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INHALTSVERZEICHNIS |
Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Wallfahrtsstadt
Die Stadt Kevelaer hatte sich 1969 wesentlich
verändert. Sie war um das Doppelte über sich hinaus gewachsen, als die
Nachbargemeinden Winnekendonk, Kervendonk und Kervenheim, Wetten,
Twisteden und Kleinkevelaer im Zuge der Kommunalen Neugliederung ihre
Selbstständigkeit verloren und zusammen mit dem Wallfahrtsort, der als
Zivilgemeinde ebenfalls aufgelöst wurde, die neue Stadt Kevelaer
bildeten. Nicht das Größenwachstum hatte die entscheidende Veränderung
Kevelaers ausgelöst, sondern die politische Kräfteverschiebung im
Stadtrat. Bestand er bis 1969 ausschließlich aus Kommunalpolitikern, die
im Gnadenort zu Hause waren, rekrutierte er nunmehr die Hälfte der
Ratsmitglieder aus benachbarten Ortschaften. Das konnte für das
Jahrhunderte alte „Kevelaerer Grundgesetz“, dass sich die Politiker bei
ihren Entscheidungen an dem Primat der Wallfahrt zu orientieren hatten,
nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Folgen verbargen sich lange Zeit
vor dem allgemeinen Bewusstsein. Sie zeigten sich zum ersten Mal
offenkundig im Jahr 1983, dem Jahr, als die
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Paal-Ära begann.
Im Mai 1983 bat Stadtdirektor Dr. Karl-Heinz Röser den Rat, ihn
vorzeitig zum 31. Januar 1984 in den Ruhestand zu entlassen. Daraufhin
wurde die Stelle ausgeschrieben.
Verabschiedung des Stadtdirektors Dr. Karl-Heinz Röser. Rechts seine Frau Maria, im Hintergrund Rösers Nachfolger Heinz Paal (l.) und CDU-Bundestagsabgeordneter Dr. Jochen van Aerssen.
Nach einer internen Probeabstimmung wurde Stadtkämmerer und Beigeordneter Heinz Paal von einer klaren Mehrheit der CDU-Fraktion ermuntert, sich um die Nachfolge von Röser zu bewerben. Paal, so wusste jeder Insider, war der eindeutige Favorit. Er konnte mit einer breiten Mehrheit im Stadtrat rechnen, weil auch aus der zwölfköpfigen SPD-Fraktion Zustimmung signalisiert worden war.
Paals persönliche Lebenssituation, dass er nach Scheidung wieder geheiratet hatte, spielte durchaus eine Rolle. Das kirchenrechtliche Problem wurde als mögliches Hemmnis im erquicklichen Miteinander von Stadt und Kirche innerhalb der CDU-Fraktion und darüber hinaus besprochen. „Aber“, so schrieb ich am 3. Juni in einem Beitrag im KB, „was für einen kirchlich getragenen Tendenzbetrieb gilt, nämlich die Übereinstimmung mit Kirchengesetzen als Geschäftsgrundlage für den Arbeitsvertrag, wollte und will die überwältigende Mehrheit der CDU-Fraktion nicht auf die Stadtverwaltung übertragen wissen.“
Eine kleine Minderheit in der CDU warb in nichtöffentlichen Sitzungen und Besprechungen um Verständnis dafür, dass das Kirchenrechtsproblem starkes Gewicht für ihre Gewissensentscheidung habe. Mit dem gleichen Recht, mit dem die Mehrheit Heinz Paal zur Kandidatur eingeladen hatte, bat die Minderheit nun einen anderen Kevelaerer, einen ebenso verdienstvollen und fähigen Mann, sich grundsätzlich zu einer Bewerbung bereit zu erklären.
Der Kandidat der Minderheit war > Hans Broeckmann, Ortsvorsteher in Wetten und langjähriger Fraktionschef der CDU. Dem Diplom-Volkswirt wurde das Amt eines Stadtdirektors durchaus zugetraut, aber die meisten seiner Fraktionskollegen empfanden es als kritikwürdig, dem weitgehend von der CDU getragenen Kandidaten Paal einen Konkurrenten aus den eigenen Reihen vorzusetzen.
Hans Broeckmann.
Die Fraktion pfiff die Minderheit und ihren Kandidaten nicht nur zurück, sie sprach Broeckmann - bei vier Enthaltungen - auch ihre Missbilligung seiner Bereitschaft zur Kandidatur aus: Er, Broeckmann, habe sich zuvor mit > Heinz Ingenpaß wortstark für den Bewerber Paal eingesetzt. Nun könne er nicht gegen ihn antreten.
Dieser interne Vorgang blieb nicht geheim. Die Tatsache, dass sich innerhalb der CDU-Fraktion Widerstand gegen Paal rührte und eine kleine Gruppe sogar einen Gegenkandidaten ins Rennen schicken wollte, war von öffentlichem Interesse, weshalb ich am 3. Juni den Vorgang - ohne Broeckmanns Namen zu nennen - im Kävels Bläche aufgriff. In der CDU-Fraktion reagierte man mit Entrüstung auf den Beitrag - es sei eine „Schweinerei“, dass jemand den KB-Redakteur informiert habe.
Auf die Ausschreibung der Stelle bewarben sich außer dem Favoriten Paal neun weitere Personen. Vier, darunter Paal, wurden zur Vorstellung ins Rathaus eingeladen. Einer zog seine Kandiatur zurück, ein anderer konnte den Termin nicht einhalten. Am Tag der Vorstellung verabschiedete sich um 10.30 Uhr ein dritter Kandidat. Übrig blieb als einziger - Heinz Paal.
Für den Pfarrer von St. Marien, Wallfahrtsrektor > Richard Schulte Staade, war das kirchenrechtliche Problem - Wiederheirat nach Scheidung - Anlass, in einem vierseitigen Brief an die CDU-Ratsmitglieder Einfluss auf die anstehende Stadtdirektorenwahl zu nehmen.
Richard Schulte Staade: versuchte Einflussnahme.
Der Versuch der Einflussnahme mit dem Ziel, Paals Wahl zu verhindern, wurde in der CDU-Fraktion mit Empörung zurückgewiesen: Der Pfarrer „überschreitet seine Kompetenzen“ und „nimmt unzulässigen Einfluss auf eine Ratsentscheidung“. Ich schaltete mich mit einem Kommentar ein: Der Dechant habe nichts anderes getan, als den bekannten Standpunkt seiner Kirche zur Wiederheirat nach Scheidung darzulegen.
An der Wahl Paals, des einzigen Bewerbers, konnte die Intervention des Geistlichen ohnehin nichts mehr ändern: 26 Ratsmitglieder votierten am 3. Oktober 1983 in geheimer Abstimmung für den Kevelaerer, 13 enthielten sich der Stimme.
Stadtdirektor Heinz Paal: vereidigt durch Bürgermeister Karl Dingermann.
Damit war Paal für Dauer von acht Jahren ins Amt des Stadtdirektors von Kevelaer gewählt. Bürgermeister > Karl Dingermann bat darum, die Personaldiskussion jetzt abzuschließen und die klare Entscheidung des Stadtrates zu respektieren.
In der alten Stadt Kevelaer, so wie sie bis zur Kommunalen Neuordnung existierte, wäre Paal nicht wählbar gewesen. Der Jahrhunderte währende „Primat der Wallfahrt“ in der Politik endete 1969, als der Stadtrat zur Hälfte mit Ratsmitgliedern aus dem Umland besetzt wurde, das diesen Primat weder kannte noch akzeptierte. Die längst eingetretene „Emanzipation des Rathauses gegenüber dem Priesterhaus“ zeigte sich vor aller Öffentlichkeit 14 Jahre nach der Neuordnung - bei Paals Wahl zum Stadtdirektor. Es war zugleich das letzte Mal im Wallfahrtsort Kevelaer, dass in öffentlicher Diskussion politische Entscheidungen an den Positionen der Kirche überprüft wurden. Die Trenngrenze zwischen dem politischen und dem kirchlichen Zentrum in Kevelaer war aufgezeigt, der Paradigmenwechsel in der Stadtpolitik vollzogen.
In den nächsten Jahrzehnten lernten beide Seiten die „Eigenständigkeit in friedlicher Koexistenz“ schätzen - zum Nachteil des Gnadenorts, wie wir vom Kävels Bläche empfanden. Das war der Beginn einer nachhaltigen Spannung zwischen der KB-Redaktion und dem Priesterhaus auf der einen und dem Rathaus auf der anderen Seite, die sich erst mit dem Austausch der beiden Spitzen - Dr. Stefan Zekorn für Richard Schulte Staade und Dr. Axel Stibi für Heinz Paal - auflösten.
Am Ende der Ära Paal waren die einstigen Vorbehalte längst Geschichte. Als sich der Stadtdirektor im Jahr 1999 anschickte, hauptamtlicher Bürgermeister und damit nicht nur Verwaltungschef, sondern auch politischer Repräsentant der Wallfahrtsstadt zu werden, spielten die kirchenrechtlichen Vorbehalte aus dem Jahr 1983 keinerlei Rolle mehr. Heinz Paal, der im Zenith seines Ansehens stand, konnte längst sicher sein, dass ihm Pfarrer Richard Schulte Staade keine Steine in den Weg legen würde.
Paal und Schulte Staade begegneten sich mit gegenseitiger Hochachtung. Und eine der letzten großen Ratsentscheidungen unter Paals Vorsitz war im Mai 2002 die Ernennung des Pfarrers zum Ehrenbürger der Stadt Kevelaer.
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© Martin Willing 2012, 2013