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Pilgerreise zum Marienerscheinungsort Wigratzbad
Das
große Gebetszentrum in Wigratzbad.
Fotos: Martin Willing
Auf der Reise ins Westallgäu beginnen die Merkwürdigkeiten schon unterwegs.
Der computergestützte Satelliten-Navigator im Reisemobil, der
selbst kleinste Dörfer gespeichert hat, kennt den Ort nicht. Auf der
Landkarte entdecke ich schließlich nur „Wigratz“, aber nicht
„Wigratzbad“. Ich starte die weite Reise im Vertrauen auf Susanne
Hansen, die im Pattloch-Führer „zu über 1000 Gnadenstätten“ in
Deutschland auf Seite 926 verspricht, die „Gebetsstätte Wigratzbad“
liege rund 20 Kilometer nordöstlich von Lindau am Bodensee.
Ich finde den Ort leicht, denn ein Schild an der Bundesstraße 12 weist
den Weg. Der große Parkplatz neben der zeltförmigen Wallfahrtskirche,
die tausend Pilgern Platz bietet und flüchtig an die
>Pax-Christi-Kapelle
in Kevelaer erinnert, ist an diesem Vormittag leer. Als ich einparke,
nutzen Kinder die große Fläche für Ballspiele. Aus einem langgestreckten
Gebäude rechts vom Platz kommen zwei junge Priester, die sich auf
Italienisch unterhalten. Es ist das Priesterseminar von Wigratzbad, das
in Abstimmung zwischen dem Bischof von Augsburg und Papst Johannes Paul
II. eingerichtet worden ist und junge Theologen mit
traditionalistischen, vorkonziliaren Idealen ausbildet - um sie nicht an
den abtrünnigen Zweig des Bischofs Lefèbvre zu verlieren.
Die Zeltkirche ist architektonisch ein ebenso
gewagter wie einfacher „Wurf“. Ihrem nüchternen, modernen Kleid
entspricht die offene Stahlkonstruktion im Innern, aber sofort nach dem
Eintritt fallen alle Blicke auf die bunten, naturalistisch-schönen
Sakralskulpturen auf den Altären. Kitschig? Wie darf man „kitschig“
nennen, was anderen heilig ist!
Über dem Hauptaltar, oberhalb eines Strahlenkranzes, der vom Tabernakel
ausgeht, hängt der Gekreuzigte; zu seiner Rechten steht auf dem
Seitenaltar eine menschengroße Herz-Jesu-Statue, die kindlicher
Vorstellungswelt entspricht; zu seiner Linken ist die Madonna als
Unbefleckt Empfangene in einer Statue nachgebildet, die die Marienbilder
von
>
Lourdes und
>
Fatima in sich vereint.
Im Vorraum der Kirche sehe ich einen fahrbaren Wassertank, an dem ein
Dutzend Kräne zum Abfüllen in mitgebrachte Kanister angebracht sind. Als
ich davor stehe, erinnere ich mich an meinen ersten Besuch in Lourdes.
15 Jahre war ich damals alt, hatte mich als Anhalter bis zu den Pyrenäen
durchgeschlagen. An einer der Zapfstellen der Gnadenquelle von Lourdes
füllte ich eine Halb-Liter-Flasche. Das Wasser kam nie zu Hause an, denn
auf der Rückreise, als ich in der einsamen Camargue südlich von Avignon
stundenlang auf ein Auto in sengender Hitze wartete, war die Notration
rasch aufgebraucht.
Weihwasser im großen Tank.
Dieses profane Ende eines gesegneten Wassers kam mir in Wigratzbad
wieder in den Sinn, weil der dortige Weihwassertank in der Kirche genau
so aussieht wie der schnöde Öltank in meinem Haus.
Ich gehe, enttäuscht über den stillosen Weihwasserbehälter, durch die
Freianlage zur Gnadenkapelle, die neben einer schmalen Straße an einem
Hang gebaut ist und aus einer Ober- und einer Unterkirche besteht.
Antonie Rädler, die fromme, mutige Frau, auf die die
Wigratzbad-Wallfahrt zurückgeht, hatte hier vor die Tür eine große
Madonnenstatue gestellt - weil die Nazis ihre Kapelle geschlossen
hatten. Jeder, der seinerzeit vorbeikam, auch jeder Nazi, wurde von der
Muttergottesfigur, die eine Hand ausstreckt, gegrüßt.
Gleich nach dem Eintritt in die Oberkapelle führt links eine so steile
Treppe hinunter in die Unterkapelle, dass auf Schildern eindringlich vor
Sturzgefahr gewarnt wird. Eine Frau hinter mir, einen Moment nicht Acht
gebend, stürzt prompt und zieht sich einige „blaue Andenken“ zu. An den
Wänden im engen Treppenhaus hängen viele Votivtafeln („Maria hat
geholfen“). Die Treppe endet übergangslos vor einer Tür.
Dahinter wird der Besucher von andächtiger Stille empfangen, wie sie den
meisten Gnadenorten innewohnt. In der in Kerzenlicht getauchten Kapelle
knien einige Menschen. In einer grottengleichen Ausmauerung steht eine
lebensgroße Statue der „Maria vom Sieg“, die der Madonna von Lourdes
ähnelt.
Hier in diesem Raum haben ungezählte Menschen in den dunklen Jahren der
Nazi-Herrschaft nächtelang gebetet, so auch im Jahre 1940 die
Angehörigen des Pfarrers Ritter, der von einem Sondergericht verurteilt
und ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert worden war. Seine
Geschichte (Teil 1): Am Fest des hl. Josef, am 19. März 1940, wurde der
Geistliche aus der Haft entlassen, und sein erster Gang führte ihn in
die Kapelle von Wigratzbad.
Hier ist der Besucher in eine heilige Ruhe eingebettet, der sich niemand
entziehen kann. Um die gleiche Andacht bemühen sich auch die Beter in
den Außenbänken vor dem Gnadenbild der Consolatrix afflictorum in
Kevelaer - mitten im pulsierenden Leben auf dem Kapellenplatz, was
einmalig ist unter den Gnadenstätten. Das
>
Kevelaerer Heiligtum, das wird
mir in Wigratzbad noch einmal deutlich, ist so offen, dass nirgendwo
sonst gegenseitige Rücksichtnahme nötiger ist als hier.
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© Martin Willing 2012, 2013