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INHALTSVERZEICHNIS |
Kapitel 7 |
25. Februar 1945
Der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt
(1875-1953), mahnt eindringlich zum Rückzug hinter den Rhein.
Andernfalls werde die ganze Westfront zusammenbrechen. Hitler lässt den
Appell ohne Antwort. Als von Rundstedt drängt, wenigstens die Front
„begradigen“ zu dürfen, blafft Hitler ihn an: „Lächerlich!“
Zur selben Zeit startet das Unternehmen Blockbuster. Kanadier wollen in
Richtung Wesel vorstoßen, Briten in Richtung Geldern - über Weeze und
Kevelaer.
Wemb liegt unter schwerem Beschuss. Allein die Kirche erhält 240
Treffer, aber wenigstens die Mauern und der Turm stehen noch.
In Winnekendonk geht am Dorfrand zwischen dem Hohen Weg und der
Kervenheimer Straße eine Batterie der deutschen Wehrmacht in Stellung,
greift in den Kampf ein und zieht damit das Dorf Winnekendonk erneut ins
Visier der alliierten Artillerie. Den meisten der hier ausharrenden
Einwohner, auch den Evakuierungsflüchtlingen aus Kevelaer, bleibt nur
die Flucht aus den Trümmern. Im Dorfkern ist kaum ein Haus unbeschädigt.
Der Abendhimmel über Winnekendonk wird von den brennenden Bauernhöfen im
Raum Kervenheim gerötet. Der Keysershof raucht nur noch. Das Anwesen von
Bauer Coenen ist fast völlig zerstört. In den Trümmern findet Coenen die
Leichen von fünf deutschen und zwei britischen Soldaten. In der Nacht
nimmt die Besatzung eines britischen Sturmgeschützes den Keysershof
beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben ist, in Beschlag.
Über dem Schaddenhof, der tagsüber bombardiert worden ist, liegt
beißender Gestank. Ein großer Teil des Viehs ist in den Stallungen
verbrannt. Es wird viel getrunken unter den deutschen Soldaten, die sich
auf Schaddenhof eine Atempause gönnen. Eine Ziehharmonika vertreibt für
einige Momente die Gedanken.
Rückzug auch aus den Wäldern bei Schloss Wissen. Deutsche
Fallschirmjäger weichen ins Gelände zwischen Büssenhof und Kampshof aus
und graben sich ein. Ihre Feuerkraft ist immer noch gewaltig. Das Land
um Weeze erscheint den Alliierten wie eine Festung. Sie arbeiten sich
Meter um Meter an die Höfe und Stellungen heran. An der Badeanstalt und
am Otternschen Graben werden sie von heftigem Abwehrfeuer der Deutschen
empfangen. Der verlassene Dorfkern von Weeze wird pausenlos beschossen.
In Nahkämpfen gehen Soldaten aufeinander los. Im Keller eines Hauses an
der Schmiedestraße harrt die letzte Zivilistin von Weeze aus: Gerharda
van Baal (85), eine gebürtige Niederländerin, die im Verborgenen
überlebt.
Während die letzten Kämpfe um Weeze toben, verschiebt sich die Front
bereits vom Kalbecker Raum auf Kervendonk und Kervenheim zu. Auf
Grotendonk können die Deutschen den Vormarsch vorübergehend stoppen. Der
Widerstand wird teuer erkauft: Fast alle Höfe auf Grotendonk werden
zerstört. Wenn Kervenheim ähnlich verteidigt werden sollte, ist das Dorf
dem Untergang geweiht.
An diesem Tag sterben von denen, deren Namen wir kennen, die Kevelaerer
Peter Johann van Gellekom (25 Jahre, Rosenbroecksweg 28) in der
Schravelener Heide und Gerhard Wilhelm Terlinden (25 Jahre, Hubertusstr.
100) bei Sonsbeck. Vom selben Tag stammt das letzte Lebenszeichen des
21-jährigen Wilhelm Janssen (Kevelaer, Twistedener Str. 70). Er wird bei
Neulewien vermisst.
26. Februar 1945
Die Abwehrlinie, die General Alfred Schlemm, Kommandeur der 1. deutschen
Fallschirmjäger-Armee, am unteren Niederrhein nördlich von Xanten hat
aufbauen lassen, verfügt mit insgesamt 100.000 Mann und schweren Waffen
über enorme Widerstandskraft. Aber niemand unter den Befehlshabern
rechnet damit, dass die ungleich stärkeren Alliierten auf ihrem
Vormarsch zum Rhein dauerhaft aufgehalten werden könnten. Die
schrecklichen Verluste, die die Alliierten erleiden, werden durch nicht
enden wollenden Nachschub ersetzt. Die Deutschen dagegen können das
nicht. Jeder Soldat, der fällt, jeder Panzer, der zerschossen wird,
schwächt ihre Abwehrkraft. Ersatz und Ausgleich sind nicht mehr möglich.
General Schlemm weiß um die Aussichtslosigkeit des Kampfes auf der
linken Rheinseite, aber Hitlers Durchhaltebefehl bis zum Tod verhindert
die rechtzeitige Entscheidung, sich auf der rechten Rheinseite neu zu
formieren. Als es später doch noch dazu kommt, sind die deutschen
Truppen bereits derart geschwächt, dass sie die gewaltige
Luftlandeoperation der Alliierten und die Rheinüberschreitung - beides
wird Ende März eintreten - über sich ergehen lassen müssen.
Hitlers menschenverachtenden Haltebefehl, der sinnlose Todesopfer
fordert und kriegsstrategisch ein verhängnisvoller Fehler zum Vorteil
der Alliierten ist, kommentiert der alliierte Oberbefehlshaber General
Eisenhower sarkastisch: „Wir verdanken Hitler viel.“
Die Alliierten können es sich mit ihrer Übermacht sogar leisten, den
Deutschen öfter mal eine Atempause zu schenken - so wie am 26. Februar,
als Schotten und Kanadier die Moyland-Wälder und die Straße Goch-Kalkar
in Besitz nehmen, aber die zurückweichenden deutschen Einheiten nicht
verfolgen. Ein paar Tage lang können sich die Fallschirmjäger gefahrlos
in neuen Verteidigungsstellungen einrichten.
Die vorderste Frontlinie der Deutschen liegt jetzt bei Uedem, Kalkar und
Keppeln, im Hinterland rüsten sie den Raum vor Xanten immer stärker auf,
um das „Einfallstor“ zum Rhein zu sperren. Die Alliierten planen
inzwischen einen Großangriff auf die Eisenbahnlinie Goch-Xanten, um die
Gleise herausreißen und auf dem Bett eine Straße nach Xanten anlegen zu
können.
Die Kämpfe an den Rändern gehen weiter. Am 26. Februar fällt der
Rahmenhof bei Weeze. Im Bereich der Straße Goch-Kalkar sterben an diesem
Tag allein 214 kanadische Soldaten. Für ihren Kompanieführer ist es „der
grässlichste Tag des Krieges“. Am Schaddenhof (Weeze) wollen drei
Wehrmachtssoldaten die Brücke über die Mühlenfleuth sprengen und
bezahlen im Feuer der Alliierten mit ihrem Leben. In Kalkar ist an
diesem Tag für zahlreiche deutsche Soldaten der Krieg vorbei: Sie gehen
in Kriegsgefangenschaft.
In Kalkar ist am 26. Februar der Krieg aus: Deutsche Soldaten treten den
Gang in die Kriegsgefangenschaft an. Foto aus: Whitaker, Endkampf am
Rhein.
In der Nacht wird der Krieg nach Kervenheim getragen. Fallschirmjäger
der Wehrmacht rücken ins Dorf ein.
Unterdessen schießen die Kanadier aus allen Rohren. Ihre Infanterie
rückt auf die Höhen bei Kalkar/Uedem zu - mit zwei Panzer- und zwei
Infanteriedivisionen. Die Blockbuster-Offensive stockt, weil das
ansteigende Gelände deckungslos und vor allem aufgeweicht ist. Es regnet
pausenlos, und selbst Panzer können die teils zwei Meter tiefen
Schlammlöcher nicht überwinden. Innerhalb weniger Stunden verliert
allein eine der Kompanien rund 90 Mann. Viele der alliierten Panzer
bleiben im Schlamm der Höhenzüge stecken. Außerdem werden die Kanadier
in verbissenen Kämpfen um einzelne Gehöfte und um das Dorf Keppeln
aufgehalten. Trotzdem werden schließlich die deutschen Stellungen
südlich von Kalkar durchbrochen.
Auch die Amerikaner machen bei ihren Vorstößen von der Rur aus
Bodengewinne. Nach der Einnahme von Erkelenz rücken sie auf Neuß,
Krefeld, Kempen, Viersen und Dülken vor.
27. Februar 1945
Die Deutschen konzentrieren ihre Widerstandskräfte auf den Raum vor
Xanten. Das nutzen die Alliierten aus, indem sie eine britische Division
nach Südosten abschwenken lassen, um den Raum Weeze/Kevelaer/Geldern
einzunehmen und zu sichern. Weeze wird an diesem Tag besetzt, ebenso wie
Uedem und - am Ostufer der Maas - das Dorf Well. Als aus dem - von den
Briten eingeschlossenen - Kalkar zwei Zivilisten mit der Nachricht
kommen, dass sich keine deutschen Soldaten mehr in Kalkar aufhalten,
wird die Stadt ohne weitere Kämpfe besetzt. Die verbliebenen Zivilisten
müssen sich auf den Fußmarsch nach Bedburg-Hau in ein Zelt-Sammellager
begeben. Kein Deutscher darf sich im Vorbereitungsgebiet für die große
Luftlandeoperation im März aufhalten.
An diesem Tag greifen alliierte Panzer Kervenheim an. Ein deutscher
Posten auf dem Turm der St.-Antonius-Pfarrkirche erkennt sie frühzeitig.
Die Fallschirmjäger legen eine Funkstation in den Kirchturm und wollen
für sich den Luftschutzkeller im Pfarrhaus räumen lassen. Pfarrer
Franz
Nellis lässt sich auf eine scharfe Auseinandersetzung mit einem
Oberleutnant ein, als vor dem Pfarrhaus Nebel- und Granatwerfer
aufgebaut werden - ausgerechnet vor dem Fenster des Luftschutzkellers.
Aber auf die Zivilpersonen wird keine Rücksicht genommen. Die Geschütze
bleiben und erreichen immerhin, dass der erste Panzerangriff zunächst
folgenlos bleibt.
Aber die Anwort der alliierten Artillerie auf die Granatwerfer im
Dorfkern lässt nicht lange auf sich warten. Ein Volltreffer zertrümmert
das Pfarrhaus. In den Luftschutzkellern bangen die Kervenheimer um ihr
Leben. Anna Umbach (42 Jahre, Pastoratsstr. 5) wird bei diesem Angriff
getötet. Pfarrer Nellis hält in seinen Erinnerungen fest:
► „Frau Umbach
tot, Jean Schlootz und Maria Schlootz Bein ab, Lene Schlootz Arm ab,
Anneliese Schlootz Beinverletzung, Marlies Straaten und Maria Umbach
schwer verletzt, Oberschenkel- bzw. Bauchschuß. Lene Schlootz noch in
der Nacht gestorben.“
In der Umgebung brennen Bauernhöfe wie Fackeln. Pfarrer Nellis fordert
die Soldaten auf, den nutzlosen Kampf aufzugeben. Als Antwort wird
gedroht, den Keller zu räumen und den Geistlichen zu verhaften.
Am Abend, im Schutz der Dunkelheit, stoßen alliierte Panzer bis zur
Mühlenfleuth vor und werden in einem Gegenangriff der Fallschirmjäger
gestoppt. Im Kampf um die Brücke entsteht ein Chaos, in dem der
Überblick verloren geht. Den Briten, die auf Schaddenhof sitzen, geht
die Munition aus. Ein todesmutiger Brite rast mit einem Wagen voll
Munition über die umkämpfte Mühlenfleuthbrücke zum Schaddenhof. In
erbitterten Nahkämpfen verlieren Briten und Kanadier den Hof für ein
paar Stunden, dann bringen sie ihn wieder in ihre Gewalt. Am frühen
Abend stoßen kanadische Panzer westlich Uedem in Richtung Gochfortzberg
vor.
Derweil wird Winnekendonk bombardiert. Bei dem Fliegerangriff sterben
Theodora Stenmanns (59 Jahre, Sonsbecker Str. 114) und Johannes Aben (52
Jahre, Sonsbecker Str. 111).
Schlimmer noch trifft es Sonsbeck an diesem Tag. Der Ort versinkt unter
einem dichten Bombenteppich. 14 Einwohner werden getötet.
Kapitel 7 |
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© Martin Willing 2012, 2013