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MARPINGEN (3)

Am Sonntag spricht sie

Pilgerreise zum Marienerscheinungsort im Saarland

Im Härtelwald von Marpingen, wo nach Berichten von Seherkindern im Jahr 1876 die Gottesmutter erschienen ist, drängten sich am Sonntag, 13. Juni 1999, wohl tausend Menschen um die Erscheinungsstelle. Für 15 Uhr war ein besonderes Zeichen angekündigt: ein Wunder.

In Marpingen wusste sozusagen jeder, dass ein „besonderes Ereignis“ prophezeit war. Ein Insider aus der Kommunalverwaltung äußerte sich - was soll er bei Wundern auch anderes tun? - zurückhaltend: „Der Sache steht man skeptisch gegenüber“. Von einer 12-jährigen Meßdienerin aus Marpingen, mit der ich in Marpingen zufällig ins Gespräch kam, hörte ich:

„Leo hat gesagt: ‘Die Muttergottes erscheint am Sonntag um 15 Uhr’“.

„Wer ist Leo?“

„Unser Pastor“.

Das Mädchen ist übrigens nicht hingegangen.

Exakt so, mit Datum und Uhrzeit, hatte auch meine erste Information gelautet. Man erzählte mir, die Ankündigung eines Wunders zu Beginn der Fatima-Andacht am 13. Juni gehe auf die Aussagen dreier Frauen zurück.

Die Nachricht hatte sich verbreitet. Sie würde viele Menschen herbeirufen, so wie wir es aus der Geschichte von Erscheinungsstätten kennen, wo Gläubige ein angekündigtes Ereignis miterleben und nachempfinden, obwohl es sich nur sehr wenigen unter ihnen unmittelbar erschließt.

Ich fahre also erneut nach Marpingen.

MarpingenEin Sträßchen schlängelt sich, dicht bebaut mit Wohnhäusern, den Hang zum Härtelwald hoch und endet unmittelbar vor der kleinen Marienkapelle. An diesem Sonntag ist die Zufahrt abgesperrt. Eine Wiese am Hang nimmt die Autos der Besucher auf. Einige Leute sind campingmäßig ausgestattet: Mit Klappstuhl und Verpflegungstasche machen sie sich auf den Weg zur Erscheinungsstelle von 1876 unmittelbar neben der Marienkapelle.

Hier auf dem Vorplatz gibt es nur wenige Sitzgelegenheiten.

Außen-Andachtstätte neben der Gnadenkapelle in Marpingen.
Foto: Martin Willing (1998)

Es ist kurz vor zwei, und obwohl erst in einer Stunde die Fatima-Andacht für die Kranken beginnt, ist der Platz am Fuße des Hügels bereits voll von Menschen. Ihre Blicke richten sich auf die gemauerte Grotte am Waldrand, in der eine Marienskulptur steht. Und sie beten ohne Unterlass den Rosenkranz.

Die Straße ist unter den vielen Füßen längst nicht mehr zu sehen. Bis tief in die Zufahrt stauen sich die Pilger, die später eingetroffen sind. Die meisten stehen, wenige sitzen, viele knien - auf Asphalt und in der Juni-Sonne. Rollstühle werden behutsam durch die Menge Meter für Meter vorwärtsgeschoben; es wird ihnen Platz gemacht, denn für die Kranken ist die bevorstehende Andacht besonders gedacht.

Inzwischen hocken Gläubige auch in den Gebüschen am Steilhang. Ein junger Mann hält sich mit der rechten Hand an einem Strauch fest, in der linken hat er einen Rosenkranz. Helle Kleidung blitzt durch die Blätter des angrenzenden Waldes: Menschen kämpfen sich durch das Unterholz, um näher an die Grotte heranzukommen. Unter den Pilgern sehen wir etliche Geistliche, Nonnen und Mönche.

Gut 120 Jahre zurück - derselbe Ort, derselbe Hügel. Preußisches Militär marschiert auf und umzingelt die Pilger. Sie werden, wenn nicht verhaftet, auseinander getrieben. Der moderne Staat duldet keinen mittelalterlichen Mummenschanz, für den die Marienerscheinungen im aufgeklärten Preußenstaat gehalten werden.

Was Margaretha Kunz und ihre Freundinnen Susanna Leist und Katharina Hubertus, alle acht Jahre alt, in der Zeit vom 3. Juli 1876 bis 3. September 1877 im Härtelwald gesehen und erlebt haben wollen, löst eine weitere Machtprobe während des Kulturkampfes aus, die am Ende niemand gewinnt: Der Staat kann die Pilgerströme nicht unterbinden, der zuständige Trierer Bischof lehnt, dankbar nimmt’s der Staat zur Kenntnis, die berichteten Erscheinungen ab. Der Bischof lässt die drei Seher-Mädchen „aus dem Verkehr ziehen“, in Klöstern unterbringen und wiederholt verhören. Er glaubt nicht an das „deutsche Lourdes“ und dass den drei Mädchen die „unbefleckt Empfangene“ - so die berichtete Formulierung - erschienen ist.

Wieder zurück zum Sonntag, 13. Juni 1999.

Seit Stunden bereits werden das Glaubensbekenntnis, das „Vater unser“ und das „Gegrüßet seist Du, Maria“ gebetet, die Gesätze der Rosenkränze. Nur diese Gebete sind zu hören und dann nach zehnfacher Wiederholung des „Gegrüßet seist Du, Maria“ das gesungene „Ehre sei dem Vater...“ mit der weltbekannten Melodie des „Ave“. Niemand spricht dazwischen, niemand bewegt sich mehr als unbedingt nötig. Langsam wandern die Schatten der hohen Bäume. Es ist heiß in der Sonne, und man kann sich in der Menschenmenge kaum rühren. Ein älterer Mann steht von seinem Stuhl auf und bietet ihn seinem Nachbarn an.

Es ist jetzt kurz vor drei, unmittelbar vor der besonderen Stunde, und der Vorbeter sagt die Zeit an. Eine Frau mit ausgebildeter Stimme singt Fürbitten. Ihr Stimme ist so klar und weich, wie man sich Engelsgesang vorstellen könnte. Immer wieder ruft sie die Gottesmutter unter ihren verschiedenen Titeln an, auch als „Trösterin der Betrübten“. Die Menschen antworten singend „Wir rufen zu Dir“.

Die Fürbitten enden. Die meisten Gläubigen knien nieder und verharren im Gebet. Über den Platz legt sich meditative Stille. Die Fotografen hören auf zu fotografieren, Leute mit Filmkameras sind nicht mehr zu sehen. Die meisten der hier versammelten Menschen lassen sich offensichtlich darauf ein, dass im Gebet etwas Bewegendes geschehen kann. Was immer sich in diesen Minuten ereignet - niemand wird später mit leeren Händen weggehen oder enttäuscht sein, weil die Andacht am Ende „unspektakulär“ verlaufen ist.

Wenige Minuten nach 3 beginnen mehrere Priester mit der Krankensalbung. Und wieder wird der Rosenkranz gebetet. Erst gegen halb fünf löst sich die Menge von dem Ort und begibt sich nach unten - zu der Wiese, wo die Autos parken, oder in die Stadt, wo seit dem Morgen ein profanes Fest gefeiert wird.

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© Martin Willing 2012, 2013