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Kapitel 3

8. Februar 1945

Wieder werden Goch, Weeze und Uedem von Jagdbombern angegriffen. Die Bediensteten der Gemeindeverwaltung Weeze flüchten mit den wichtigsten Akten zum Gesselthof. In gut einer Woche wird auch dieses Ausweichquartier in die Luft fliegen.

Es gibt kein Entrinnen. Die Alliierten verstärken ihre Bombardements der Städte und Dörfer, Eisenbahnstrecken, Brücken und Fähren im Kampfgebiet. Am Nachmittag geraten Bodentruppen - schottische Soldaten - auf der Straße von Wyler nach Kleve in ein Minenfeld der Deutschen. 24 Männer werden verstümmelt, einige von ihnen sterben.

Aus mehr als 1.300 Kanonenrohren feuert die alliierte Artillerie 24 Stunden lang tief ins niederrheinische Land, um den Vormarsch der Bodentruppen vorzubereiten. Nie hat es, so wird es später in der Kriegsliteratur heißen, in Nordwesteuropa ein stärkeres, ein länger andauerndes Artilleriefeuer gegeben als an diesem 8. Februar. „Die Geschütze glühten rot.“

Der Donner ist bis Xanten zu hören, wo General Alfred Schlemm, Kommandeur der 1. deutschen Fallschirmjägerarmee sein Hauptquartier hat. Schlemm steht auf einem der Türme des St.-Viktor-Doms und sieht in der Ferne den blitzenden Himmel. „Ich rieche die Großoffensive“, funkt er an das Oberkommando. Schlemm ist der einzige unter den Wehrmachtsgenerälen, der den Vorstoß der Alliierten durch den Reichswald erwartet. General Blaskowitz, der Oberkommandierende, glaubt es immer noch nicht und hält seine Reservekräfte im Süden des Niederrheins zurück. Der Geschützdonner aus dem Hinterland von Kleve sei nur ein Ablenkungsmanöver.

Um 10.30 Uhr beginnt der Vorstoß der alliierten Bodentruppen. Schottische Infanteristen nehmen die Ruinen von Kleve ein. Kanadier rücken auf Wyler vor, Briten stoßen durch den Reichswald, wo sich deutsche Soldaten eingegraben haben. Am Abend sind Kranenburg, Frasselt und Wyler erobert. Aber es geht schleppender voran als erwartet. Nördlich und östlich von Kleve stehen weite Landstriche unter Wasser, weil die Deutschen einige Rheindeiche gesprengt haben. Schwere Gefechtsfahrzeuge bleiben im Morast stecken.

Während Briten und Kanadier von Kleve aus in den niederrheinischen Raum vordringen, will die 9. amerikanische Armee zwischen Düsseldorf und Moers den Weg zum Rhein freikämpfen.

Überschwemmungen im Bereich der Rur stoppen die Amerikaner. Erst zwei Wochen später können die US-Soldaten übersetzen. Derweil konzentriert sich die 2. britische Armee auf den Raum zwischen Moers und Rees, die 1. kanadische Armee auf den Raum zwischen Rees und Nimwegen.

Der britische Feldmarschall Montgomery, der die gesamte Operation Veritable befehligt, ist mit den Erfolgen vom 8. Februar zufrieden: „Wir haben eine feste Basis im Reichswald.“

Dort zeigt sich auch der stärkste Widerstand: Deutsche Fallschirmjäger im Südwesten des Reichswalds versuchen verzweifelt, den Vormarsch zu stoppen.

9. Februar 1945

Die niederrheinische Front verschiebt sich nach Süden. Bis zum folgenden Morgen werden alliierte Bodentruppen bis Goch vorgerückt sein.

Bomber fliegen einen Angriff auf Kevelaer. Die Explosionen in der Basilikastraße richten nur Sachschäden an. Die Beichtkapelle wird in Mitleidenschaft gezogen. Ein deutscher Soldat berichtet über diesen Angriff: „Ich war an der Straße nach Weeze im Quartier, als plötzlich die Jabos und ein Fluggeschwader herankamen. Im Nu waren wir im Bunker verschwunden. Aber da prasselten auch schon die Bomben nieder, auf die Stadt, auf die Häuser um uns und in unserer Nähe. Es war furchtbar, wie die Häuser wankten und die Fenster klirrten. Aber unser Quartier wurde glücklich verschont. Nachher sahen wir den Greuel der Verwüstung in und bei Kevelaer.“

In Sevelen wird ein Geflügelhof bombardiert. Sieben Tote, darunter zwei Mädchen, werden später geborgen. 60 Bomber richten in Xanten Verwüstungen an.

Den Allierten gelingt der Durchbruch des Westwalls bei Nütterden. Am Abend stehen sie auf der Höhe von Materborn.

Derweil geht der Häuserkampf in den Ruinen von Kleve weiter.

10. Februar 1945

In Winnekendonk wird - etwa in Höhe des Anwesens Elders - ein Rote-Kreuz-Auto der Wehrmacht mit Verwundeten beschossen. Zwei Menschen überleben den Angriff nicht.

Auf dem Gleumes-Hof in Kevelaer, wo Kaplan Erich Bensch untergetaucht ist, quartieren sich Wehrmachtsangehörige mit einer Schreibstube ein. „Der Geschützdonner bei Tag und Nacht wuchs manchmal zu ohrenbetäubendem Lärm an. Nach draußen wagte sich, vor allem tagsüber, niemand mehr“, schreibt Bensch in seinen Erinnerungen. „Noch weitaus dramatischer waren die Nächte. Von 19 Uhr bis zum anderen Morgen um 7 Uhr feuerte die alliierte Fernartillerie von der Maas aus auf die Reichsstraße Geldern-Kleve. Es war ein ununterbrochenes Heulen.“

Die Wallfahrtsstadt Kevelaer wird nicht verschont. Basilika und Priesterhaus sind bereits getroffen und beschädigt, die St.-Antonius-Pfarrkirche ist längst eine Ruine.

Kevelaer wird erneut bombardiert. Wie überall sind die Zwangsarbeiter, denen der Zugang zu den Luftschutzkellern verwehrt wird, den Angriffen schutzlos ausgeliefert - mit schlimmen Folgen, wie der Augenzeuge Walter Toubartz erfahren muss. Er hat seine evakuierten Eltern in Winnekendonk besucht. Auf dem Rückweg nach Kevelaer hört der junge Mann Bombenexplosionen. Als Walter Toubartz eine knappe halbe Stunde danach die Reichsstraße 9 in Höhe des Freibads passiert, sieht er, wie Leichen auf ein Pferdefuhrwerk geladen werden. Er schätzt, dass es etwa zehn bis 15 Tote sind. Ihre Kleidung weist darauf hin, dass es russische Kriegsgefangene sind, die man zum Bau von Unterständen von Autos an der Reichsstraße herangezogen hat.

Es sind insgesamt 18 russische Zwangsarbeiter, die in Kevelaer den Tod gefunden haben, weil sie sich nicht schützen durften. Ihre Gräber auf dem Friedhof werden noch heute gepflegt.

An diesem Tag ist Kranenburg von den Alliierten eingenommen.

Kranenburg 1945
Kranenburg nach der Einnahme am 10. Februar 1945. Foto aus: Niederrheinisches Land im Krieg, Abb. 62

11. Februar 1945

Es ist Sonntag. In der St.-Urbanus-Kirche zu Winnekendonk stehen die Gläubigen dicht an dicht. Wegen der befürchteten Fliegerangriffe ist der Gottesdienst von 10 auf 9 Uhr vorgezogen worden. In seiner Predigt bittet Kaplan Klinkenbusch, dass einer dem anderen nach Möglichkeit in der Not beistehen möge.

Nach der Wandlung dringt unheilvolles Dröhnen in die Kirche. Unter den Gläubigen bricht Panik aus. Alle laufen nach draußen. Besonders die Kevelaerer unter den Gottesdienstbesuchern sind entsetzt:

Fliegerangriff auf ihre Stadt.

Verbände mit zweimotorigen Kampfflugzeugen werfen Bomben. Besonders getroffen werden die Bereiche Weezer und Egmontstraße. Einige Häuser werden regelrecht ausradiert. Das nördliche Querhaus der Beichtkapelle wird stark beschädigt. Sämtliche Fenster zersplittern. Die Gnadenkapelle bleibt weitgehend unversehrt.

Kevelaer wird an diesem Sonntag gezielt bombardiert, wie wenig später in einer Meldung der britischen Zeitung Times zu lesen ist.

Bei diesem Angriff wird an der Niersbrücke in Schravelen Maria Oehmen getötet. In der Weezer Straße sterben Margarete Jansen (28 Jahre alt, Haus Nr. 56), Gertrud Klümpen (52 Jahre, Haus Nr. 56), Peter und Maria Helmus (51 und 17 Jahre, Haus Nr. 24), Wilhelmine Geurts (49 Jahre, Haus Nr. 24) sowie Matthias Ginters (60 Jahre, Haus Nr. 18), außerdem in der Lindenstraße Wilhelm Schmidt (49 Jahre, Haus Nr. 18).

Auch der Winnekendonker Anton Achten (62 Jahre, Kevelaerer Str. 37) verliert an diesem Sonntag sein Leben. Er ist mit dem Pferdefuhrwerk der Fa. Neuhaus von Kevelaer nach Sonsbeck unterwegs, als er auf der Sonsbecker Straße in Winnekendonk von Artilleriegeschossen getroffen wird. Er stirbt am selben Tag in der Notaufnahme in Hamb.

12. Februar 1945

In den Wehrmachtsberichten und in den geheimen Protokollen für den britischen Feldmarschall Montgomery wird der Angriff vom 11. Februar auf Kevelaer mit den acht Todesopfern mit keinem Wort erwähnt. Er ist unbedeutend für den Kriegsverlauf. „Wir rücken stetig vor“, heißt es im Bericht Montgomerys für den 12. Februar. „Wir halten jetzt sicher den Straßenknotenpunkt Kleve und den ganzen Reichswald und haben den Feind ein gutes Stück hinter Gennep zurückgedrängt, wo bis Donnerstag morgen eine Brücke für uns bereit ist. Die Anzahl unserer Gefangenen liegt jetzt bei 5000, die unserer Verluste bei 1100.“

13. Februar 1945

Und wieder wird Kevelaer angeflogen. Bei diesem Angriff stirbt der 83-jährige Johann Weber von der Twistedener Str. 55.

Wilhelmine van Gisteren (55), geb. Deryk, deren zwei Söhne an der Front sind, flüchtet mit ihrer Tochter nach der Bombardierung Kevelaers aus der Wallfahrtsstadt.  Unterwegs erleidet sie in Ortslage Kapellen einen Kopfschuss. Die lebensgefährlich Verletzte wird nach Issum gebracht. Dort gerät ihre Tochter in einen Bombenangriff und wird ebenfalls schwer verwundet. Mutter und Tochter werden am folgenden Tag nach Wesel ins Hospital gebracht. Hier sieht der Vater seine Tochter und seine Frau wieder. Die Familie wird einige Tage später bei Bombenangriffen auf Wesel verschüttet. Nun ist auch der Vater schwer verletzt. Man bringt die Familie nach Dinslaken. Bei der Bombardierung Dinslakens am 23. März wird Mutter van Gisteren noch einmal verwundet. Wenige Wochen darauf stirbt sie.

Am 13. Februar, an dem mit dem Schuss auf Wilhelmine van Gisteren die Tragödie für die Familie beginnt, geschieht in Dresden Unvorstellbares. Die Todesopfer des monströsen Luftangriffs sind nicht zu zählen. Zwischen 25.000 und über 100.000 Toten bewegen sich die Schätzungen. In der zertrümmerten Stadt entfaltet sich ein höllisches Inferno.

Kurz vor der Vernichtung der Großstadt steht Heinrich Knechten, der nach dem Krieg als Ratsherr in Kevelaer bekannt werden wird, auf dem Bahnhof von Dresden. Wegen einer Verwundung wird Heinrich Knechten in ein Reservelazarett geschickt. Von dort sieht er in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar die Feuersäulen über Dresden.

Kapitel 3

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© Martin Willing 2012, 2013