Rainer Haas war über Jahrzehnte Gesicht und Stimme des Marienhospitals in Kevelaer. – 2015 hatte die katholische Karl-Leisner-Trägergesellschaft den Verwaltungsdirektor und Geschäftsführer des Standorts Kevelaer in den Ruhestand verabschiedet. Vom Naturell her war und ist der gelernte Bankkaufmann eine ebenso ausgewogene wie Debattenstoff bergende Mischung aus frei denkendem Unternehmer, preußischem Beamten, technikbegeistertem Tüftler und katholischem Christ. Während bundesweit kleinere Krankenhäuser bankrott gegangen oder geschluckt worden waren, hatte der begeisterte Piper-Pilot das Marienhospital so gewissenhaft durch die Zeit navigiert, als gehörte es ihm.
Er ging die Dinge bevorzugt aus der Vogelperspektive an und arbeitete mit vollem Einsatz, mit Visionen, Überzeugungskraft und Führungsstärke, die den Angestellten und Arbeitern Freude an Bestleistungen vermittelte.
Er verdrängte nie, dass das Tun des Hauses am Ende nur einen Sinn hatte: Menschen zu helfen, die sich dem Marienhospital anvertraut hatten. Die Gesundheit im Haus galt ihm als höchstes Gut.
Haas gönnte sich einen Optimismus, der selbst schwierigen Situationen einen Vorteil abgewann. Gegenargumente klopfte er unbefangen auf Informationen ab. Mitunter registrierte er vergnügt, wie Gesprächspartner ihn unterschätzten, weil er andere nicht niederbügelte. Er nahm Ideen, die mit Sachverstand unterfüttert waren, als Herausforderung an. Das stellte seine Entscheidungen auf ein breites Fundament.
Dieses Selbstverständnis half ihm gegen Anfeindungen, die mit verlässlicher Hartnäckigkeit mindestens einmal jährlich das nun aber ganz sicher bevorstehende Ende des Marienhospitals prophezeiten. Der ebenso verlässliche Gegenbeweis von Rainer Haas war die einzig wirkliche Enttäuschung, die er den Unkenrufern zufügen musste.
Nach 31 Jahren mit Rainer Haas an der Verwaltungsspitze stand das Marienhospital so kraftvoll da, wie noch nie in seiner Geschichte. Es war wirtschaftlich, technisch, räumlich und personell erstklassig aufgestellt und in seinem Bestand sicher.
Wie in Kevelaer, so arbeitete Rainer Haas, ab 2003 einer der Geschäftsführer des Karl-Leisner-Klinikums, im Krankenhausverbund.
Sein erstes Wort war “Auto”
Rainer Haas kommt 1951 in Kalkar auf die Welt. Früh packt ihn eine Leidenschaft, die ihn nicht loslässt. Mutter Margarethe wird später glaubhaft versichern, das erste Wort des Kleinkinds sei nicht „Mama“ gewesen; es habe vernehmlich „Auto“ gesagt.
Margarethe und Erich Haas, ein Polizeibeamter, nehmen die sprachliche Entwicklung des Sprösslings mit Humor. Sie können den Jungen, der ein Einzelkind bleibt, mit einer Kiste voller Modellwägelchen in eine Ecke setzen und haben die Garantie auf stundenlange Ruhe.
Sein Glück ist zudem die enge Bindung an die Familie von Tante Elisabeth und Onkel Wilhelm Haas, die mit neun Kindern aufwarten und Rainer wie ein zehntes mitlaufen lassen. Das Leben ist christlich geprägt. Tante Elisabeth ist eine geborene Leisner, die jüngste Schwester von Karl Leisner. Rainer Haas hat die Örtlichkeit im Haus genau vor Augen: „In ihrem Arbeitszimmer hing rechts an der Wand ein Kreuz. Es war aus Stacheldraht gemacht und stammte aus Dachau.“ Im KZ Dachau war Karl Leisner interniert gewesen.
Onkel Wilhelm ist Schulrektor und Buchautor. Er erzählt in „Christus meine Leidenschaft“ das Leben von Karl Leisner in Bildern und Dokumenten und bringt maßgeblich den Seligsprechungsprozess für seinen kurz nach der Befreiung gestorbenen Schwager voran. Die besonderen Lebenszusammenhänge prägen Rainer Haas. Er ist 15 Jahre alt, als die Gebeine von Karl Leisner in Kleve exhumiert werden. Am 3. September 1966 begleiten der Jugendliche und seine Vettern den Sarg mit den sterblichen Überresten in den Xantener Dom.
Ansonsten lernt er in der Kinderschar Sozialverhalten, trägt für kleines Geld Kontoauszüge aus und lernt, dass er sich selbst anstrengen muss, wenn er Wünsche erfüllt haben möchte.
Er absolviert als wehrpflichtiger Soldat seine Zeit in der Von-Seydlitz-Kaserne in Kalkar auf dem Beginenberg im Kommando der III. Luftwaffendivision. Rainer Haas ist fasziniert von der Ordnung, den straffen Strukturen und der Technik. Er hinterlässt bei seinen Vorgesetzten einen vielversprechenden Eindruck. Unmittelbar vor einem Urlaub fragt ihn ein hoher Offizier, ob der junge Mann ihn auf einem Flug begleiten möchte: eine Ehre. Rainer Haas ist unerfahren, erzählt von seinem Urlaub und lässt die Chance verstreichen. Wäre er mitgeflogen, hätte sein Lebensweg wohl eine andere Richtung genommen. Manchmal ficht ihn das heute noch an. Fliegen ist für ihn Hobby und Traum geblieben.
Nach Wehrdienst und Studium mit dem Abschluss Diplom-Betriebswirt hat der gelernte Bankkaufmann bereits mit 29 Jahren eine verantwortliche Position in einem Geldinstitut in Kerken inne. Immer wieder ist er mit den Schwerpunkten Organisation und Dienstleistung befasst. Steuerung, Sicherung und Optimierung von Arbeitsabläufen, Informations- und Geldströmen – das sind Anforderungen, die ihm liegen.
Da sucht das Kuratorium des Marienhospitals in Kevelaer einen Personalchef. Mit dem Vorgänger liegt das Haus wegen undurchsichtiger Finanzabwicklungen im Clinch. Das Klima unter den Beschäftigten ist katastrophal, einige Krankenzimmer gleichen Schlafsälen in Jugendherbergen, durch die Fenster pfeift der Wind, aus den Dächern rieselt Regen in die Zimmer, und die sanitären Einrichtungen sind unter der Würde der Menschen, die sie benutzen müssen.
Von dieser Dramatik weiß Rainer Haas nichts, und vom Krankenhauswesen hat er keine Ahnung. Aber er merkt schon in den ersten Gesprächen, dass das Kuratorium ihm vertraut. Seine Fürsprecher sind Peter Roosen, Dr. Edmund Bercker und vor allem Pastor Richard Schulte Staade.
Rainer Haas sagt zu. Zwar hat er in der Bank mit einem hohen Gut zu tun gehabt, mit Geld; aber das hohe Gut im Krankenhaus, die Gesundheit von Menschen, reizt ihn stärker. Am 1. Juni 1984 beginnt er seinen Dienst, ist direkt dem Kuratorium unterstellt und bekommt freie Hand. Seine erste Aufgabe sieht Haas darin, die Mitarbeiterschaft zu befrieden. Er will sie für sein Projekt gewinnen, das Marienhospital aus der Schlechtwetterfront zu steuern und auf Kurs zu bringen. Er legt den Grundstein für den vielleicht nachhaltigsten Erfolg: Nur gemeinsam können die Menschen, die das Haus über ihre Arbeit mittragen, alle weiteren Aufgaben lösen.
In den folgenden 31 Jahren wird Rainer Haas – ab 1987 als Verwaltungsdirektor und ab 2003 als Geschäftsführer im Verbund – für den größten Kevelaerer Arbeitgeber Berg- und Talfahrten der Politik mit immer neuen Konzepten für Krankenhäuser durchstehen.
Er erkennt früh, dass das hergebrachte Angebot einer kleinen Gemischtwaren-Anstalt zwar die Herzen der Kevelaerer besitzt, den Sprung in die Zukunft aber nicht schaffen kann. Über die Jahre entwickelt er für das altbackene Haus ein ebenso eigenständiges wie hochwertiges Profil mit einer guten Allgemeinversorgung und mit erstklassigem Ärzte- und Pflegepersonal in landesweit angesehenen Spezialabteilungen. Ihr Ertrag kommt einer finanziell notwendigen Dauerinfusion gleich.
Haas hat Mut und ein dickes Fell; er arbeitet mit einem langfristig vorfühlenden Konzept. Es wird Kevelaer gegen verständlichen öffentlichen Widerstand, aber forciert von der überörtlichen Politik, 1987 die Kinderstation, 1997 die eigene Küche und 2004 die geburtshilfliche Abteilung kosten. Doch noch ist es nicht so weit.
Zunächst soll der Verzicht auf die Pädiatrie einen neuen Weg bahnen. Haas sucht mit Richard Schulte Staade und Edmund Bercker Kontakt zu Gesundheitsminister Hermann Heinemann in Düsseldorf. Als „Zwischenhändler“ leistet der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags, der Kevelaerer SPD-Politiker Helmut Esters, ganze Arbeit. Am Ende steht ein Deal: Die Pädiatrie wird geschlossen; dafür erhält Kevelaer die Anerkennung der Gefäßchirurgie als Hauptfachabteilung mit Dr. Franz-Josef Peveling-Oberhag an der Spitze.
Düsseldorf honoriert Ärger und Anstrengung mit Finanzspritzen. Schnell kommt der Bewilligungsbescheid über neun Millionen Mark für einen neuen OP-Trakt mit vier klimatisierten Sälen, dazu eine moderne Physikalische Therapie mit Schwimmbad und ein Materiallager. Im Frühjahr 1990 kommt Minister Hermann Heinemann persönlich und leistet den ersten Spatenstich.
1996 beginnt der Kampf um die geburtshilfliche Abteilung. Rainer Haas will sie unbedingt erhalten. Er fliegt mit seiner Piper ins ostfriesische Niebüll. Hier lebt und arbeitet Gynäkologie Dr. Jens-Reiner Brinke, der ehedem in Kevelaer tätig war. Haas will ihn zurück. Brinke stellt seine Bedingungen. Als Haas auf dem Heimflug ist – ein Freund steuert jetzt die Maschine – leitet er bereits die wesentlichen Schritte ein. Nicht nur der Wind kommt günstig von Nordost und trägt die Maschine in anderthalb Stunden nach Hause, auch die Abteilung nimmt mit Brinke noch einmal einen Aufschwung.
Es ist das Jahr, in dem das Marienhospital als erstklassiger Dienstleister den Marketingpreis erhält. Die Auszeichnung bedeutet dem Verwaltungschef viel.
Die Entwicklung mit den harten und zugleich existenzbehütenden Einschnitten und Erweiterungen ist eine rasante Berg- und Talfahrt, die Außenstehende kaum überblicken. So arbeitet Pilot Haas auf einer Art Schleudersitz zwischen öffentlicher und ortspolitischer Kritik, Unverständnis der Bürger, Betroffenheit der eigenen Belegschaft und dem Spardruck des Landes mit erzwungenem Bettenabbau und Budgetkürzungen. Es zeichnet ihn aus, dass er über diesen Druck nie ein Wort verloren hat.
Haas hält ihn aus – mit Haltung. „Ich orientiere mich daran, was am Ende wichtig ist.“ Wichtig ist der Erhalt des Hauses. Headhunter, die dem Mann in seinen „40ern“ einträglichere Positionen andernorts antragen, lässt er ziehen und arbeitet weiter.
Im Haus krempelt er mit seinem Technikteam, jahrelang angeführt von Heinz „Fliege“ Sieben, das Unterste nach oben. Er renoviert, modernisiert und optimiert Organisationsabläufe.
Neue Aufzüge gleiten durch das Haus. Nach und nach werden alle Zimmer saniert und mit Nasszellen ausgestattet. Fenster und Heizungsanlage kommen neu. Die Außenfassade des denkmalgeschützten Altbaus wird saniert. Bei den Arbeiten auf den alten Fluren schält sich unter den kühlen Baumaterialien vergangener Jahrzehnte ehrwürdige Schönheit heraus. Rainer Haas lässt sie in Szene setzen, darunter Eichentüren mit geschnitzten Elementen, Bleiverglasungen und kostbare Fußböden. Das Haus verströmt eine Atmosphäre, die ihres gleichen sucht.
Die neue Parkanlage am Altbau wertet die Rheinstraße auf. Das hässliche Wohnheim fällt. Der Garten hinterm Haus bekommt ein neues Gesicht.
Haas entwickelt mit den angestammten Ärzten und dem Kuratorium eine Nase für den „Neuerwerb“ medizinischer Koryphäen, die den Ruf des Hauses festigten. Er investiert in hochmoderne Diagnostik und lässt in den 90er-Jahren viel früher als andere Häuser über ISDN Bilder an Computer-Tomographen von Partner-Häusern senden, um die Wege von Patienten zu verkürzen.
1997 zwingt der Kostendruck das Haus, die eigene Küche zu schließen. Wieder liegt in der schlechten Nachricht eine gute: Es kommt zu einer ersten intensiven Zusammenarbeit zwischen den Krankenhäusern in Kevelaer, Goch und Kalkar. Sie bauen in Kehrum eine Großküche. Kein Beschäftigter fällt in die Arbeitslosigkeit. Die Kräfte aus Kevelaer, die die Küche an sieben Tagen in der Woche aufrechterhalten haben, sind in der freien Wirtschaft heiß begehrt.
Rainer Haas spricht schon damals weitsichtig von weiterem Team-Work mit anderen Häusern, denkbar z.B. in der Mitarbeiterverwaltung, in Einkauf und Labor.
2001 geht das Medical Care Center Niederrhein an den Start. Emmerich und Kevelaer managen unter der Leitung von Rainer Haas den Einkauf kostengünstig gemeinsam. In Kevelaer wird das Lager eingerichtet. Später wird das Center – unter Regie des Krankenhausverbunds – in ein eigenes Gebäude nach Uedem verlegt und schreibt seine große Erfolgsgeschichte fort.
Im Oktober 2002 wird überdeutlich, dass die Häuser in Kevelaer, Kleve, Goch und Kalkar nur noch zusammen überleben können. Das KB schreibt: „Auf dem Operationstisch liegt ein schwer kranker Patient. Vier Chirurgen haben die Messer gezückt, um ihn überlebensfähig zu machen. Sein Leiden: Chronische Finanzschwäche durch immer neue Auflagen von Bund und Land sowie ein Organismus, der aus weniger harten Zeiten stammt; er lebt mit vier Herzen und vier Hirnen. Jedes pumpt und jedes denkt für sich – und leistet sich einen Höchstverbrauch an Energie. Die Krankenhausdirektoren und -geschäftsführer von Goch, Kalkar, Kevelaer und Kleve wollen aus den Vierlingen einen einzigen effizienten Organismus machen.“ Sie gründen einen Krankenhausverbund, der alle vier Standorte erhält und jedes Haus mit medizinischen Schwerpunkten betraut.
Rainer Haas bekennt damals froh: „Am meisten freut mich, dass ich das Marienhospital zum 1. Januar 2003 mit den Kollegen in Kleve, Goch und Kalkar in einen stabilen größeren Verbund führen und damit für die Zukunft sichern konnte.“
Unter den Vieren nimmt sich Kevelaer wie ein Schmuckstück aus – schon beim Eintritt ins Haus. Im Foyer mit Hotelcharakter lässt der freundliche Auftritt der Mitarbeiter Berührungsängste fallen. Immer wieder hört Rainer Haas Sätze wie diese: „Ein schönes Haus! Und die Mitarbeiter sind so freundlich.“ Höflichkeit und Freundlichkeit zählen für Rainer Haas zur Grundausstattung, nicht als Mittel zum Zweck effizienterer Arbeit, sondern als Achtung vor dem nächsten.
Für das Wohl der über 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlt er sich persönlich verantwortlich, auch wenn das bei der Schließung ganzer Abteilungen für Außenstehende kaum sichtbar wird. Haas ist bewusst, dass er in die Lebenspläne von Menschen eingreift, die mitunter jahrzehntelang guten Dienst getan haben, „aber wir mussten diese Entscheidungen treffen und haben uns um jeden einzelnen gekümmert.“ Arbeitslos geworden sei von ihnen niemand. Für jeden einzelnen habe er so lange mit Personalleiter Bernd Ebbers gesucht, bis eine neue Stelle gefunden worden sei. Überhaupt habe er in 31 Jahren nicht ein halbes Dutzend Kündigungen aussprechen müssen.
Dass Haas im Haus ab und an auch von seinen Gefühlen mitgenommen wird, ist bei der Schließung der geburtshilflichen Abteilung deutlich zu erleben, die er trotz aller Anstrengung am Ende doch nicht verhindern kann. Er hat das Datum, 30. September 2004, und die Bilder des Abschieds vor Augen: Er blickt mit Dr. Jens-Reiner Brinke durch die Glasscheiben in den Raum mit den Bettchen. „Ich sehe noch die dezent fliederfarben gestreiften Baldachine vor mir, unter denen in Kevelaer nie mehr Säuglinge liegen würden.“ Er dreht den Schlüssel in der Tür und weiß, was er da für immer abgeschlossen hat. Das ist, so bekennt er später, einer seiner schwersten Augenblicke in den 31 Jahren.
Wie einen späten Trost fügt er an: „Wenn wir weitergemacht hätten, wäre das ganze Haus in eine Schräglage geraten. Es wäre von anderen aufgesogen worden.“ Stattdessen erfährt das Haus eine neue Stärkung: Düsseldorf genehmigt die Neurologie. Wieder ein Meilenstein.
All diese Arbeit hat eine weitere Motivation. Er nennt sich einen Menschen, der „mitten im Glauben steht.“ Für ihn haben „die Nähe zum Gnadenort, der Charme dieser Stadt und ihre ganze Ausstrahlung etwas Besonderes.“ Manchmal setzt er sich in die Kapelle, betet oder lauscht in die Stille. Dann weiß er, warum er nie aus Kevelaer wegwollte.
2015 geht er zwei Jahre vorzeitig in den Ruhestand. Er will seine Piper im Luftraum über Kevelaer und dem Niederrhein bis hinauf auf die ostfriesischen Inseln genießen.
…
Das tat er denn auch und hob mit Freude in einen neuen Lebensabschnitt ab.
Fotos: Privatarchiv Rainer Haas (7), Delia Evers (4)