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INHALTSVERZEICHNIS

MARPINGEN (4)

Marpingen hatte nie eine Chance

Das verhinderte deutsche Lourdes im Saarland

Lässt die Kirche ihr Volk im Stich? Werden Menschen, die sich nach mystischen Erfahrungen sehnen, Opfer von Leichtgläubigkeit? Fehlt es in der Kirche an menschlicher Wärme? Oder was läuft da ab, wenn - wie am 18. Oktober 1999 - in Marpingen 25.000 Menschen auf eine Marienerscheinung warten?

Die Erscheinungszyklen in diesem und im vorigen Jahrhundert haben sich vor soziologischen, politischen und kulturellen Kulissen mit vergleichbaren Strukturen ereignet und bilden eine Reihe moderner Erscheinungen in Europa. Bei ihnen wird die archaische Seher-Tradition verlassen, indem nicht mehr Erwachsene, sondern Kinder im Vordergrund stehen. Dieser neuzeitliche Zyklus, mit dem eine etwa 50-jährige Abwesenheit von bedeutenden marianischen Erscheinungserlebnissen beendet wird, setzt nach der Französischen Revolution (1789-1799) ein.

Frankreich ist das Zentrum dieses neuzeitlichen Erscheinungsablaufs, der - vorbereitet durch Vorläufer-Ereignisse - mit dem epochalen Erlebnis von 1846 in La Salette kraftvoll beginnt. Es öffnet den Reigen von Erscheinungen der Gottesmutter vor armen Kindern aus sozial kritischem Umfeld im 19. und 20. Jahrhundert, von denen > Lourdes (1858) die bekannteste geworden ist. > Fatima in Portugal, wie Lourdes strukturiert, folgt erst 1917.

Das deutsche Dülmen (ab 1819) und Paris (1830, Rue de Bac) zählen nicht zu diesem neuen Zyklus, der mit der Tradition bricht und die am schlimmsten Benachteiligten, die Kinder, in den Blickpunkt rückt. Die Dülmener Mystikerin Anna Katharina Emmerick und die französische Novizin Cathérine Labouré entsprechen noch dem tradierten Bild einer erwachsenen Visionärin.

Das politische, kulturelle und vor allem soziale Umfeld der Seherkinder ist nach heutigen Maßstäben katastrophal. Vom Staat erwartet die verarmte Landbevölkerung im säkularisierten Frankreich kein Ende der Verelendung; ihre Hoffnung nährt sich aus der Zuversicht, dass sie von Gott und seiner Mutter nicht im Stich gelassen wird.

In Deutschland, wo in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Preußens Gloria und Macht herrschen, haben im Jahr 1876 drei Kinder im saarländischen Marpingen marianische Erlebnisse, die mit jenen von Lourdes und den späteren von Fatima in den Strukturen sowohl der Erscheinungen, als auch des sozialen Umfeldes vergleichbar sind. Der entscheidende Unterschied beispielsweise zwischen Lourdes und Marpingen liegt nicht im Ablauf der Erscheinungsereignisse, sondern in ihrer nachfolgenden Anerkennung (Lourdes) beziehungsweise Ablehnung (Marpingen) durch den Bischof.

Aber selbst in dieser Frage sind Gemeinsamkeiten gegeben: Der für Lourdes zuständige Bischof von Tarbes hat sich unter mehreren Seherkindern entscheiden müssen, denn Bernadette Soubirous, der er schließlich Glauben schenkt, ist nicht die einzige Visionärin geblieben. Die offizielle Anerkennung von Lourdes der Bernadette hat zunächst am seidenen Faden gehangen.

Marpingen dagegen hat nie eine Chance auf kirchliche Approbation gehabt. Die berichteten Erscheinungen von 1876 werden vom aufgeklärten Bismarck-Staat wie eine Kriegserklärung des Volkes an die Erbauer des modernen Gemeinwesens empfunden; entsprechend knallhart reagiert die Obrigkeit und lässt Tausende von Pilgern auf dem Erscheinungshügel von Soldaten einkesseln. Der Trierer Bischof, der auf einem der Höhepunkte des Kulturkampfes die Zerreißprobe mit dem Staat nicht auf die Spitze treiben will, beendet eine erste Untersuchung, die wegen formaler Mängel als vorläufig eingestuft werden kann, mit dem schärfsten Urteil, das kirchliche Prüfungen haben können: Mit der Ablehnung. Basis für diese Ablehnung ist besonders der Widerruf eines der Sehermädchen von Marpingen, dessen Gültigkeit allerdings fraglich ist.

Das „deutsche Lourdes“ ist also keines geworden, und Jahrzehnte lang bleibt es still um Marpingen. Auch als über 100 Jahre später ein Bauer von seiner Marienerscheinung in Marpingen berichtet (1983), nimmt niemand Notiz. Das ändert sich erst, als die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in einer Besprechung Anfang 1996 auf ein Buch aufmerksam macht, das in England zwei Jahre zuvor („Marpingen, Apparition of the Virgin Mary in Bismarckian Germany“) erschienen ist.

David Blackbourn
Der Historiker David Blackbourn signierte nach der Podiumsdiskussion in Marpingen seinen Bestseller über das "deutsche Lourdes". Fotos: Martin Willing

Der Rowohlt-Verlag bringt 1997 die deutsche Übersetzung heraus („Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei“), und die ausgeschlafenen Fremdenverkehrsförderer von Marpingen nutzen die Chance: Der britische Buchautor und Historiker David Blackbourn wird zu einer vom Fernsehen übertragenen Podiumsdiskussion nach Marpingen eingeladen, an der Prominente wie der Lafontaine-Nachfolger Reinhard Klimmt, selbst Historiker, teilnehmen.

Blackbourn antwortet dem Journalisten Martin Willing auf seine Frage, ob er an die Echtheit von Marpingen glaube, viel deutlicher als in seinem Buch: Mit einem klaren Nein.

David Blackbourn, Pressekonferenz
Der britische Buchautor David Blackbourn mit Reinhart Klimmt, dem Ministerpräsidenten des Saarlands, 1998 auf der Pressekonferenz in Marpingen. Bei dieser Gelegenheit fragte KB-Redakteur Martin Willing den Historiker, ob er an die Marienerscheinungen glaube, über die er ein Aufsehen erregendes Buch geschrieben habe. Klare Antwort: "Nein".

Ein Jahr später, am 17. Mai 1999, beginnen in Marpingen, 123 Jahre nach dem ersten Zyklus, die neuen Erlebnisse, wobei diesmal nicht Kinder, sondern - zurück zum tradierten Bild von Mystikern - erwachsene Frauen zwischen 24 und 35 Jahren als Seherinnen auftreten. Betreut und abgeschirmt werden sie von „fundamentalistischen“ Katholiken, die dem vorkonziliaren Zustand der katholischen Kirche huldigen. (Ein Zettel an der kirchlich nicht eingesegneten Gnadenkapelle fordert zur Mund- statt Handkommunion auf.) Die drei Frauen geben Botschaften bekannt, die sie von der Gottesmutter während der 13 Erscheinungen gehört haben wollen. Die Botschaften sind sehr schlicht und knüpfen an die Worte von 1876 an - etwa: „Betet viel!“

Die katholische Kirche erkennt eine Übernatürlichkeit der Ereignisse nicht an. 2005 stellte eine kirchenamtliche Untersuchungskommission Zweifel am berichteten Erscheinen der Gottesmutter fest.

Was immer in Marpingen abgelaufen ist, es zeigt, wie sperrangelweit die Schere zwischen der Glaubensbereitschaft vieler Menschen und dem feststellbaren Engagement des größeren Teils der Pfarrangehörigen in den Heimatgemeinden geöffnet ist. Die Pfarrkirche ist halbleer, aber auf dem matschigen Hügel in Marpingen quetschen sich 25.000 Menschen und beten den Rosenkranz.

Vielleicht ist das die Botschaft von Marpingen: Menschen, die ihr Herz öffnen, glauben Wärme eher im feuchten Oktober-Wald zu finden als in der geheizten Pfarrkirche. 

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© Martin Willing 2012, 2013