Kevelaer-Wallfahrt ganz persönlich | Teil IV

Ludger Schmitz ist die 349. Wallfahrt der Kölner Kevelaer-Bruderschaft von 1672 an der Basilika St. Kunibert, mitgegangen. Lesen Sie hier den Schlussbericht seiner Wegbeschreibung.

Klosterkirche an der Sonnenstraße

Nur wenige 100 Meter sind es bis zu meiner nächsten Jugendkirche in Kevelaer. Ich gehe ein kleines Stück Kreuzweg, grüße das Grab meiner Eltern und meines Bruders Georg auf dem angrenzenden Friedhof und bin schon am Portal von Will Horstens Klosterkirche der Clemensschwestern. Ich ziehe das schwere Portal auf und zwänge mich durch. Ich setze mich und werde still.

Mein Blick schweift über den tiefer liegenden Altar und den Priestersitz zu dem vollkommen leeren Chorraum. Und hinter diesem vollkommen leeren Chorraum das riesige Relief, das die Wand bedeckt, eine geordnete Welt von Rechtecken und Quadraten, manchmal gefüllt mit Tropfenformen oder Brotlaiben. Und in der Mitte des Reliefs ein Kristall, von hinten durch Tageslicht beleuchtet.

Geordnete Welt von Rechtecken und Quadraten... (Archivfoto)

Der Sohn des Goldschmieds, „Yen“ van Ooyen, klopfte hier in einem Gottesdienst das Glaubensbekenntnis auf seine Aussagen hin ab, wir schufen ein Hörspiel über einen trampenden Jugendlichen, der das „Kaff“ verließ (Kevelaer war gemeint), um das wirkliche Leben kennen zu lernen. Unser technisch versierter Kaplan hatte mit uns Autogeräusche aufgenommen, die wir den Texten unterlegten. Wir fühlten uns ernst genommen, wir waren Beteiligte am Gottesdienst, uns wehte der Wind des II. Vatikanums um die Nase!

Herausfordernd liegt das Lektionar auf dem Lesepult. Ich gehe hin, lese laut vor, höre dabei mir selbst zu.  Es ist anders als vor 50 Jahren! Der biblische Text hat die größere Wucht und die tiefste Tiefe an diesem tiefsten Ort der Kirche vor den ansteigenden leeren Rängen.

Beim Herausgehen kriege ich einen Schreck: Wo ist Will Horstens Kreuz? Als ich mich noch einmal zum Altar hin umwende, sehe ich es hoch über mir. Ein ausgespartes Quadrat im Schnittpunkt des senkrechten und waagerechten Kreuzesbalkens korrespondiert mit dem Relief der Chorwand. Das Quadrat ist ein Fensterchen.

Jesus rahmt unsere Sicht auf die Welt und auf Gott, geheiligt werde Sein Name.

Das Quadrat ist ein Fensterchen... (Archivfoto)

Beim Blick zurück schaue ich noch einmal auf die Fenster links und rechts vom Chor. Sie reichen von der geschwungenen Decke bis zum Boden. In ein Geflecht aus Beton sind Bruchstücke bunten Glases eingelassen, korrespondierend mit dem Relief. Das bunte Licht streichelt noch einmal meine Seele auf angenehmste Weise. Fast möchte ich mich niederlegen wie der Schöpfer dieses Kirchenraums.

Man erzählt sich, dass Will Horsten stundenlang am Boden liegend ausharrte.

Aber ich will meinen Bruder besuchen und meine dritte Jugendkirche.

Außenansicht von Klosterkapelle und Kloster. Bereits ab 1866 in der Marienstadt und hier besonders im Krankenhaus tätig, wurde 1968 für die „Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria“ ein Provinzialmutterhaus an der Sonnenstraße errichtet. Die Clemensschwestern mussten Anfang der 2000er-Jahre aus wirtschaftlichen Gründen ihr Kloster aufgeben. Neue weltliche Einrichtungen entstanden auf dem Gelände nach Übernahme durch die Caritas (2004). Geblieben ist die Klosterkirche (Foto entnommen dem Buch "Ein Credo aus Bronze und Beton").

Bruderherz

Ansgar wohnt ganz in der Nähe. Wir trinken leckeren Kaffee auf der Veranda, sprechen über Familienangelegenheiten und über die Mirabellenbäume am Bahnhof. Bevor ich nach Monheim zurückfahre, soll ich dort unbedingt Mirabellen ernten. Das braucht mir Ansgar nicht zweimal zu sagen. Die zuckersüßen Früchte, die er dort gesammelt hat, munden wirklich.

Wo komme ich her? Wer hat mich umsorgt?

Auf dem Weg zu meiner dritten Jugendkirche, die Ende der 1950er-Jahre erbaute Klosterkirche der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung, treffe ich auf dem Kapellenplatz die Janssen-Geschwister: Marianne, Liesel und Pfarrer Hubert Janssen. Gerade am Vortag dachte ich zurück an die Ferienlager auf der Insel Ameland, die ich als Kind erlebt habe. Die wurden von den Janssens vor 60 Jahren ins Leben gerufen. Viele Bilder und Gefühle erinnere ich. Da ist besonders das Meer, das ich zum ersten Mal mit elf Jahren während meiner ersten Ferienfreizeit dort sah. Das war ein heiliger Moment. Ich war zutiefst gerührt. Da ist zum Beispiel auch die Windmühle in unmittelbarer Nähe des Ferienlagers. Sie steht auf einem Hügel, um besser den Nordseewind erhaschen zu können. Die Kinder des Ferienlagers sitzen auf diesem Hügel zu Füßen der Windmühle, mit dabei die beiden Pfarrer, einer spielt den „Quetschkasten“, das Schifferklavier. Wir singen die Lieder vom Meer und natürlich das Ameland-Lied „Dort, wo die Wogen branden.“ Ich erinnere mich beim Anblick der drei Geschwister an dieses Glück. Und seltsam, auch Pfarrer Hubert Janssen hatte am Vortag die Fotos dieser abendlichen Singerunde angeschaut. Ich verabschiede mich von den dreien, Marianne ruft mir noch zu: „Ich war die Kochfrau Tante Mia im Lager Kevelaer!“ und Liesel ruft mir zu: „Ich war `Kindermädchen´ bei euch!“  Neue Erinnerungen werden wach. Aber das Schönste ist, dass ich wieder weiß, wo ich herkomme und wer mich umsorgt hat. Beglückt gehe ich schnurstracks zu meiner dritten Jugendkirche.

Klosterkirche an der Friedenstraße (Foto entnommen dem Buch "Ein Credo aus Bronze und Beton").

Klosterkirche der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung an der Friedenstraße

Oft diente ich dort mit meinem Bruder Ulrich die Heilige Messe, zuvor wurden immer die Laudes gebetet. Von den Nonnen, die uns sehr lieb hatten, wurden wir mit weißen, mönchsgewandähnlichen Kutten eingekleidet. Den Zelebranten begrüßten wir in der Sakristei und beobachteten, wie fein das Untergewand angelegt und mit dem Zingulum, dem weißen Gürtelstrick, gerafft wurde, wie kompliziert der ganze Ankleidungsvorgang war. Dann zogen wir durch den Kreuzgang dieses gerade erst erbauten Klosters in die ebenfalls gerade erst erbaute wunderbar helle Kirche ein.

Wir beteten die Laudes mit, ärgerten uns, dass wir die richtigen Seiten nicht fanden. Wir betrachteten dann die bunten Flecken, die die Morgensonne durch die grün-roten Fenster auf den Boden der geosteten Kirche warf. Auch diese Kirche hatte Will Horsten, unser Nachbar in der Hubertusstraße, Künstler, Architekt und Handwerker in einem, als Gesamtkunstwerk entworfen und das Inventar – Altar, Kreuz, Tabernakel, Priestersitz und die Fenster – selbst geschaffen.

Wir schauten bei den Gebeten auf die von den Nonnen in Vasen drapierten Mohnblüten, die in dem grün-roten Licht der Kirchenfenster noch seidiger, noch leichter wirkten als sie es ohnehin schon waren, die sich im Windhauch unserer gesprochenen und gesungenen Psalmen zu bewegen schienen.

Wir frühstückten anschließend, mal allein, mal mit dem Priester, und konnten die Fürsorge der Nonnen kaum würdigen: den mit einer Decke schön gedeckten Tisch (zu Hause lag außer an den hohen Festtagen immer eine Wachstuchtischdecke auf dem großen Eichentisch; das war bei zum Schluss zehn Personen eine Notwendigkeit und Arbeitserleichterung für meine vielbeschäftigte Mutter), das fein gekochte Frühstücksei mit gehäkelter Warmhalte-Mütze, Marmelade im Kristallglas, das schöne Geschirr.

Manchmal waren wir albern wegen so großer Liebenswürdigkeit und Fürsorge, aber wir liebten dieses Kloster.

Wenig später erlebten wir in den sonntäglichen „Kindermessen“ die ersten „Beat-Messen“. Oben auf der Nonnen-Empore standen Mickie Brammen und seine Musiker und erfreuten uns mit Spirituals, allerdings mit deutschen Texten zum Teil neu gedeutet: „Du Herr gabst uns dein festes Wort, gib uns allen deinen Geist …“ für „It´s me, it´s me, it´s me, oh Lord, standin´ in the need of prayer …“. Gitarren und Schlagzeug rissen mich „vom Hocker“ beziehungsweise vom Kirchengestühl. Schon auf Ameland hatte mich Mickie Brammen mit seiner Gitarre fasziniert! Die Liebe zu Spirituals ist seitdem nie abgerissen. Ich singe sie inzwischen zweistimmig mit meiner Tochter Johanna.

Tut dies zu meinem Gedächtnis

Neu in dieser Kirche war auch der kleine Tisch gleich hinter der Eingangspforte. Dort standen ein Körbchen mit Oblaten und ein silbernes Gefäß, der Griff besetzt mit Edelsteinen, innen in Gold gefasst (wenn ich mich recht erinnere). Dort hinein legten wir mit einem recht flachen silbernen Löffel eine Oblate, wenn wir kommunizieren wollten.  Der Gang zur Kommunion war eine bewusste Entscheidung. Zur Gabenbereitung brachten Kinder das Gefäß in feierlicher Prozession zum Altar. Und in der Wandlung wurden dann die Oblaten gen Himmel gehoben, die später auch verkostet wurden. Die Oblaten waren wohl aus Mehl aus dem ganzen Korn gebacken. Sie sahen bräunlicher aus als die Oblaten in der Marienbasilika und schmeckten mehr nach Brot.

Traurig

Zurück zu meinem Besuch in meiner Jugendkirche, der ersten, die mein Leben besonders beeinflusst hat. – Ich werde tatsächlich vorgelassen, obwohl das Kloster inzwischen ein Altersheim ist und den strengen Corona-Bestimmungen unterliegt. Ich erzähle der lieben Frau vom Personal ein wenig von meinen Erlebnissen in dieser Kirche. Ich halte aber zurück, was mich erschreckt: Der frühere Pfarrer von Kevelaer, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, hat die Sprache von Will Horsten nicht verstanden und einen Bildhauer mit Ausschmückungen beauftragt, die die Aussage dieses sakralen Raums beschädigen, wenn nicht sogar zerstören.

Traurig verabschiede ich mich, nur gut, dass ich ein Foto der ursprünglichen Kirche besitze.

Mirabellensegen

Ich hole das Auto und fahre zur Mirabellen-Ernte am Bahnhof. Die Früchte strahlen mir goldgelb entgegen. Nur hängen sie hoch. Ich finde Äste, an denen ich ziehen kann. Und schon regnet es Früchte. Bald habe ich meine Behältnisse gefüllt. Ein junger Vater kommt mit zwei Kindern vorbei und entdeckt auch die leuchtenden Früchte. Ich schüttele für die drei, die aber nur ein wenig probieren und dann weiterziehen. Ich bedaure, dass ich geschüttelt habe. Die Früchte liegen jetzt nutzlos auf dem Weg.

Ansgar hat mich aber aufgeklärt. Die Früchte, die der Mensch nicht isst, liegen nicht „nutzlos“ herum. Bienen und anderes Getier bedienen sich am Fallobst. So fahre ich zufrieden nach Monheim mit einem Plan im Kopf: Morgen wird Mirabellenmarmelade gekocht.

2022-01-23 Mirabellenbaum
Mirabellenbaum am Kevelaerer Bahnhof. Foto: Ansgar Schmitz

Ende. / Hier können Sie Teil I sowie Teil II und Teil III nachlesen.

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