucht.“ Oft ist es
Trost.
Wie damals vor 65 Jahren, als Rita Linssen und Rosemarie Schröer aus dem
Krieg zurück ins befriedete Kevelaer kamen, als Gerd Tebartz die beiden
bei Allofs abgesetzt hatte, als Kaplan Erich Bensch herangekommen war,
gleich weiter zu Rosemaries Eltern gelaufen war und gerufen hatte: „Ich
habe Röschen gesehen. Sie ist hier. Ich habe sie selbst gesehen.“
Damals gingen die Mädchen nicht gleich nach Hause. Sie hatten ein
anderes Ziel, eines, das sie seit Beginn ihrer Reise schon in sich
trugen. Während der ganzen Zeit hatten sie zwei Kerzenreste gehütet. Nun
traten sie mit ihnen durch die Türflügel gegenüber dem Bild, zündeten
mit zittrigen Fingern die Dochte an, und jetzt, allein, im schummrigen
Licht, so hatten sie es sich wieder und wieder in Vorfreude ausgemalt,
wollten sie lauthals singen. Psalm 8 über die Herrlichkeit des Schöpfers
und die Würde des Menschen.
Sie brachten keinen Ton heraus.
Überwältigt von den Bildern des grauenhaften Kriegs, der hinter ihnen
lag, und in dem Gefühl, davon gekommen zu sein, weinten sie fassungslos
und erschüttert. Sie waren zu Hause bei der Trösterin der Betrübten
angekommen.
Rosemarie Reul lag im Bett, schwer krank, sehr steif, von einer
durchscheinenden Blässe, aber mit roten Wangen. Nur Augen, Arme und
Hände waren in Bewegung. Sie untermalten ihre Sätze wie sprachliche
Bilder in ihren geliebten Büchern.
Das ganze Krankenzimmer war voll von Büchern, darunter drei Rilkebände.
Es roch nach Papier und Honigwachskerzen, jetzt, da sie als letzte
Episode in unserem vielstündigen Gespräch von ihrer Rückkehr zur
Gnadenkapelle in ihre innere Heimat erzählte.
Längst hatte sie die tieferen Gänge der Gnadenkapelle, dort wo Trost
geboren und verschenkt wird, im eigenen Herzen - sie war reich in ihrem
gelebten Glauben, der nicht an Steinen, Fassaden und äußerem Putz hing.
Am 7. Januar 2002, wenige Tage nach Erscheinen des Artikels „In
absolutem Vertrauen“, schrieb uns eine Kevelaererin: „Ich bin dankbar,
dass es noch Menschen wie Frau Reul gibt, denn sie bringen Licht und
Hoffnung in unsere oft so trostlose Welt. Morgen wird symbolhaft an der
Gnadenkapelle ein Licht für diesen wunderbaren Menschen brennen.“
Grabstätte von Rosemarie und
Heribert Reul auf dem Kevelaerer Friedhof.
Kurz darauf, am 30. Januar, erlosch Rosemarie Reuls irdische Flamme.
Weihbischof
Heinrich Janssen,
der für Rosemarie Reul das Beerdigungsamt feierte, sagte in seiner
Predigt: „Sie hat Jesus entgegengelebt und ist Jesus entgegengestorben.
Sie durchlebte ihre Krankheit in einem absoluten Vertrauen auf Gott und
deshalb ohne Angst. Sie wusste und bejahte: Der Tod gehört zum Leben.
Kevelaer hat in den letzten Jahrzehnten einige Menschen gehabt, die von
einem großen und tiefen Glauben geprägt waren. Sie gehört dazu. Diese
Menschen machen Kevelaer unverwechselbar.“
Delia Evers