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INHALTSVERZEICHNIS |
Kapitel 8 |
28. Februar 1945
Der sinnlose, von Hitler befohlene Kampf bis zur letzten Patrone zieht
zum Schluss der Schlacht um den linken Niederrhein die Dörfer
Winnekendonk und Kervenheim in den blutigen Krieg.
Um 5.15 Uhr beginnt an diesem Mittwoch eine Offensive der alliierten
Truppen, die in breiter Linie über Uedemerbruch auf die Bahnstrecke
Goch-Xanten vorstoßen und den deutschen Sperrriegel (Schlieffen-Linie)
durchbrechen sollen. Mit Panzern und Schützenpanzern müssen kanadische
Einheiten aus der Deckung heraus. Auf leicht ansteigendem Gelände werden
sie von Deutschen in den Wäldern regelrecht zusammengeschossen. Schon in
den ersten Stunden der Offensive sterben Hunderte Menschen.
Zur selben Zeit kommt über Winnekendonk der Schrecken des Kriegs nieder.
Zwischen 8 und 11 Uhr fliegen Jagdbomber, aus dem Luftraum über Kevelaer
kommend, neun Angriffe auf das Dorf. Zuerst werden an der Sonsbecker
Straße die Schule und einige Wohnhäuser in der Nachbarschaft getroffen.
Wenig später bricht ein großer Teil der St.-Urbanus-Kirche zusammen. In
den Trümmern werden einige Flüchtlinge eingeschlossen. Eine weitere
Bombe sprengt ihnen einen Fluchtweg frei.
Zerstört werden die Häuser Gellings und Kamps (Kevelaerer Straße),
Goossens (Kervenheimer Straße), Olislagers, Schülter und Kronenberg
(Hauptstraße), Fleurkens, Gipmans, Fehlemann, Mertzeller und van Meegen
(Marktstraße). Einige brennen noch in der folgenden Nacht. Die Zahl der
in diesem Krieg restlos zerstörten Häuser in Winnekendonk beträgt jetzt
51.
Winnekendonks Hauptstraße im
März 1945.
Foto aus: Heinz Bosch, Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas,
Geldern 1977. S. 243.
Kaplan Erich Bensch,
der sich vom Gleumes-Hof zur Dorfmitte durchgeschlagen hat, sieht „ein
Bild der Verwüstung: Die Straßen und Wege waren von Bombentrichtern
übersät, die Kirche war aufgerissen, und auch in die oberen Zimmer der
Kaplanei konnte man gut hineinschauen, da die Außenwand herausgebrochen
war.“ In seinen Erinnerungen schildert er, wie er zum Schwesternhaus am
Katharinenhaus eilt, über Steinbrocken in den Keller steigt und dort auf
verängstigte Ordensfrauen und Flüchtlinge stößt. Die Oberin habe beide
Arme gehoben und gesagt: „Nur weg von hier! Wir halten das nicht mehr
aus!“
Bensch beschafft ein Pferdegespann und lässt die kranken und älteren
Schwestern ins Kevelaerer Krankenhaus bringen. Für die anderen bleibt
nur der Wettener Busch, von wo aus die Flüchtlinge Notquartiere suchen.
Sie kommen mit dem Leben davon, nicht so andere: Allein im Keller von
Gellings sind bei den Bombardierungen am Morgen acht Menschen getötet
worden. Nicht einmal ihre Überreste werden gefunden.
► Ihr Leben verlieren am 28. Februar
in Winnekendonk Anna Kempken (56 Jahre, Kevelaerer Str. 39 g), Helene
Schlootz (18 Jahre, Kervenheim), Paula Kamps (21 Jahre, Rheinstr. 11 in
Kevelaer), Hendrina van Stephaudt (70 Jahre), Johanna van Stephaudt (41
Jahre), Käthe Rupperts, Maria Rupperts und ein weiteres Opfer, dessen
Namen wir nicht kennen.
Der Angriff auf Winnekendonk ist eine verspätete Reaktion der Alliierten
- und völlig sinnlos. Die Wehrmacht ist bereits abgezogen, im Dorf gibt
es - bis auf eine schwache Nachhut - nichts Kriegswichtiges zu
vernichten. Das haben die Alliierten, die in den vorangegangenen Tagen
aus diesem Raum angegriffen worden sind, nicht wissen können.
Auch Wemb wird wieder bombardiert. Kleine Flüchtlingstrecks aus der
Gegend von Hees, Baal und Weeze, die durch Wemb ziehen, fliehen wegen
der Explosionen schnell weiter.
Zur gleichen Zeit schießt die Artillerie stundenlang auf Kervenheim. Das
Trommelfeuer, das die in die Keller geflüchteten Menschen seit 9 Uhr
hören, will kein Ende nehmen.
Britische Truppen beziehen am Waldrand der Murmannsheide Stellung.
Nördlich von Kervenheim liegen deutsche Fallschirmjäger. Den ganzen Tag
über greifen Soldaten an, weichen zurück, fallen verwundet oder tot zu
Boden. Es ist nur eine Frage der Zeit und Ausdauer - eine Chance, den
Vormarsch der Übermacht zu stoppen oder nennenswert aufzuhalten, haben
die Deutschen nicht. Ihre Soldaten und die der Alliierten sterben ohne
Sinn.
Gegen 15 Uhr verlässt auf dem Endschenhof Pfarrer
Franz Nellis
seinen Schutzraum. Er rechnet jeden Moment mit dem Eintreffen der
Briten. „Hurra rufend und Hände hoch kamen wir alle klopfenden Herzens
aus dem Keller“, heißt es in den Erinnerungen von Pfarrer Coenders, der
ebenfalls hier Unterschlupf gefunden hat. „Den Rosenkranz in den
erhobenen Händen haltend flehten wir, nicht schießen, nicht schießen.“
Die Briten überprüfen das gesamte Anwesen und werden ruhiger und
freundlicher, als feststeht, dass sie es nur mit Zivilisten zu tun
haben. Sie spendieren Zigaretten. Aber vorsichtig sind sie immer noch.
Pfarrer Coenders muss sein Taschenmesser abliefern.
Brandgeruch verheißt nichts Gutes. Hinter dem Wohnhaus brennt eine
Pferdekarre, voll bepackt mit Lebensmitteln und Kleidern - der
Fluchtwagen der Menschen auf Keysershof. Der Wagen ist offenbar von den
letzten deutschen Soldaten vor ihrem Rückzug angezündet worden. Das
Feuer droht auf Wohnhaus und Stallungen überzugreifen, darf aber nicht
gelöscht werden. Erst auf eindringliche Bitte von Franz Nellis, dem
Geistlichen, erhält dieser die Erlaubnis, die Verbindung beider Gebäude
durchzuschlagen. So wird wenigstens die Scheune gerettet. Die Ställe
sind verloren, ein Teil des Viehs auch.
Am Abend sitzen Briten und Deutsche im Keller des Endtschenhofs und
lassen sich gemeinsam Eier, Milch, Kekse, Weißbrot, Kaffee und
Zigaretten schmecken. Der Hof wird von einem dramatischen Licht umhüllt:
Rundherum fackeln mehr als zehn Nachbarhöfe ab.
Es ist das flammende Vorspiel zur Einnahme von Kervenheim. Das britische
Norfolk-Regiment hat es noch mit rund 200 deutschen Fallschirmjägern zu
tun, die sich in den Häusern festgekrallt haben. Ihre Maschinengewehre
können zwar Fürchterliches anrichten, aber aufhalten können sie die
Flammenwerferpanzer und die vielfach stärkere und besser bewaffnete
Infanterie der Alliierten nicht.
1. März 1945
Während alle Zivilisten vom Endtschenhof zum Internierungslager in
Bedburg gebracht werden, schlagen die Geschosse der unablässig feuernden
Artillerie in Kervenheim ein. Das so gut wie zerstörte Dorf wird nun
restlos zum Trümmerhaufen.
Nach der Einnahme Kervenheims
aus ihrem Dorf vertrieben und - zum großen Teil - in Bedburg im
Sammellager interniert: Kervenheimer beim Auszug über die Uedemer
Straße.
Foto aus: Heinz Bosch, Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas,
Geldern 1977, S. 290
Am Morgen nehmen die Briten die Schuhfabrik Otterbeck und einige
umliegende Häuser im Handstreich. Dann ziehen sie sich bis zum Abend
wegen des erbitterten Widerstands der Fallschirmjäger in ihre Stellungen
an der Mühlenfleuth zurück.
Kervenheim ist für die Alliierten als Knotenpunkt von strategischer
Bedeutung. Der hier von den Deutschen geleistete Widerstand gefährdet
die Flanken der auf Sonsbeck und Kevelaer vorrückenden Alliierten.
Internierung in Bedburg: Wer
von der Bevölkerung das „Glück“ hatte, nicht in ungeheizten Zelten
interniert zu werden, musste sich mit solchen Festquartieren zufrieden
geben. Foto aus: W. Michels, Niederrheinisches Land im Krieg, Abb. 147.
General Schlemm, der längst detaillierte Pläne für den Rückzug der
Wehrmacht über den Rhein hat ausarbeiten lassen, will auf den Fall
vorbereitet sein, dass Hitler die Aufgabe der linken Rheinseite doch
noch erlaubt. Schlemm braucht Zeit, um die zurückflutenden Massen an
Soldaten und Material für den Rheinübergang zu ordnen. Deshalb sollen
auch die Fallschirmjäger im Kervenheimer Raum Zeit für den Rückzug der
deutschen Truppen über den Rhein bei Wesel erkämpfen. Aber noch gilt für
General Schlemm und seine Soldaten der Befehl, auf keinen Fall den
linken Niederrhein aufzugeben.
Es entwickeln sich, wie es in Kriegsberichten heißt, nur „kleinere
Rückzugsgefechte“. Aber gestorben wird auch bei ihnen, und die verübte
Barbarei ist nicht weniger barbarisch: Ein SS-Kommando sprengt an diesem
Tag die drei Dorfkirchen in Appeldorn, Obermörmter und Niedermörmter,
dem Geburtsort von Hendrik Busmann.
Während das Norfolk-Regiment vor Kervenheim liegt und sich auf den Sturm
vorbereitet, wird von anderen Briten der Vollbrockshof an der Straße
nach Kervenheim genommen. Eine in den Keller geworfene Handgranate tötet
die dreiköpfige Familie Dünte aus Weeze. Die Verletzten unter den
Überlebenden werden versorgt, danach müssen sich alle auf den Weg ins
Internierungslager Bedburg begeben.
Englische Infanterie durchkämmt die Wälder von Baal und Wemb. Auf
deutsche Soldaten trifft sie nicht. In Weeze, so meinen Spähtrupps,
drohe keine Gefahr mehr - ein Irrtum: Als um 5 Uhr die Briten einen
Panzergraben in Weeze überbrücken und einmarschieren wollen, schlagen
deutsche Fallschirmjäger, noch etwa 150 Soldaten, los.
Nun werden die Deutschen von zwei Seiten beschossen - sie weichen zurück
und überlassen Weeze den Alliierten.
In Kervenheim wird die Schuhfabrik Otterbeck von den Briten erneut
erobert. Im Bereich „In de Weyen“ sitzen deutsche Funker in einem
Bauernhof und bemühen sich verzweifelt, Verbindung zu ihrem
Gefechtsstand zu bekommen. Als das nicht klappt, fährt ein Funker mit
dem Fahrrad los, um der deutschen Artillerie die notwendigen Zielwerte
zu überbringen. Derweil steht das Gehöft so schwer unter Beschuss, dass
unter Missachtung des Durchhaltebefehls nun der einzig vernünftige
Entschluss gefasst wird: Ein deutscher Sanitäter wird mit einer weißen
Fahne nach draußen geschickt.
Daraufhin stellen die Briten das Feuer ein und nehmen die
Fallschirmjäger gefangen. Auch der letzte Befehl ihres Oberleutnants
klingt vernünftig: „Mützen aufsetzen, damit ihr nicht mit kahlem Kopf in
die Gefangenschaft geht.“
Der Rahmenhof ist seit dem frühen Morgen in britischer Hand. Südlich des
Schaddenhofs liegen 83 tote Fallschirmjäger. Am Mittag ist auch der
lange Kampf um den Vogelsangshof beendet. Im Keller des Anwesens warten
die Hoogen-Familie, Fremdarbeiter, Nachbarn und Flüchtlinge aus Kevelaer
auf das Ende. Während im Keller die 83-jährige Großmutter von
Maria
Hoogen stirbt, werden oben die letzten deutschen Soldaten gefangen
genommen. Dann fliegt eine Eierhandgranate in den Keller, durch die zum
Glück niemand ernsthaft verletzt wird. Alle, die im Keller Schutz
gesucht haben, müssen das Anwesen verlassen. Dafür stellen die Engländer
kurz das Feuer ein.
Als die Vertriebenen in Richtung Uedem laufen - auch sie sollen nach
Bedburg ins Lager, kehren aber im Schutz des Waldes nach Vogelsangshof
zurück -, finden sie auf der Straße Heinrich van Gemmern, einen
Nachbarn. Er ist tot, in der Hand eine weiße Fahne.
Aus dem Dorf Kervenheim sind Maschinengewehre und Panzerkanonen zu
hören. Dort lassen die Fallschirmjäger, nur noch eine Kompanie stark,
die Briten herankommen. Als sie freies Schussfeld haben, töten sie mit
ihren Maschinengewehren möglichst viele Briten. Allein bei diesem
Angriff sterben 42 Männer des Norfolk-Regiments. Und der Kampf ist nicht
vorbei.
Häuserbrände entfachen ein gewaltiges Flächenfeuer, bei dem ganze Blocks
zwischen Schloss-, Donau-, Wall- und Schulstraße niederbrennen. Auch die
St.-Antonius-Pfarrkirche fängt Feuer, und ihr Turmhelm stürzt ein. Von
den 200 Häusern Kervenheims, so wird später festgestellt, sind 100
vollkommen zerstört, 90 erheblich und nur zehn gering beschädigt.
Es ist der Tag, an dem die Amerikaner von Venlo aus den Kreis Geldern
erreichen. In Kevelaer ist scheinbar alles ruhig. Aber noch an diesem
Tag, 48 Stunden vor der Einnahme durch die Briten, wird die Stadt aus
der Luft angriffen - mit verheerenden Folgen.
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© Martin Willing 2012, 2013