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INHALTSVERZEICHNIS |
Nachdem ersten KB-Jahr wussten wir: Wir sind Kevelaerer
Das Kävels Bläche war seit 1879 eine Heimatzeitung, die sich nur um das Geschehen im Ort kümmerte. Die Nachbarn Geldern und Goch spielten in den Zeitungsspalten des KB keine Rolle, und Kreispolitik hatte dort erst rechts nichts zu suchen. In dieser Tradition redigierten wir das „Kevelaerer Blatt“ nach der Übernahme des Verlags und stellten doch schon bald fest, dass eine Beschränkung auf „rein Kevelaerer Themen“ kaum durchzuhalten war. Außerdem empfanden wir es wegen der intensiven Verzahnung von Orts- und Kreispolitik als selbstverständliche Journalistenpflicht, die Leser über Zusammenhänge, so sie sich ergaben, zu informieren. Hinzu kam, dass sich Kevelaerer Politiker zunehmend auch auf Kreisebene engagierten.
Im März 1981 wanderte der Kevelaerer Bundestagsabgeordnete Helmut Esters nach Kleve ab. Er hatte die SPD-Fraktion im Stadtrat Kevelaer geführt, die nun Winfried Janssen übernahm, und sollte Chef des SPD-Unterbezirks in der Kreisstadt werden. Auch der Vorsitzende des CDU-Stadtverbands Kevelaer, > Peter Roosen, war auf dem Sprung in die Kreispolitik. Er hatte sich schon im Februar zum stellvertretenden Kreisvorsitzenden wählen lassen - an der Seite von > Heinz Seesing, der > Hans Pickers als CDU-Kreisparteichef abgelöst hatte.
Und noch ein Kevelaerer Politiker, der fern der Heimat für Schlagzeilen sorgte, beschäftigte uns in den KB-Zeitungsspalten: > Dr. Jochen van Aerssen, zur Zeit noch Bundestagsabgeordneter der CDU, hatte sich zum Verdruss seiner sich vernachlässigt fühlenden Basis im Wahlkreis der Weltpolitik zugewandt und war auf örtlichen Terminen kaum noch präsent. Ich griff die sich immer mehr zuspitzende Kritik an dem Abgeordenten, der auf Parteiveranstaltungen im Kreis Kleve fast immer mit „Herr Dr. van Aeerssen lässt sich entschuldigen“ begrüßt werden musste, auf und brachte - anlässlich einer China-Reise des Kevelaerers - in der KB-Ausgabe vom 9. Oktober 1981 einen Kommentar, der mit „Unser Mann in China“ überschrieben war. Die Überschrift sollte zum geflügelten Wort werden.
Es war die erste publizistische Salve gegen den Politiker in einer Kreis Klever Zeitung, für den öffentlich geäußerte Kritik unbekannt war: „Es wird Zeit, daß der Kreis Kleve wieder ein CDU-Bundestagsabgeordneten bekommt, der unsere Probleme kennt. Dann kann sich van Aerssen ruhig um die Welt kümmern".
Dr. Jochen van Aerssen.
Der Kommentar war in der Sache gerechtfertigt. Aber ich hätte ihn so nicht geschrieben, wenn ich auch nur ansatzweise geahnt hätte, dass dieser Mensch bereits in Selbstüberforderung und Selbstüberschätzung verstrickt war, von Karrieresprung zu Karrieresprung tiefer in die Vereinsamung abdriftete, schließlich alkoholkrank wurde und - nachdem ihn seine Partei nicht mehr als Kandidaten für das Europaparlament aufgestellt hatte - 1992 aus dem Leben schied und seine drei Kinder, die ihre Mutter bereits verloren hatten, zurückließ.
Ich hatte die Familie in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre einmal in ihrem Ferienhaus im Schwarzwald besucht. Mit einem aufgeräumten Jochen van Aerssen, mit seiner liebeswürdigen Frau Ulrike und ihren netten Kindern verbrachte ich einen schönen Urlaubstag. Diese idyllische Normalität des Privatmannes Jochen van Aerssen steht in meinem Gedächtnis wie ein Konstrastprogramm zu dem öffentlichen Bild, das der Kevelaerer Landes-, Bundes- und Europapolitiker von sich inszenierte.
Als er schon einer der führenden Parlamentarierer im Europaparlament war, lud er mich einmal ein, ihn auf einer seiner „üblichen Arbeitsreisen“ zu begleiten, um den Menschen in seinem Wahlkreis davon zu berichten. Wir flogen nach Brüssel, wo van Aerssen ein paar politische Gespräche führte, am selben Tag weiter nach Paris, wo der Deutsche, der sich auf Englisch und Französisch unterhalten konnte wie in seiner Muttersprache, eine Pressekonferenz zu einem aktuellen Thema aus der Europapolitik gab. Da präsentierte er sich wie ein Staatsmann vor der internationalen Presse, beobachtet von einem Lokaljournalisten aus der niederrheinischen Provinz, dort wo seine Basis zu Hause war, die ihm auf seinem Steilflug in die Sphären der ganz großen Politik nicht folgen konnte. Ich kehrte mehr irritiert als beeindruckt in die Redaktion zurück. Erst später begriff ich, dass Jochen van Aerssen im Begriff war, die Bodenhaftung zu verlieren.
Vielleicht war es zunächst nur Glück, dass Delia Evers und ich bei unseren journalistischen Ausflügen über Kevelaer hinaus nie die enge Beziehung zu unseren Stammlesern, den in dieser Stadt lebenden Menschen, auf‘s Spiel setzten. Dabei half uns ein gewachsene Gespür für die Bedeutung des Wallfahrtsorts, auch wenn wir nur gelernte Kevelaerer waren. Wir ließen zu, dass die Leser merkten, wie sehr wir mit Herzblut für sie und den Gnadenort arbeiteten. Als Stadtdirektor > Dr. Karlheinz Röser seinen 60. Geburtstag hatte, schrieb ich in der letzten Ausgabe des Jahres 1981 eine Würdigung in Form eines Briefes, der mit „Lieber Herr Dr. Röser“ begann. Röser, das unterstreiche ich noch heute, war als Verwaltungschef ein Glücksfall für die Stadt.
Wie eng wir mittlerweile auch emotional mit Kevelaer verwurzelt waren, wurde Delia Evers und mir am Mittwoch, 13. Januar 1982, schlagartig bewusst. Wir hörten zur Mittagszeit Feuerwehrsirenen, stürzten aus den Redaktionsräumen, liefen die wenigen Meter bis zur Kreuzung vor der St.-Antonius-Pfarrkirche und sahen, mitten in einer immer größer werdenden Menschenmenge, wie das große Gotteshaus ein Raub der Flammen wurde. Die Hitze sprengte die Dachschindeln weg - da schossen die Flammen gen Himmel, und augenblicklich später hatte das Feuer Besitz von der ganzen Kirche ergriffen. Der Dachstuhl stürzte herab und entzündete das Innere des Gotteshauses. Um die Spurensicherung nicht zu erschweren, verwehrte die Kriminalpolizei jedem der Zutritt zur ausgebrannten St.-Antonius-Kirche, auch jenem Helfer, der Hostien aus der Sakristei holen und sichern wollte.
Was die Bomben in den letzten Kriegsmonaten angerichtet hatten, wiederholte sich an diesem Mittwoch innerhalb von zwei Stunden. Das verheerende Feuer war nicht zu löschen, die Kirche nicht zu retten. Bis auf die Sakristei brannte sie völlig aus.
Die brennende St.-Antonius-Kirche: Nicht mehr zu retten.
Der stark qualmende Brand im Dachstuhl
der Kirche war erst entdeckt worden, als sich die ersten Schwaden den
Weg ins Freie gepresst hatten.
Wie Delia Evers die Brandkatastrophe erlebte, erzählte sie am nächsten
Tag im Kävels Bläche:
Mitten auf der Straße steht eine alte Frau, preßt ihre Hände vor‘s Gesicht und weint hemmungslos. Menschen rennen an ihr vorbei und sind ganz mit ihrem eigenen Entsetzen beschäftigt. Die Kirche brennt.
Dieser Anblick quält und schmerzt tief im Inneren, denn die Kirche ist nicht allein totes Gemäuer - die Kirche schenkt Schutz und Geborgenheit und Kühle und Stille. Und steht unversehends selbst schutzbedürftig mit lodernden Wänden im Lärm der Menschen, die das Gotteshaus retten wollen.
Schwarze Rauchschwaden ziehen einen häßlichen Strich gegen den wolkenlosen Himmel. Nur manchmal recht sich das Turmkreuz durch die dicken Nebel.
Am Fuß der Kirche treffen Löschzüge ein. Und Augenblicke lang herrscht Verwirrung, weil zwei stämmige Eisenpfosten die Zufahrt zum Kirchhof versperren. Ein schnell entfachtes Feuer reicht nicht, um die eingefrorenen Stangen loszueisen. Erst ein Schneidbrenner schafft die Arbeit. Auch die Brunnen sind zugefroren und es dauert bis endlich Wasser fließt.
Es ist 13 Uhr, und nur wenige Minuten sind vergangen, seit Maria Stassen die Polizei alarmiert hat und den Pastor. Sie rennt mit ihrem Mann über die Straße durch das Hauptportal und versucht zu retten. Schon ganz vorn werden die Helfer von Rauchschwaden zurückgeworfen. Zusammen mit Pastor Coenen räumen sie wenigstens die Sakristei. Doch diesesn Raum, ihn allein, rührt das Feuer nicht an.
Minutenlang hängt über dem Dachstuhl der Qualm. Dann brechen die ersten Flamen durch, schlagen aus dem Turm und aus dem Kirchenschiff. Schindeln fliegen wie Kometen mit langem Schweif durch die Luft und knallen auf den Vorplatz; die Flammen schlagen aus den Fenstern, und Tauben, die vor dem schwarzen Himmel weiß sind, suchen vergebens ihre Unterkunft.
Hunderte von Menschen umrunden die Kirche. Viele erleben stumm den Brand wie das Sterben eines Freundes.
Von allen Seiten sind Wasserfontänen auf das Gotteshaus gerichtet, und langsam verzieht sich der Qualm - Hoffnung keimt auf, bis mit einem leisen Puffen plötzlich der Dachstuhl über dem Kirchenschiff zusammensackt und ins Innere stürzt.
Im Inneren sieht die ehrwürdige St. Antoniuskirche „schlimmer aus als 1945“, wie es ein älterer Feuerwehrmann ausdrückt. Verkohlte Skulpturen vom Brand zerfressene Betbänke, ein zu einem schwarzen Nichts verschmorter Opferstock, daneben etwas, was einmal das Schriftenregal gewesen ist. Die Feuerwehrmänner arbeiten hier in der zerstörten Kirche unter hoher Gefahr. Alle Augenblicke knallen Balken und Steine herunter. Der Altarraum taucht als dunkle Höhle aus Rauchschwaden auf. Das große Kreuz der Kreuzigungsgruppe hat seine scharfe Kontur behalten, mehr aber nicht.
Die Polizei drängt die Menschen in der Hauptstraße zusammen, weil die Feuerwehr Platz braucht für weitere Einsätze. Die ganze Innenstadt ist jetzt gesperrt. Drei Drehleitern recken sich in den Himmel, und hoch oben in Körben hängen Menschen, die hin und wieder im Rauch verschwinden und Wasserfontänen in den Brandherd lenken.
Ihre Arbeit konzentriert sich ganz auf den Turm, dessen angefressene Balken einzustürzen drohen. Für Augenblicke bläst der Wind das Turmkreuz frei und treibt die Rauchwolken vor der Sonne her, die sich wie eine Scheibe abzeichnet. Ganz langsam reißt die Dachrinne und nimmt Dutzende von Schindeln den Halt. Ein Feuerwehrmann springt in letzter Sekunde zur Seite. Über dem großen Stirnfenster zeigt sich im Mauerwerk ein häßlicher Riß.
In der Polizeiwache wird derweil ein alter Mann vernommen, der sich am Portal der Kirche aufhielt, als der Brand entdeckt wurde. Er wollte beten, sagt er, und dann seine Frau im Krankenhaus besuchen. Die Beamte glauben ihm. Und der Mann geht.
Der Qualm hat sich zurückgezogen. Und die Flammen ersticken im harten Wasserstrahl, der auch die Schindeln vom Dach fegt.
Rund um die Kirche streuen städtische Arbeiter Salz, weil das Löschwasser überall auf dem Boden zu Eis verkrustet. In den Bäumen hängen die Zweige voll bizarrer Kristalle, und an den Schuhen der Wehrmänner wachsen Eiszapfen, ihre Hände umklammern die Schläuche und werden vor Kälte ganz steif.
Fast zwei Stunden harren die Menschen aus, warten mit banger Furcht auf den Sturz des Kirchturms. Aber der Kirchturm hält. Als die Flammen erstickt sind, reckt er sich schwarz in den Himmel. Obenauf das Turmkreuz.
Es gibt wohl keine zweite Ausgabe des Kävels Bläche in seiner über 130-jährigen Geschichte, die so schnell vergriffen war wie die Nr. 2 vom 14. Januar 1982. Die Kevelaerer waren durch den Verlust ihrer ältesten Pfarrkirche geschockt. In der KB-Redaktion und in der vorgelagerten Buchhandlung ging es zu wie im Taubenschlag. Immer wieder wurde nachgefragt, wie das geschehen konnte.
Als wir keine Zeitung mehr hatten, entschlossen wir uns, alle neuen Informationen auf einem Flugblatt zusammen zu fassen, und verteilten es. Vor dem Köster-Laden bildete sich eine lange Warteschlange von Menschen. In unserer Druckerei wurde das Flugblatt pausenlos vervielfältigt, bis alle Interessenten versorgt waren. Viel Neues gegenüber unserem aktuellen Bericht in der Zeitung gab es nicht, aber immerhin wusste man nun, wie das Feuer entstanden war: Kinder hatten im nördlichen Seitenchor die Weihnachtskrippe angezündet.
Noch am Abend des Unglückstags war der Kirchenvorstand zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen getreten. Er fasste den Entschluss, die Kirche wieder aufzubauen.
Seit dem Brand der St.-Antonius-Kirche, deren Zerstörung wir fassungslos zuschauen mussten, wussten Delia Evers und ich:
Wir waren Kevelaerer geworden.
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© Martin Willing 2012, 2013