14. Februar 1945
Es ist Aschermittwoch, der Tag, der in die Geschichte eingeht. Er bringt
über den Kreis Geldern die schlimmsten Luftangriffe des gesamten Kriegs.
Noch nie in der Geschichte sind hier innerhalb von 24 Stunden solche
Verwüstungen angerichtet worden. Auch in Kevelaer sind die Folgen
verheerend.
Gleichwohl sind die Bomben auf Geldern, Wetten, Kervendonk und Kevelaer
dem britischen Oberbefehlshaber Feldmarschall Montgomery keine Zeile
wert. In seinem Tagesbericht für den 14. Februar notiert er, was für ihn
wichtig ist: „Der Feindwiderstand im Gelände von Veritable verstärkt
sich, und heute haben sehr schwere Kämpfe stattgefunden, hauptsächlich
in einem Waldstück östlich des Reichswaldes und weiter südwestlich um
Kessel und Hommersum. Ein paar heftige Gegenattacken konnten ohne
Bodenverluste für uns und unter stetigem Weiterrücken und
Geländegewinnen zurückgeschlagen werden. Im Norden hat die 3. Kanad.
Div. jetzt ein Bataillon am Rhein gegenüber Emmerich.“
Während diese Zeilen geschrieben werden, brennt Geldern.
Am Morgen des Aschermittwochs öffnet sich wolkenloser Himmel über dem
Niederrhein. Auf den Airports in England steigen 400 Bombenflugzeuge
auf, die so genannten Fliegenden Festungen. Ihr Ziel ist erneut Dresden,
das bereits in Schutt und Asche zerfallen ist. Auch auf dem Flugplatz im
niederländischen Helmond bereiten sich Bombenschützen, Piloten und
Funker auf einen Einsatz vor. Es sind kleinere Verbände, und auch die
Stadt, die sie zerstören sollen, ist sehr viel kleiner als Dresden.
Trotzdem fordert die II. British Tactical Air Force, die in Helmond ihre
Maschinen aufrüstet, Unterstützung durch die 9. US-Bombardement Division
mit ihren viermotorigen Bombern, den Fliegenden Festungen, an. Wie Kleve
und Goch soll Geldern dem Erdboden gleichgemacht werden, denn Geldern
wird von den Alliierten als wichtiger Verkehrsknotenpunkt für den
Nachschub der Wehrmacht angesehen.
Um 9 Uhr beginnt der Großangriff. Die Bomber kommen direkt aus der
blendenden Sonne und werden von den Meldern spät bemerkt. Die Stadt
Geldern wird zunächst mit Phospor-Brandbomben überschüttet. Bis zum
frühen Nachmittag gleicht sie, so ein Augenzeuge, „einem Flammenmeer“.
Feuerwehren vom ganzen Niederrhein konzentrieren sich auf die brennende
Kreisstadt.
Ein erster Lagebericht aus dem Chaos spricht von „vielen Toten“. Und man
wundert sich, dass hauptsächlich Brand- und relativ wenige
Explosionsbomben niedergegangen sind - trotz der gesichteten Fliegenden
Festungen der Amerikaner. Deren Piloten haben Orientierungsprobleme.
Geldern liegt unter einer riesigen Qualmwolke. Die Abwurfziele können
nicht sicher ausgemacht werden. Deshalb drehen die Maschinen ab und
werfen über 300 Bomben, die in Geldern explodieren sollten, über die
Umgebung der Kreisstadt ab: auf Wetten, Kervendonk und Kevelaer.
Unterdessen vereinigen sich die Brände in Geldern zu einem gewaltigen
Glutofen. Hin und wieder zerreißen einzelne Artillerieeinschläge die
unheimliche Stille, die seit dem Abdrehen der Bomber am späten Vormittag
über Geldern liegt. Noch in der Nacht brennt die Stadt wie eine Fackel.
Auch zwei Tage später brennt sie noch und versinkt.
„Zu 80 Prozent zerstört“, wird es später in einem Lagebericht über
Geldern heißen. Unter den vielen Toten ist eine Frau aus Twisteden: Die
sterblichen Überreste von Grete van Vorst, einer Hausangestellten der
Familie Deisinger, werden später bei Aufräumungsarbeiten in der
Bahnhofstraße gefunden.
Eher zufällig wird Kervendonk zu einem der Ersatzziele der
amerikanischen Bomber. Es ist der erste Luftangriff auf das kleine Dorf,
das nun erstmals auch von den Geschossen der vorgerückten Artillerie
erreicht wird. Während Kervendonk an diesem Tag bis auf einige Schäden
davonkommt, muss Wetten das Grauen des Kriegs über sich ergehen lassen:
Gegen 10 Uhr stürzen sich Jagdbomber auf den Ort. Explosionen bei
Ingenillem, Broeckmann, Ingenlath und an vielen anderen Stellen; die
Kaplanei bricht zusammen, ihre Mauern erschlagen mehrere Menschen,
darunter den Pfarrer und seine Schwester. Auch das St.-Josefshaus wird,
obwohl als Verbandsplatz gekennzeichnet, zerstört. Die Oberin des
benachbarten Klosters Maria Viktoria, eine weitere Nonne und mehrere
Bewohner kommen ums Leben.
Unter den insgesamt 29 Menschen, die bei diesem Angriff auf Wetten
getötet werden, sind 16 Zivilisten:
† Maria Barkhofes.
† Maria Brauers.
† Maria Brinkmann.
† Friedrich Brill, Pfarrer.
† Martha Brill, Schwester des Pfarrers.
† Margarete Büschkes.
† Heinz Gerhard Büschkes.
† Wilhelmine Görke.
† Maria Harnischmacher.
† Sophie Kanstein.
† Sophie Kuhlmann.
† Helene Lebens.
† Sophie Mölders.
† Anna Marg. Sous, Ordensschwester.
† Maria Schlemmer, Ordensschwester.
† Anna Walntis.
Auch Kevelaer wird am Aschermittwoch ersatzweise für Geldern
angegriffen. Die Amerikaner belegen den Streifen zwischen Bahnlinie und
Haupt-/Marienstraße mit Bomben. Ihr Leben verlieren:
† Wilhelm Labonté, Lehrer, Vater von acht Kindern (Willibrordstr. 11).
† Maria Weber (Twistedener Str. 57).
† Wilhelm Paehsens aus Twisteden (Schürkeshof), Vater von neun Kindern.
Ihn trifft eine Bombenexplosion auf der Kreuzung der Rheinstraße mit der
Reichsstraße 9.
† Johannes Geurts (Hauptstr. 49).
Am selben Tag sterben nach Luftangriffen in Nieukerk Heinrich
† Peters aus Wetten und
† Heinrich Leuker aus Winnekendonk.
15. Februar 1945
Die wenigen Menschen, die in Kevelaer geblieben sind, haben den
schrecklichen Aschermittwoch noch in den Knochen, als erneut Bomben
fallen. Getroffen wird in der Bogenstraße das Haus Nr. 19, in dem
Johanna Goemanns ihr Leben verliert. Am selben Tag trifft ein tödliches
Fliegergeschoss in Uedemerbruch den bekannten Kevelaerer
Josef Plümpe.
Während an allen Fronten, zunehmend auch an der Heimatfront, die Zahl
der Getöteten unermessliche Dimensionen erreicht, kann die deutsche
Rüstungsindustrie trotz gezielter Zerstörungen vieler Werke und Abzug
der meisten Facharbeiter zum Kriegsdienst immer noch produzieren.
Himmlers SS lässt ausländische Zwangsarbeiter heranschaffen und nach
wenigen Monaten - länger halten die unterernährten und drangsalierten
Menschen die Sklavenarbeit kaum aus - durch immer neuen Nachschub
ersetzen.
Als nicht kriegswichtig genug ist die Schuhfabrik Otterbeck in
Kervenheim eingestuft. Mitte Februar 1945 muss
Wilhelm Otterbeck die
Produktion einstellen, weil ihm seine Facharbeiter entzogen sind und
obendrein das Rohmaterial ausbleibt. Die Otterbecks ziehen sich zusammen
mit einigen Kervenheimer Familien nach Mülheim zurück. In Räumen der
dortigen Otterbeck-Fabrik bekommen die Familien eine Notunterkunft.
Am 15. Februar wird die Haft des Kevelaerer Pfarrers
Wilhelm Holtmann
beendet. Holtmann hatte sich rund vier Wochen zuvor geweigert, die Stadt
zu verlassen und den sich gegen die Evakuierung sträubenden Kevelaerern
ein „gutes Beispiel zu geben“. Daraufhin hatte die Gestapo den Pfarrer
festgenommen und im Marienhospital Ratingen festgesetzt. Jetzt wird der
Geistliche unter der Auflage, das linksrheinische Gebiet und damit auch
Kevelaer nicht zu betreten, entlassen. Holtmann nimmt in Haldern Asyl
und kehrt erst nach dem Krieg nach Kevelaer zurück.
Feldmarschall Montgomery hält fest: „Im Gelände von Veritable rücken wir
jetzt an Goch und Kalkar heran; ich glaube, daß wir beide Orte bis
morgen abend besetzt haben. Südwestlich von Goch haben wir jetzt
Afferden und die Wälder westlich davon im Norden der Straße eingenommen.
Die Zahl der Gefangenen nimmt zu, neue gegnerische Formationen tauchen
auf, und es sieht aus, als ob Veritable die gesamten feindlichen
Reservekräfte aufsaugt. Um so besser.“
Als die Alliierten Schloss Kalbeck erreichen, sehen sie eine qualmende
Ruine. Deutsche Truppen haben das Schloss und seine Kapelle vor dem
Zurückweichen in Brand gesteckt. Was noch steht, wird später von den
Geschossen der alliierten Panzer vernichtet werden.
16. Februar 1945
Wesel und der zerstörte Dom.
Foto aus: Josef Wilmsen, 50 Jahre Fatima-Kapelle in
Kalkar-Appeldorn, S. 17
Um auch die letzten Unterstände in der zerstörten Stadt Wesel zu
treffen, fliegen die Alliierten am 16. Februar weitere Angriffe. Am Ende
wird der Kampf um Wesel rund 1.500 Menschen - davon mehr als 600
Zivilisten - das Leben gekostet haben.
Unterdessen arbeitet in der Scheune von Opgenhoff in Winnekendonk eine
militärische Großküche. Von hier aus werden Soldaten an der etwa zehn
Kilometer entfernten Front mit Essen versorgt.
Am Nachmittag explodieren Bomben im Bereich der Umgehungsstraße von
Winnekendonk. Zwei Menschen werden getötet, von denen wir nur einen
namentlich kennen: Es ist Gertrud Laermann aus Kevelaer, die ihre
Wohnung an der Amsterdamer Str. 53 hatte verlassen müssen und in
Winnekendonk untergetaucht war. Sie stirbt nun in ihrem Geburtshaus.
Der Krieg ist längst verloren. Mehr als der Tod wird in der deutschen
Generalität eine Kapitulation wie die von 1918 gefürchtet - die
bedingungslose Kapitulation, die allein für die Westmächte und die
Sowjetunion in Frage kommt.
Jeder Soldat kennt seit Herbst 1944 den Führerbefehl, der „verbrannte
Erde“ fordert: Unter keinen Umständen kapitulieren, sondern kämpfen bis
zum Tod und dem Feind nur Trümmer überlassen! Hitlers Befehl ist, wie
Rüstungsminister Speer in seinen Erinnerungen schreibt, „das Todesurteil
des deutschen Volkes“.
Speer zitiert Hitler: „Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das Volk
verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das
deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu
nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören.
Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren
Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf
übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind
gefallen.“
Brücken, Kirchen, Häuser, Fabrikgebäude - was dem Ansturm der Alliierten
standgehalten hat, müssen die letzten deutschen Soldaten vor ihrem Tod
oder vor ihrem Rückzug in neue Stellungen zerstören.