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Kapitel 1

1. Februar 1945

Hans Willems, 16 Jahre, fährt mit dem Zug von Sachsen-Anhalt nach Kevelaer. Er soll zu Hause nach dem Rechten sehen. Seit Oktober 1944, seit der Evakuierung der Familie, steht ihre Wohnung leer.

Ein Großteil der Bevölkerung ist ausquartiert; mehr als 300 Bürger haben sich den Evakuierungsbefehlen widersetzt. Sie wollen ihre Häuser nicht verlassen und haben größere Angst vor Polizei und SS, die zwangsweise räumen, als vor der herannahenden Front. Und sie fürchten sich vor den vielen Fremden, die der Krieg in die Stadt geschwemmt hat. Die Pfarrangehörigen sind von „lähmender Angst“ erfasst, wie Pastor Wilhelm Holtmann notiert. Sie wollen „um jeden Preis ausharren“.

Hierzu gehören vor allem jene Frauen, die nun schon seit Wochen allabendlich um 22 Uhr an der Gnadenkapelle den Rosenkranz beten - bei Regen, Schnee, grimmiger Kälte oder Fliegeralarm. Sie kommen und beten. Männer und Jugendliche schließen sich an, hin und wieder auch Soldaten. „Es war“, schreibt der Kevelaerer Pastor, „der letzte Protest gegen die Vergewaltigung durch die Nazis. Es war der unwillkürliche Aufschrei der gequälten Volksseele. Es war der Schrei zur Trösterin der Betrübten, zur Mutter.“

Sie ahnen oder wissen es, dass der verbrecherische Angriffskrieg der Deutschen nun auf die Verursacher zurückschlägt. Niederrheinische Städte werden seit Monaten von den Alliierten bombardiert. Wer hier bleibt, riskiert sein Leben. Trotzdem weigern sich Hunderte, die Stadt zu verlassen. Den meisten dieser Kevelaerer steht Schreckliches bevor: Sie werden rüde zwangsevakuiert werden. Und von denen, die sich verstecken können, werden etliche die Luftangriffe nicht überleben.

Quer durch den Reichswald sind drei Verteidigungszonen gezogen. Hier liegen schlecht ausgebildete Volkssturm-Männer, manche gerade erst 16 Jahre alt oder schon 60. Mit Karabinern und Panzerabwehrwaffen für den Nahkampf sollen sie die Alliierten aufhalten, die mit einer gewaltigen Materialwalze den Niederrhein aufzurollen beginnen.

Das Volkssturm-Bataillon 201 Kevelaer-Twisteden-Weeze-Wetten, etwa 300 Mann stark, wird nach einer Ausbildungszeit von weniger als einer Woche in das Feuer geschickt. Der 180. Division unterstellt, muss es den Westwall schützen. Andere Züge werden zur Ortsverteidigung von Kevelaer, Twisteden und Weeze eingesetzt. An Gewehr und Panzerfaust sind sie in der Schravelschen Heide zwei Stunden lang „ausgebildet“ worden. Sie tragen graue Militärjacken und die eigenen Hosen.

Der Volkssturm stemmt sich der Operation Veritable entgegen. Diese Großoffensive der Briten soll in drei Phasen bis zur Kampflinie Xanten-Geldern vorstoßen: Erstens Durchbruch durch den Reichswald im Gebiet des Materborner Höhenzugs, zweitens Einnahme von Goch, Uedem, Kalkar und Öffnung der Straße Gennep-Goch und drittens Einnahme von Walbeck, Geldern, Issum und Bönninghardt.

Kevelaer wird gar nicht erwähnt. Die Stadt ist, bis auf den über 90 Meter hohen Basilikaturm, nicht kriegswichtig.

Die Schlacht um den Niederrhein wäre anders verlaufen, nämlich kürzer und weniger blutig, wenn die deutsche Wehrmacht nicht junge Fallschirmjäger, überwiegend zwischen 18 und 20 Jahre alt, an die Front geworfen hätte. Die Nachwuchskämpfer fürchten weder Tod noch Teufel und geben sich selbst bei Aussichtslosigkeit nicht geschlagen. Die meisten von ihnen werden in den folgenden zwei, drei Wochen getötet.

Wesel muss am 1. Februar den ersten von zwei verheerenden Luftangriffen über sich ergehen lassen. Wegen seiner strategischen Bedeutung für die kriegswichtige Rheinüberquerung - ist Wesel erreicht, ist das Ruhrgebiet verloren, wissen nicht nur die Deutschen - werfen die Bomber alles ab, was sie in den Schächten haben. Die Stadt wird zertrümmert. Nach dem zweiten Angriff - am 10. Februar - wird es Wesel nicht mehr geben.

Zerstörungen solchen Ausmaßes kennen die Kevelaerer nicht aus eigenem Erleben. Zwar ist schrecklich genug, was hier einzelne Luftangriffe anrichten, aber Bombardements von monströser Dimension wie auf Wesel und schon bald auf Kleve und Goch, Emmerich und Rees werden Kevelaer erspart bleiben. Das gilt nicht für Kervenheim und Winnekendonk, wo fanatische Fallschirmjäger bis zur letzten Patrone kämpfen werden.

Am 1. Februar erhalten die Geistlichen in Kevelaer und Umgebung den Ausweisungsbefehl. Sie müssen innerhalb von 24 Stunden ihren Ort verlassen. In der Weezer St.-Cyriakus-Kirche wird nach der Taufe des Kindes Hedwig das Ewige Licht gelöscht.

Am selben Tag verliert im ostpreußischen Gottau Matthias Strompen (31 Jahre, Wettener Str. 201) sein Leben.

2. Februar 1945

Ein Fliegerangriff vom 2. Februar auf Kevelaer wird nirgendwo erwähnt, vielleicht, weil er „unbedeutend“ ist. Bei diesem Fliegerangriff stirbt der 81-jährige Johann Janhsen von der Gelderner Str. 67.

Vom selben Tag stammt das letzte Lebenszeichen des 36 Jahre alten Johann Reykers (Keylaer 77), der während eines Urlaubs verschollen ist. Ebenfalls im Februar - den genauen Tag kennen wir nicht - kommt Johann Vermeegen (20 Jahre, Winnekendonk, Kevelaerer Str. 25) in Mehlsack ums Leben. Ulrich Vorfeld (26 Jahre, Lindenstr. 17) wird seit Februar in Wuppertal vermisst. Gustav Wilhelm Klösters (32 Jahre, Gelderner Str. 200) stirbt in Schwetz/Polen. Gottfried Mewissen (Wetten) wird in Russland, Alfons Strelecki (23 Jahre, Brunnenstr. 62) in Litzmannstadt vermisst - beide ab Februar 1945. Im selben Monat stirbt Konrad Mölder (40 Jahre, Wember Str. 230) in einem Kriegsgefangenenlager in Russland. Die Angehörigen des Feldwebels werden das erst 16 Jahre später erfahren.

Lange Zeit nach dem Krieg, als die meisten Schicksale aufgeklärt sind, wird aus Vermutungen Gewissheit werden: Auch in Kevelaer und Umgebung ist die Liste der Kriegsopfer erschreckend lang. Es sind über 1.200 Tote, zumeist Soldaten, die an einer der Fronten gestorben sind.

Aber jetzt, am 2. Februar 1945, haben die gut 300 Kevelaerer, die sich noch in der Stadt aufhalten, den Eindruck, als käme ihre Heimat relativ ungeschoren davon. Von verirrten Artilleriegeschossen abgesehen, fühlt man sich in Kevelaer und Umgebung den Umständen entsprechend sicher.

Weil die Wasserversorgung zusammengebrochen ist, pumpen die Bewohner ihr Wasser aus einem Brunnen am Museum oder an der Pfarrkirche.

Das muss schnell gehen, und erwischen lassen darf man sich nicht: Überall lauert Polizei, um Bürger, die sich der Evakuierung widersetzt haben, festzunehmen und zügig abtransportieren zu lassen.

Das droht auch den Geistlichen - ihnen besonders, denn wenn sie den Befehl missachten, tun es auch ihre Pfarrangehörigen. Am Morgen des 2. Februar stellt ein Bote dem Priesterhaus einen Brief des Bürgermeisters Eickelberg zu: Alle Geistlichen müssen Kevelaer kurzfristig verlassen.

Kaplan Erich Bensch läuft mit dem Brief ins Rathaus, um vom Bürgermeister zu erfahren, was „kurzfristig“ heiße. Eickelberg klärt auf: Kurzfristig - das heiße, in zwei bis drei Stunden müssten alle verschwunden sein. Bensch ist entsetzt: Das Priesterhaus könne doch nicht sich selbst überlassen werden. Eickelberg lässt keinen Zweifel daran, dass der „von oben“ kommende Befehl befolgt werden müsse.

Bensch ist ebenso ratlos wie die anderen Bewohner des Priesterhauses. Weil Messwein im Krieg kaum zu beziehen ist, lässt Bensch etwa 300 der rund 1000 Messweinflaschen im Keller des Priesterhauses von vertrauenswürdigen Bauern auf Hüdderrath abholen und vergraben. Weitere 300 Flaschen werden nach Sonsbeck ins Krankenhaus gebracht. 45 Flaschen in einer großen Kiste lässt der Kaplan zum Bauern Gleumes auf dem Wettener Feld schaffen, wo Bensch dann - als Jäger getarnt - untertauchen wird.

Mit einem Teil des im Priesterhauskeller verbliebenen Weinvorrats hält sich der Kaplan am 2. Februar den Bürgermeister gewogen: Bensch bietet Eickelberg eine große Kiste Wein als Geschenk an, die sich der Bürgermeister bei Dunkelheit in seine Wohnung bringen lässt. Das Geschenk beflügelt Eickelberg, die Ausweisung so lange auszusetzen, „bis Sie neue Weisungen bekommen.“

Kaplan Bensch nutzt die gewonnene Frist, um möglichst viele Gegenstände und Dokumente aus den Zimmern des Priesterhauses in Sicherheit zu bringen.

Die Wein-Bestechung hält nur zwei Tage vor: Dann wird auch Kaplan Bensch auf der Fahndungsliste der Polizei mit dem Ziel der Ausweisung stehen.

Bensch bleibt auf dem Gleumes-Hof unentdeckt. Von hier wird er sich im Lauf der folgenden Wochen jeweils am frühen Morgen nach Kevelaer schleichen, um mit Hilfe des Friedhofgärtners Jan Baldeau insgesamt etwa 100 Toten ein christliches Begräbnis zu geben. Auf dem Gleumes-Hof wird er regelmäßig mit den Gläubigen von den Nachbarhöfen die heilige Messe feiern, zweimal in der Woche auch in der Wohnung der Familie Pier an der Johannesstraße in Kevelaer.

Grünuniformierte SS-Leute jagen die ihrer Meinung nach Uneinsichtigen. Am 2. Februar klopfen sie an der Friedenstraße an die Haustür der Froitzheims. Kaplan Johannes Real feiert mit der Hausgemeinschaft gerade eine heilige Messe. Nach ihm wird bereits gefahndet, weil er der Ausweisung nicht Folge geleistet hat. Real ist in der Innenstadt untergetaucht.
Die Polizisten können abgewimmelt werden. Noch in der selben Nacht begibt sich Johannes Real mit der Froitzheim-Familie zu Wilhelm Polders II. an der Hauptstraße, wo sie und weitere Freunde Unterschlupf finden. Hier werden sie das Kriegsende erleben.

In jener Nacht, wenige Stunden zuvor, entfesselt sich in Kleve ein Inferno. Die Luft scheint zu brennen. Bomben hinterlassen rot aufglühende Krater, Erde spritzt in Fontänen hoch, grell leuchtender Phospor fliegt vom Himmel. Es ist 23 Uhr und taghell. Die Detonationen, unter denen Kleve versinkt, dröhnen bis weit ins Unterland.

Zerstörtes Kleve
Kleve nach dem zweiten Luftangriff am 13. Februar 1945.
Foto aus: W. Michels/P. Sliepenbeek, Niederrheinisches Land im Krieg, Abb. 79

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