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Europapolitiker aus Kevelaer | * 1941 | † 1992
Die kleine Notiz am Rande über den christdemokratischen
Vollblutpolitiker war 1974 kaum der Rede wert. „Warm ums Herz“, schrieb
ich damals über den Kevelaerer Rosenmontagszug, „wurde einem jedoch
spätestens beim Anblick des Kevelaerer Landtagsabgeordneten Jochen van
Aerssen, der als Gänsehirt im Zug mithielt und seine rote Gans, die er
hinter sich herzog, mit nur einer einzigen Flasche Bier beladen konnte“.
Nur sieben Jahre seiner „großen Zeit“ als Shooting-Star kann man, mit
dem Wissen von heute, als glücklich bezeichnen. Ihnen folgte ein
Jahrzehnt tragischer Glücklosigkeit, die sich im Verlust seiner Aufgaben
und Anerkennung, seiner Freundschaften und Gesundheit, schließlich sogar
im Verlust seines Lebens ausdrückte.
„Mecki“ van Aerssen, promovierter Jurist und Diplom-Volkswirt, wurde von
seiner Partei hochgejubelt wie kein anderer vor ihm oder nach ihm.
Der fahrlässig inszenierte Sturm, mit dem ihn die Partei vorwärtstrieb -
erst Landtag, dann Bundestag, dann zusätzlich Europaparlament -, ging
eine ungeheuerliche Allianz mit van Aerssens Ehrgeiz und
Selbstüberschätzung ein. Maßlos überhöhte die Partei sein Berufen-Sein
für sozusagen alles und wählte ihn, unüberlegt, aber in eigener
Verantwortung, in immer neue und höhere Ämter. Der sprachbegabte Mann,
der in der Weltgeschichte umherreiste („Unser Mann in China“), verlor
jede Bodenhaftung, und beleidigt reagierte die Basis ob dieses
„Undanks“. - „Herr van Aerssen hat sich entschuldigt“, hieß es immer
öfter in den unsäglichen Begrüßungsreden zu Beginn von Veranstaltungen,
die der Politiker früher wie selbstverständlich besucht hatte. Die
Stereotype wurde zum Witzwort in Parteikreisen umhergereicht, er selbst
zur Witzfigur gestempelt.
Ich habe Jochen van Aerssen in den 70ern für zwei Tage nach Luxemburg
und Paris begleitet, wo er unter Promis und VIPs und auf
Pressekonferenzen in seinem Element war. Von einer anderen Seite lernte
ich ihn in seinem Schwarzwald-Ferienhaus kennen: Da war er ein wenig
privat und normal, ein sympathischer Gesprächspartner, ein menschlicher
Familienvater. Aber der Politiker van Aerssen war zu diesem Zeitpunkt
schon über den Punkt hinaus, an dem er zur Selbstkritik noch fähig
gewesen wäre.
Am 9. Oktober 1981 erschien die erste Kritik an dem rastlosen Politiker
im Kevelaerer Blatt. Jochen van Aerssen reagierte amokhaft, indem er die
KB-Leser in Sippenhaft nahm und diese Zeitung von seinen Informationen
ausschloß.
Erst Jahre später, in seinem letzten Lebensabschnitt, als er scheinbar
Großartiges auf der Weltbühne vollbracht hatte, ließ seine Partei, indem
sie den Kevelaerer mit einem gnadenlosen Abstimmungsergebnis nicht mehr
als Europa-Kandidaten aufstellte, das Trugbild des Jochen van Aerssen
platzen wie einen Luftballon.
Seine Alkoholabhängigkeit war längst unumkehrbar geworden; in sie konnte
van Aerssen nach dem brutalen Entzug politischer Bedeutung nicht mehr
abgleiten: Er hatte sie längst. Auf Jochen van Aerssen muß die
Nichtaufstellung eingewirkt haben, als sei er dadurch restlos entwürdigt
worden. Als zu Tode Verletzter fiel er in eine so unmenschliche
Einsamkeit, daß er schließlich Hand an sich legte. Nur einer seiner
Parteigefährten sprach nach dem Tod eine Mitverantwortung an: „Wir
hätten“, sagte mir ein Kevelaerer Ratsherr nach Bekanntwerden der Tat,
„uns noch mal um ihn kümmern müssen“.
Der Leitartikel im KB Nr. 3/1992 zum Freitod von Jochen van Aerssen trug
die Überschrift „Jochen van Aerssen und unsere Schuld“:
Mit Hilflosigkeit haben
wir seit zehn Jahren beobachtet, wie der talentierteste Politiker, den
die Stadt Kevelaer und der Kreis Kleve hervorgebracht haben, niederging.
In diese Hilflosigkeit mischt sich heute eine uns beschämende
Betroffenheit darüber, daß wir, als noch Zeit war, nicht konsequent
gewesen sind.
Wir Journalisten haben mitgezogen und dem politischen Star die Presse
gegeben, die einem Star „gebührt“: Jochen van Aerssens PR-Maschinerie
funktionierte, die Presse funktionierte allzu bereitwillig mit, denn der
Kevelaerer lieferte den Stoff, aus dem die Nachrichten sind.
Das Doppelmandat war, nicht wie nach der Landtags- und Bundestagswahl,
eine zeitweilige und bald zu reparierende Überschneidung zweier Mandate,
sondern ein von den Parteizentralen in Bonn, Düsseldorf, Kleve und
Kevelaer abgesegneter Auftrag.
Die Reparatur kam viel zu spät; dieses Aufknacken des Doppelmandats war
der Bruch, von dem sich der von „Parteifreunden“ gedankenlos in seiner
Selbstüberschätzung laufend bestätigte Jochen van Aerssen nicht mehr
erholte. Auch sein Alkoholkonsum war keine Angewohnheit aus jüngerer
Zeit, sondern fiel schon Ende der 70er Jahre auf, als er noch in seinem
Kreis Klever Wahlkreis herumwirbelte und sich niemand daran störte, wenn
Schnapsfläschchen kreisten.
Stimmen zum Freitod von Jochen van Aerssen:
„Die Entwicklung Jochen van Aerssens war nicht zwangsläufig und lag auch nicht außerhalb des Möglichen. Der Abstieg in den letzten Jahren war steil. Jochen van Aerssen wurde von seinen politischen Freunden nicht fallengelassen. Aber es gab irgendwann eine Situation, wo er nicht mehr als Kandidat aufgestellt werden konnte. Jochen van Aerssen war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fähig, Funktionen wahrzunehmen. Wir haben oft versucht, Kontakt aufzunehmen, aber er lehnte ab oder nahm Angebote nicht an. Wer jetzt den Vorwurf erhebt, dem Kevelaerer sei nicht geholfen worden, soll sich selbst fragen, was er getan hätte, um zu helfen. Jochen van Aerssen war vielleicht zu schnell zu viel geworden und stand dann permanent unter Erfolgsdruck und Streß. Damit wurde er letztlich nicht fertig.“
„Die Ursachen für die Entwicklung Jochen van Aerssens waren der Tod seiner Frau und die zu kurzfristige Planung seines Lebensweges. Das Doppelmandat, das Jochen van Aerssen zeitweilig innehatte, war Wahnsinn. Ich weiß, was auf einen Bundestagsabgeordneten einströmt, und kann mir nicht vorstellen, wie jemand dabei noch im Europaparlament arbeiten soll, zumal da auch Fahrzeiten hinzukommen. Wir haben Hilfe angeboten, aber sie wurde nicht angenommen. Seit Anfang der 80er Jahre war Jochen van Aerssen nicht mehr ansprechbar für Hilfe. Ein Beruf außerhalb der politischen Mandate fehlte ihm, um aus diesem Politiksumpf herauszukommen. Ein solcher Hort, in den sich der Politiker hätte zurückziehen können und in dem er hätte Halt finden können, fehlte Jochen van Aerssen.“
> Willi Pieper:
„Er war von der Anlage her einer der befähigsten Politiker, soweit ich das überblicken kann. Aber er hatte sich seit etwa 1976/77 zuviel zugetraut und zugemutet. Die Strapazen des Doppelmandats Bundestag und Europaparlament verkraftete er mit Sicherheit nicht. Jochen van Aerssen sah sich selbst als Verbindungsmann zwischen Bonn und Europa. Doch das war einfach nicht zu schaffen. In den letzten Jahren stellten wir einen rapiden Verfall des Kevelaerer Politikers fest. Alle ausgestreckten Hände nutzten nichts oder richteten nichts aus. Nie wieder darf man ein solches Doppelmandat zulassen.“
„Man ist betroffen, und es herrscht allgemeine Sprachlosigkeit. Jochen van Aerssen wurde von seinen politischen Freunden fallengelassen. Er war abgeschrieben. Jochen van Aerssen hatte alte Verbindungen gekappt und erschien auch nicht zum letzten Klassentreffen. Man kann nur spekulieren. Für die dramatischen Entwicklungen sind Ursachen denkbar wie der Alkohol, der Tod seiner Frau, der politische Absturz und fehlendes Fußfassen im angestammten Beruf. Dazu ist vielleicht auch sein Realitätsverlust zu zählen. Jochen van Aerssen kannte nichts außer Politik, die ihn total auffraß. Der junge Jochen van Aerssen war ein Mann, der alles konnte, dem alles gelang, so auch das Doppelstudium Jura und Volkswirtschaft, für das er nur unwesentlich länger brauchte als andere für ein einzelnes Studium.“
„Mich bedrückt die Frage nach der Schuld. Ich bedaure sehr, daß wir uns nicht noch mal um ihn gekümmert haben. Jochen van Aerssen hatte sich zwar in den letzten Jahren abgesondert, aber dennoch hätte man doch mehr Versuche unternehmen müssen, um an ihn heranzukommen. Er war ein begeisterter Politiker, aber zerbrach an dem Zuviel: Zuviel wollen, zuviel Abwesenheit von zu Hause. In seiner Begeisterung als Europäer übernahm er sich.“
„Jochen van Aerssen lehnte in seiner Alkoholkrankheit Hilfe ab und empfand solche Angebote eher als Angriffe. Er scheiterte daran, daß er zuviel auf einmal machte. Die tragische Entwicklung muß eine Warnung sein für viele junge Politiker: Sie dürfen nicht alles auf die Karte ’Politik’ setzen. Politik ist nicht alles im Leben.“