Mann mit liebenswürdigem Dickschädel
Am Dienstag, 13. Dezember 2021, wurde der Diplom-Kaufmann und Steuerberater Wilhelm Wehren 70 Jahre alt. Die Kriegsjahre lagen nicht lange zurück, als seine Mutter Margarete Wehren ihn auf dem Kervendonker Voeskenshof zur Welt brachte. Der Vater, Wilhelm Wehren sen., bewirtschaftete den Hof und war Politiker. In den 1960er-Jahren besaß er u.a. als CDU-Landtagsabgeordneter in Düsseldorf mit Traum-Wahlergebnissen von 70 Prozent eine Machtfülle, die heute nicht mehr denkbar wäre. Die Folge für die Familie skizziert sein Sohn Willi knapp: „Vater war nie da.“
Schwester Gertrud, vier Jahre früher geboren als er, war gefühlt viel älter. Kameraden vergleichbarer Jahrgänge gab’s in Hofnähe nicht. So saß er auf dem Voeskenshof viel mit seiner Mutter und ihren Hauswirtschafts- und den Landwirtschaftslehrlingen zusammen.
Oft erzählte sie vom Krieg. Immer nahm sie Rücksicht auf das Kind. Wenn sie beschrieb, wie Soldaten mit Bauchschüssen auf dem Hof gelegen hatten und dem Tod näher als dem Leben gewesen waren, sagte sie, die Männer hätten Bauchschmerzen gehabt und nichts trinken können. Die Erwachsenen verstanden sie. Das Kind konnte dabei sein, ohne Albträume zu bekommen, und lernte viel.
Willi besuchte die Volksschule in Winnekendonk, fühlte sich durch Lehrer Willi Dicks motiviert, schloss die Handelsschule in Geldern mit der Mittleren Reife ab und absolvierte eine landwirtschaftliche Ausbildung auf dem väterlichen Hof. 40 Hektar wollten beackert und beweidet werden. 20 Kühe, die zugehörigen Bullen und 60 bis 80 Schweine zählten zum Bestand.
Fortan war Sohn Willi Lehrling und Chef in Personalunion. Der Vater erklärte bei seinen kurzen Familienaufenthalten, was auf dem Hof zu tun sei. Er sagte: „Dann weißt du Bescheid!“ – und ließ den Junior machen, der doch eigentlich in der Ausbildung war.
Die landwirtschaftliche Umstrukturierung kam voll in Gang. Die „beiden Willis“ trieben die Spezialisierung auf dem Voekenshof voran. Die Rinder wurden der Abschlachtprämie geopfert. Willi jr. konstruierte aus dem gemauerten Kuhback einen niedrigeren Schweinefutterautomaten, schließlich hatten die Schweine kürzere Beine als die Kühe.
Nach seiner Gehilfenprüfung holte er auf der Höheren Handelsschule in Krefeld das Abitur nach. Er düste morgens um 7 mit der Bahn in die Seidenweberstadt, war um 15 Uhr zurück, schob Essen rein, kletterte auf den Trecker, beackerte das Land und machte abends seine Schularbeiten. Einen Luxus behielt er bei: Die Samstagabende verbrachte er in Geldern im Pampam, einer ziemlich angesagten Diskothek mit vielschichtigem Ruf.
Seine berufliche Zukunft sah er nicht in der Landwirtschaft. Der Betrieb daheim war inzwischen auf reinen Ackerbau umgestellt. Nach der Zeit beim Bund absolvierte Willi Wehren ein Bankpraktikum.
Er immatrikulierte sich 1974 in der Fachhochschule Mönchengladbach für Betriebswirtschaftslehre, fuhr 1976 auf dem Voeskenshof die letzte Ernte ein und war 1977 graduierter Betriebswirt.
Er absolvierte ein Aufbaustudium an der Universität Köln, war 1982 Diplom-Kaufmann und feierte im selben Jahr in Hamburg bei einem Wirtschaftsprüfer seinen Arbeitseintritt. 1986 legte er in der Hansestadt seine Steuerberater-Prüfung ab und kehrte zurück an den Niederrhein.
Da hatten Vater Wilhelm, der sich 1970 aus der großen Politik zurückgezogen hatte, und Sohn Wilhelm längst andere Betätigungsfelder aufgetan.
Auf dem Voekenshof gab es einen anderthalb Hektar großen Kiessee. Wilhelm Wehren sen. verpachtete ihn 1971 an die Bottroper Firma Hein & Co. Die errichtete im Umfeld Musterhäuser im Nur-Dach-Baustil mit 60 Quadratmetern Wohnfläche. In drei Bauabschnitten wuchs der Ferienpark bis 1981 auf eine Größe von 31,5 Hektar mit 367 Holzhäusern heran. Die Pleite des Pächters aus Bottrop überstand der Park 1986 ohne große Blessuren.
1989 überschrieb der Vater die „Green Village“-Grundstücke an seinen Sohn. Die Geschäftsführung übergab er 1999 an seine Schwiegertochter Gisela, geb. Bunte, eine Diplomingenieurin. Willi jr. und Gisela hatten 1984 geheiratet.
1990 war das Jahr, in dem Willi Wehren jr., inzwischen über Arbeitsstationen in Hamburg und Krefeld bei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zum Steuerberater weiterqualifiziert, in Geldern eine Kanzlei eröffnete. Gut 30 Jahre betreute er fortan eigene Mandanten. Er zählte zu den profiliertesten Steuerberatern im Gelderland, weil er ebenso einfallsreich wie kenntnisreich beriet.
An der Gestaltung seiner Heimat stets interessiert, stieß er 1998 zur Unternehmervereinigung Kevelaer, deren Vorsitz er für einige Jahre übernahm. Intensiv und kritisch begleitete er die Versuche der Stadt, am Bahnhof ein Großkaufhaus anzusiedeln. Immer wieder erhob er seine Stimme.
Anders als der Vater hatte Willi Wehren nie große Ambitionen, in die Politik einzusteigen. An seine erste Aktion erinnert er sich gleichwohl. Ausgerechnet in einer roten Ente machte er für die Schwarzen Wahlkampf. 1970, sein Vater war für den Landtag nicht mehr angetreten, fuhr er in einem Konvoi durch die Lande und stritt für Dr. Jochen van Aerssen. – Das war’s dann auf lange Zeit.
Bis 2009 – da wurde er zum Vorsitzenden des CDU-Ortsverbands Kervenheim/Kervendonk gewählt – eine undankbare Aufgabe in einer Phase, da um die Vorherrschaft im Verband noch gekämpft wurde. Aber zu Wehren hatten die Wähler Vertrauen. Er bekam alle Stimmen. Im Jahr darauf verlor er das Amt nach unschönem „Geplänkel“ an Nachfolger Willi Scholten. Gleichwohl blieb er im Vorstand – er wollte was bewegen.
2012 wurde Wehren Mitglied im Kevelaerer Stadtrat. Das Engagement war nicht von Merkelscher Dauer. Leicht war ihm das Ja“ ohnehin nicht gefallen. Wehren ist ergebnisorientiert. Für ihn ist Politik kein Machtspiel, in dem mancher Reichweite und Härte seiner Ellenbogen austestet, sondern eine soziale Aufgabe. So hat es schon sein Vater gehalten. Dessen realistische und tolerante Weltsicht und positive Grundeinstellung zeichnen auch seinen Sohn aus. Seine Interessen lagen und liegen noch immer bei Wirtschaft und Mittelstand. Da seien die meisten Arbeitsplätze, unternehmerische Verantwortung und Ausbildung angesiedelt. „Die halten ihren eigenen Kopf hin“, sagt Wehren und wünscht sich in der Politik mehr Einsatz für den Mittelstand.
Das dürften Unternehmerinnen und Unternehmer gerade während der Corona-Pandemie heftig unterschreiben. Sie halten ihren Kopf hin.
Willi Wehren engagiert sich im Verein Russland – Kriegsgräber e.V. „Mein Onkel ist in Russland vermisst. Auch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren meine Mutter und ihre Geschwister plötzlich ganz schweigsam und bedrückt, wenn die Sprache auf diesen vermissten Bruder kam.“
Motiviert durch die Suche nach dem vermissten Onkel, hatte Willi Wehren im Jahr 2000 mit Hans Rütten, Ursula Frisse und Karl-Heinz van Gerven den Verein Russland – Kriegsgräber e.V. gegründet, der längst mehrere Vermisstenfälle aufklären konnte.
Wenn die Sonne scheint, fährt Willi Wehren aller Arbeit davon. Zumindest mal für 100 Kilometer. Dann setzt er sich auf seine Yamaha Virago und lässt sich gemächlich auf zwei Rädern abseits größerer Straßen von der Natur bescheinigen, wie schön die Welt ist.
Dann entscheidet er erst unmittelbar vor einer Kreuzung, ob es links oder rechts weitergeht. Willi Wehren grinst nett. „So läuft es auch zwischen meiner Frau Gisela und mir.“ Sie sind seit rund 45 Jahren ein Paar, beide mit Dickschädeln ausgestattet, beide des Redens kundig und gern im „multiverbalen Interaktionsprogramm“. Willi Wehren: „Manchmal will Gisela links und ich will rechts oder umgekehrt. Am Ende fahren wir doch immer geradeaus und finden es dann beide einzig richtig.“