4. Februar 1945
Während des Endkampfs um den Niederrhein treffen sich die Staatsmänner
Stalin (Sowjetunion), Roosevelt (USA) und Churchill (Großbritannien) in
Jalta auf der Halbinsel Krim zu einer Konferenz, um die Nachkriegszeit
vorzubereiten. Polens Grenzen werden nach Westen verschoben. Stalin
fordert 20 Milliarden US-Dollar Reparationszahlungen, davon die Hälfte
für die Sowjetunion, zu zahlen von den Deutschen. Zur Erörterung der
„Deutschlandfrage“ wird Frankreich als vierte Besatzungsmacht
hinzugezogen. Beschlossen wird die Gründung der „Vereinten Nationen“
(UN).
An dem selben Tag, an dem die Krimkonferenz beginnt, verstärkt die
„grüne Polizei“ der SS ihre Präsenz in Kevelaer, um die Stadt nun ohne
jede Rücksicht zu räumen. Nicht wenige Kevelaerer tauchen in
Winnekendonk unter. Das Dorf jenseits der Niers zählt nicht zur roten
Zone, aus der alle Menschen und sämtliches Vieh evakuiert werden müssen.
Es ist Sonntag. Die St.-Urbanus-Kirche ist überfüllt, als Gottesdienst
gefeiert wird. Die Kevelaerer unter den Besuchern wissen: Bis zum
nächsten Tag um Mitternacht müssen sie ihre Wohnungen und die Stadt
verlassen haben. Um 24 Uhr läuft das Ultimatum der SS ab. Dann soll hart
durchgegriffen werden.
5. Februar 1945
Es kommt schlimmer: Die Treibjagd beginnt schon am frühen Montagmorgen.
Die Kevelaerer sind verzweifelt: Sie stehen einem riesigen Aufgebot
gegenüber. Mit rund tausend Mann ist die SS angerückt. Sämtliche Häuser
werden durchsucht. Wen die Polizisten auf der Straße antreffen, den
verhaften sie und sperren ihn in die Turnhalle für den Abtransport nach
Hannover ein.
Rote Flugblätter mit dem Evakuierungsbefehl hängen auch in Wetten,
Twisteden und Kleinkevelaer. „Sämtliche Personen, die ohne gültigen
Ausweis angetroffen werden, werden sofort festgesetzt und ohne Gepäck
abtransportiert. Sämtliche Geschäfte haben ab 6.2.1945 den Verkauf
einzustellen.“ Der Befehl ist von Oberstleutnant Martin unterzeichnet.
„Weibliche Personen haben keine Berechtigung mehr, sich in Kevelaer
aufzuhalten. Der Landrat hat die Gültigkeit der roten Ausweise für
weibliche Personen widerrufen. Sie verlieren ab sofort ihre Gültigkeit.“
Es sind überwiegend Frauen mit ihren Kindern, die die Rest-Bevölkerung
bilden. Ihre Männer an den Fronten ahnen nichts davon, wie mit ihren
Familien in der Heimat umgesprungen wird. Viele erfahren es nie, denn
sie werden nicht zurückkehren. In der Endphase werden mehr Soldaten
sterben als im gesamten Kriegszeitraum bis Ende 1944.
An diesem Montag gibt auch Pfarrer Coenders auf, der den
Ausweisungsbefehl bisher nicht befolgt hat und in Kevelaer geblieben
ist. „Am 5. Februar teilte mir morgens Polizeileutnant Herbst mit, wenn
ich bis Abend Kevelaer nicht verlassen hätte, würde ich verhaftet“,
schreibt er in seinen Erinnerungen. Der Geistliche findet am Mittag
Aufnahme bei der Familie Deckers in Kervendonk. Ihr Haus ist bereits
stark belegt, unter anderem mit deutschen Frontsoldaten. Trotzdem: „Nach
all den Drangsalierungen in Kevelaer fühlten wir uns in Kervendonk recht
glücklich, zumal Vater Deckers uns abends sagte: Wenn ihr nachts mal
Flugzeuge hört, braucht ihr nicht aufzustehen, hier ist noch nichts
passiert.“
Es ist der Tag, an dem in Pömmelte bei Magdeburg ein Junge zur Welt
kommt, der als Kommunalpolitiker in Kevelaer bekannt werden wird: Horst
Blumenkemper.
Neue Kriegsopfer aus Kevelaer und Umgebung sind zu beklagen. Auf der
Fahrt an die Ostfront verliert sich jede Spur von Anton Scholten (37
Jahre, Twistedener Str. 280). In Regensburg wird der Winnekendonker
Schreinermeister Arnold Martens (37, Kervenheimer Str. 140) bei einem
Luftangriff am 5. Februar getötet.
6. Februar 1945
Die Straßen in Kevelaer, Wetten und Twisteden werden von Polizeistreifen
überwacht. Wer sich durch Flucht über die Niers in die grüne Zone dem
Abtransport hat entziehen können, hofft auf heimliche Rückkehr in seine
Wohnung. Aber die Niersbrücken werden scharf bewacht. In Kevelaer halten
sich jetzt kaum mehr als hundert Zivilisten auf.
Sechs Frauen aus der Wallfahrtsstadt wollen nach Winnekendonk flüchten,
um ihrem Abtransport in den Raum Hannover zu entgehen. Dabei helfen
ihnen deutsche Soldaten. Sie verstecken die Frauen unter der Plane eines
Lastwagens der Wehrmacht. Das Auto wird an der Niersbrücke von
Wachposten angehalten. Sie hätten Munition geladen, erklären die
Soldaten. Der Wagen wird durchgewinkt.
Auch eine andere Kevelaererin, die zwangsweise nach Hannover gebracht
werden soll, hat Glück. Sie bettelt auf Knien vor den Brückenposten,
nach Winnekendonk durchgelassen zu werden, wo ihre Kinder untergebracht
seien. Die Frau darf passieren.
In der Weezer Krankenhauskapelle wird der letzte Gottesdienst gefeiert.
Bei der Kommunion werden alle konsekrierten Hostien unter den Gläubigen
aufgeteilt. Das Licht verlöscht.
Es ist der Tag vor dem Großangriff auf Goch, bei dem auch Weeze und
Umgebung bombardiert werden. Er wird als „Nacht des Grauens“ in die
Geschichte eingehen.
7. Februar 1945
Am späten Abend nimmt Artillerie ihre Ziele pausenlos unter Beschuss.
Wer jetzt noch in Weeze lebt, gerät in Panik und flüchtet aus Haus und
Wohnung. Ständig kreisen Jagdbomber über Weeze. Häuser krachen ein,
andere brennen wie Fackeln. Vier Menschen sterben in den Trümmern. Die
St.-Cyriakus-Kirche steht noch. Aber nicht mehr lange. Deutsche Soldaten
werden sie auf ihrer Flucht in die Luft sprengen. Der Artilleriebeschuss
Weezes wird bis Kriegsende nicht mehr aufhören - bis zum Einmarsch der
Alliierten.
Die Operation Veritable, deren Auftakt die Vernichtung Kleves
und Emmerichs gewesen ist, schickt 900 schwere Bomber in die Schlacht.
Kleve, das Tor zum Niederrhein, ist geöffnet. Mehr als 2000 Tonnen
Sprengbomben und Luftminen geben der Kreisstadt den Rest.
Gleichzeitig
brennt Goch. Bei dem Großangriff, der um 21 Uhr beginnt, wird die Stadt
niedergemacht. In den Trümmern finden 30 Einheimische und 150
Zwangsarbeiter, hauptsächlich Russen, aber auch Holländer und Italiener,
die zu Schanzarbeiten hergebracht worden sind, den Tod.
Goch am 20. Februar 1945.
Foto aus: Heinz Bosch, Der zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas.
S. 203
Sie sterben unter der einstürzenden Berufsschule. Die leeren
Luftschutzräume haben sie nicht betreten dürfen - obwohl die Gocher
Bevölkerung längst evakuiert ist. Auch für dieses Verbrechen der
Deutschen, begangen an der Heimatfront, wird niemand zur Rechenschaft
gezogen werden.
Die Bomben, die Goch gelten, fallen im weiten Umkreis. Altkalkar wird
schwer in Mitleidenschaft gezogen, verheerende Schäden auch in Uedem,
Qualburg, Keppeln, Louisendorf und Weeze. Noch in Geldern ist das
Zittern der Erde zu spüren. „Der Himmel war von Kleve bis Weeze
blutrot“, vermerkt ein Augenzeuge.
Menschen in Kervenheim, noch nicht direkt bedroht, hören es prasseln und
knallen. „Es war, als ob ein riesiges Unwetter uns von allen Seiten
umgäbe“, notiert Elisabeth Ebe-Jahn in ihren Erinnerungen der letzten
Tage in Kervenheim. „Wir selbst befanden uns auf einer nachtschwarzen
Insel und erwarteten jede Minute unser Ende. Eine Handvoll jämmerlich
verwirrter Menschen saß da herum, vertrieben aus dem Paradies des
staatenlosen Zustandes.“ Und: „Noch in der Nacht packten wir alles
zusammen, was wir für lebensnotwendig hielten. Nachdem noch eine zweite
Bombenwelle, die genau wie die erste 20 Minuten dauerte, die Häuser zwar
erzittern ließ, aber das Dorf schonte, war um drei Uhr Ruhe. Zum letzten
Mal legten wir uns schlafen auf unserer einsamen Insel im alten Reich,
für zwei Stunden.“
Die Fenster des Bauernhofs Deckers in Kervendonk, wo Pfarrer Coenders
untergekommen ist, klirren. Die Bewohner stürzen nach draußen, weil sie
Bomben auf das Haus befürchten. Sie verkriechen sich in Gruben, unter
Hecken und Sträuchern, so als seien sie hier sicher. In ihrer Angst um
ihr Leben erteilt der Geistliche den Hofbewohnern die Generalabsolution.
Noch in dieser Nacht wird Kervendonk unmittelbar angegriffen. Wer kann,
flüchtet in einen Keller. Auf dem Deckershof ist es der Kartoffelkeller.
„Dort erwarteten wir laut betend jeden Augenblick das Schlimmste“,
erinnert sich Pfarrer Coenders. Als der Angriff vorüber ist, liegt ein
deutscher Soldat tot neben der Hundehütte des Hofs. Eine Ecke des
Vorderhauses ist weggerissen. Es ist nicht mehr bewohnbar.
Noch vor Mitternacht beginnt das Feuer der britischen Artillerie auf die
Bahnstrecke Kleve-Geldern und die wichtigsten Verbindungsstraßen. Weeze
ist längst sturmreif geschossen. Die wenigen verbliebenen Familien
flüchten nach Wissen, wo sie in der Notgemeinschaft um Isabelle Gräfin
von Loë in einem der Kellerräume der Schlossanlagen Schutz finden.
Über Winnekendonk stürzt am späten Abend eine viermotorige Halifax III
ab, die zum 77. Squadron der britischen Streitkräfte gehört. Sie ist
nicht abgeschossen worden, sondern mit einem anderen britischen Flugzeug
kollidiert. Alle acht Besatzungsmitglieder kommen ums Leben. Die jungen
Männer werden zunächst in Winnekendonk beerdigt. Nach dem Krieg werden
sie zum Ehrenfriedhof im Reichswald umgebettet werden.
Am 7. Februar stirbt im Lager Diwastopol am Dnjester ein 19-Jähriger aus
Winnekendonk. Es ist Franz Janssen vom Spanshof, seit Herbst 1943 Soldat
und zuletzt Kriegsgefangener der Sowjetunion.