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Hauptschule in Kevelaer

Von einer Hoffnungsträgerin zum Auslaufmodell

Am 5. März 1968 starb die "gute alte" Volksschule. Aus ihr entstanden mit der Schulreform, die an jenem Tag verabschiedet wurde, die Grundschule für die Kleinen und die Hauptschule als dritte weiterführende Schule neben Realschule und Gymnasium. Die Schulreformer erhofften viel: Sie wollten zum einen die Hauptschüler höher qualifizieren, als es die Volksschule je konnte, und zum anderen mit neuer Durchlässigkeit der Schulsysteme Spätentwicklern den Übergang zur Realschule oder zum Gymnasium wesentlich erleichtern. Mit dieser erhöhten Chancengerechtigkeit sollte zugleich einhergehen, dass das Niveau der Schulabschlüsse auf breiter Basis stieg.

Drei Hauptschulen existierten zunächst im Stadtgebiet Kevelaer: eine in Winnekendonk, zwei in Kevelaer. Sie waren in den alten Volksschulgebäuden untergebracht, nämlich in der Overbergschule in Winnekendonk sowie in der St.-Antonius und der St.-Hubertus-Schule in Kevelaer. Die Eltern entschieden darüber, ob eine der beiden Hauptschulen in Kevelaer eine Bekenntnishauptschule sein sollte. Mit knapper Mehrheit votierten sie gegen eine Bekenntnisschule. Also richtete der Stadtrat Kevelaer zum 1. August 1968 zwei Gemeinschaftshauptschulen ein.

Im Jahr darauf stand fest, dass die dritte Hauptschule, die in Winnekendonk, nicht zu halten war. Der erste nach der kommunalen Neuordnung gewählte Stadtrat, der nun u.a. auch für Winnekendonk zuständig war, musste 1969 aus den drei Hauptschulen zwei machen. Die „zu kleine“ Hauptschule in Winnekendonk wurde aufgelöst und blieb als Filiale von Edith Stein vorläufig im Overberg-Schulgebäude untergebracht, weil Kevelaer keinen Platz anzubieten hatte. Dort war die Schulraumnot katastrophal.

Willi DicksDie Namen Edith Stein und Theodor Heuss besaßen die beiden Hauptschulen bereits seit Frühjahr 1969, also schon vor der Gebietsreform und dem Zusammenschluss zur neuen Stadt Kevelaer. Die ersten Rektoren waren > Willi Dicks (Edith Stein) und Josef Pauels (Theodor Heuss), der Anfang 1969 Schulrat im Kreis Kempen wurde und durch > Albert Pannen (Januar 1970) ersetzt wurde.

Willi Dicks, Rektor der Edith-Stein-Hauptschule.

1973 vergab der Stadtrat die Planungsarbeiten für ein neues Hauptschulgebäude auf der Hüls - es war der Beginn eines großen Schulzentrums, in dem heute alle weiterführenden Schulen Kevelaers untergebracht sind. Der Schulraumgewinn kam mit dem stürmischen Wachstum der Schulen allerdings nicht mit. 1980 demonstrierten Edith-Stein-Schüler vor dem Rathaus gegen ihre Schulraumnot. Der Unterricht fand teilweise auf den Gängen und unter dem Dach statt. Pavillons sollten Abhilfe schaffen, aber die ließen auf sich warten.

Albert PannenNach weiteren Neubauten zog Ruhe ein, die etwa 20 Jahre währen sollte. Albert Pannen, Rektor der Theodor-Heuss-Hauptschule, ging 1984 in Pension. Zu seinem Nachfolger wählte der Stadtrat den bis dahin amtierenden Konrektor an der Edith-Stein-Hauptschule, Winfried Janssen. Auch bei der Edith-Stein-Hauptschule stand ein Rektorenwechsel an, allerdings erst 1990: Für Willi Dicks kam Wolfgang Funke.

Albert Pannen, Rektor der Theodor-Heuss-Hauptschule.

Zwar schien in den 1990er-Jahren die Existenz der Hauptschule als Schultyp gesichert zu sein, trotzdem war ein schleichender "Image"- und damit einhergehend auch ein deutlicher Schülerverlust zu registrieren. Der überaus starken Sogwirkung der 1986 gegründeten Realschule in Kevelaer hatten die beiden Hauptschulen, von je einem Förderverein unterstützt, nur wenig entgegenzusetzen. Das Ansehen der Hauptschule als einer Schulform mit eigenem, qualifiziertem Bildungsauftrag, bröckelte.

Alles andere als ersprießlich für den Ruf der Hauptschule wirkte sich aus, dass in Politikerkreisen ab Dezember 1992 immer wieder von einer Schulzusammenlegung gesprochen wurde. "Wir brauchen keine zwei Hauptschulen", sagte zum Beispiel > Heinz Ingenpaß (CDU). Was der Ratsherr als eine pragmatische und schulsichernde Lösung gedacht hatte - die Schülerzahlen waren rückläufig -, kam in der Bevölkerung eher wie ein Signal herüber, dass die beste Zeit der Hauptschule vorüber sei. Die unglückliche Fusionsdebatte erhielt im Frühjahr 1993 weiteren Auftrieb, als feststand, dass die Edith-Stein-Hauptschule nicht genügend viele Schüler für die neuen Eingangsklassen zusammenbekommen würde.

Im Jahr darauf, 1994, wurde die Idee einer Fusion der beiden Hauptschulen erstmals in ein politisches Programm aufgenommen. Die KBV erklärte in ihrem Wahlkampfpapier zur Kommunalwahl 1994: "Wir fordern die Zusammenlegung der Hauptschulen im Sinne einer Stärkung dieser Schulform."

Der entscheidende Zusatz "im Sinne einer Stärkung" ging unter. Aus dem Land hörte man eher das Gegenteil: 1995 beschloss die saarländische SPD, in dem von ihr regierten Bundesland die Hauptschule abzuschaffen.

Davon war man in Kevelaer noch weit entfernt. Stadtdirektor > Heinz Paal bekannte sich Anfang 1996 zur Existenz der Hauptschule und des dreigliedrigen Schulsystems. Und auch einer Schulfusion, von Teilen der CDU und der KBV bereits angesprochen, erteilte er eine klare Absage.

Doch der Zug war offenbar abgefahren. In einigen Bundesländern war in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die Hauptschule bereits abgeschafft und in die Realschule integriert. In drei neuen Bundesländern (Brandenburg, Sachsen, Thüringen) war sie nach der Wende gar nicht erst eingerichtet worden.

Der ungebremste Zuwachs der Kevelaerer Realschule auf Kosten der Edith-Stein- und Theodor-Heuss-Hauptschule spiegelte wider, was im ganzen Land los war: Eltern drängten auf höherqualifizierte Schulabschlüsse ihrer Zöglinge, und viele Arbeitgeber spielten mit, indem sie die Einstiegsbedingungen für eine Lehre hoch und höher schraubten. Da nützte nicht mehr viel, dass der Einzelhandelsverband Kleve im Juli 1998 eine Lanze für die Hauptschule brach: Sie müsse erhalten werden, aber sie müsse sich auch qualitativ weiterentwickeln. 

Der Niedergang setzte sich fort: Im Juni 2000 wurde bekannt, dass Edith Stein für das neue Schuljahr nur noch zwei Eingangsklassen mit jeweils etwa 18 Schülern bilden konnte. > Andrea Wynhoff verlangte daraufhin - im Gegensatz zur Fusionsforderung ihrer KBV -: "Die Stadt als Schulträger ist gefordert, die Edith-Stein-Hauptschule zu unterstützen und am Leben zu erhalten".

Mit der Artikelreihe „Ich sage JA! zur Hauptschule“ leitete das Kevelaerer Blatt Mitte 2000 eine Stützungsaktion für die angeschlagene Hauptschule ein. Anfang 2002 besiegelten die Edith-Stein-Schule und das > grafische Unternehmen Bercker ihre Zusammenarbeit für berufspraktische Einblicke der Hauptschüler. Bei der feierlichen Vertragsunterzeichnung waren Bürgermeister Heinz Paal, Firmenchef Ulrich Schurer, Rektor Wolfgang Funke und andere zugegen. Der offizielle Charakter sollte auch der Schule etwas Glanz geben.

Winfried JanssenDie Fusionsidee wurde Mitte 2003 erstmals von der Stadtverwaltung aufgegriffen: Sowohl Rektor Janssen (Theodor Heuss) als auch Rektor Funke (Edith Stein) standen ein Jahr vor ihrer Pensionierung. Nun sei der rechte Zeitpunkt gekommen, "über eine Neustrukturierung im Hauptschulbereich vor Ort nachzudenken", befand die Verwaltung. Der Schulausschuss teilte einstimmig diese Auffassung: Ab dem Schuljahr 2004/2005 werde es möglicherweise nur noch eine Hauptschule in Kevelaer geben.

Winfried Janssen, Rektor der Theodor-Heuss-Hauptschule.

Im Dezember 2003 stand der Punkt auf der Tagesordnung des Schulausschusses. Aber klar war nun nichts mehr, denn die Mehrheit der Eltern und Lehrer beider Schulen hatte sich gegen eine Fusion ausgesprochen. Unter dem Eindruck dieses eindeutigen Votums hob der Ausschuss mit Mehrheit (gegen KBV und FDP) seinen empfehlenden Beschluss zur Schulfusion, den er im Sommer gefasst hatte, wieder auf.

Wolfgang FunkeNach der Ausschreibung der beiden Rektorenstellen zeigte sich, dass die potenziellen Kandidaten "dem Braten nicht trauten": Keine einzige Bewerbung traf in Kevelaer ein. Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass einer der beiden neuen Rektoren im Falle einer Schulfusion auf Sand gebaut haben würde.

Wolfgang Funke, Rektor der Edith-Stein-Hauptschule.

Im Sommer 2004 legte der Stadtrat seine Scheu ab, die Fusion aktiv zu betreiben. Zwar wurde ein KBV-Antrag zur Zusammenlegung, den Grüne und FDP unterstützten,  abgeschmettert, aber gleichzeitig beschloss die Ratsmehrheit aus CDU und SPD, im Herbst mit den Schulkonferenzen über eine "Zusammenlegung der Hauptschulen zu diskutieren". Das sollte der Anfang vom Ende der beiden selbstständigen Hauptschulen sein.

Im Dezember 2004 kam die Stunde der Wahrheit. Bei nur drei Gegenstimmen fasste der Schulausschuss den Empfehlungsbeschluss: "Der Rat der Stadt Kevelaer beschließt, die beiden selbstständigen Gemeinschaftshauptschulen Edith-Stein und Theodor-Heuss (...) mit Wirkung zum Schuljahresbeginn 2005/06 (01.August 2005) zusammenzulegen. Diese (...) neu errichtete Schule am Standort 'Auf der Hüls 1' wird als vierzügige Gemeinschaftshauptschule im Halbtagesbetrieb geführt." Auch der im Dezember folgende Ratsbeschluss fiel eindeutig aus. Nur fünf Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion wurden gezählt. Im Februar 2005 genehmigte die Bezirksregierung den Ratsbeschluss.

Der Widerstand war gebrochen. Proteste, sollte es sie noch gegeben haben, waren nicht zu hören. Nur die Personalie "Rektor" sorgte noch für Schlagzeilen: Es meldete sich nämlich niemand. Erst Ende 2005 - im fünften Ausschreibungsverfahren - bewarb sich Heiner Morsch, Konrektor einer Hauptschule in Rheinberg. Der einzige Kandidat konnte im März 2006 sein Amt antreten.

Er blieb ein Kurzzeit-Rektor: Bereits im Juni 2007 warf Morsch das Handtuch, nachdem die Schulkonferenz der neuen Gemeinschaftshauptschule mit deutlicher Mehrheit beschlossen hatte, den sogenannten „gebundenen Ganztag“ abzulehnen. Schulleiter Morsch hatte darin eine „verpasste Chance“ gesehen und die Konsequenzen gezogen.

So kam schließlich Ralph Lenninger ins Rektorenamt - freilich ohne sogleich seinen Zusatz "kommissarischer Schulleiter" loszuwerden: Jahrelang klagte ein Kollege aus Duisburg vor Verwaltungsgerichten, um diesen Job zu bekommen. Erst nachdem der Konkurrent auch in letzter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster gescheitert war, durfte sich Lenninger Rektor nennen.

Der Hauptschule in Kevelaer wurde keine Verschnaufpause gegönnt. 2011 überraschte die Landes-CDU mit ihrem klaren Abgesang auf diese Schulform. Und als dann im Sommer 2011 die CDU-Führung in Berlin mit der Idee an die Öffentlichkeit trat, die Hauptschulen in Deutschland mit den Realschulen zusammenzulegen, war deutlich: Der Hauptschule ging der wichtigste Unterstützer von der Fahne. Ralph Lenninger musste im Herbst 2011 einräumen: "Da der politische Wille das Verschwinden der Hauptschule aus der Schullandschaft beschlossen hat und alles in der Öffentlichkeit tut, um das auch durchzusetzen, ist selbst eine gut funktionierende Schule wie unsere langfristig chancenlos."

Das Aus der Kevelaerer Gemeinschaftshauptschule wurde 2013 eingeläutet: Der Stadtrat Kevelaer beschloss, eine Gesamtschule einzurichten, in der die Hauptschule und die Realschule aufgehen sollen.

© Martin Willing 2012, 2013