|
|
|
Bildhauer | * 1935
Als Bert Gerresheim ein Kind war, wusste er schon, was es mit Kevelaer
auf sich hatte: Im zarten Alter von sechs Jahren musste er aus seiner
Heimatstadt Düsseldorf in die Marienstadt pilgern, weil Tante Lieschen
noch keinen Mann „gesehen“ hatte. Zwar verstand der Junge nicht, was das
für die alternde Jungfrau bedeutete, aber er zog brav mit einer
Riesenkerze vor die Gnadenkapelle und betete, dass ein Mann in das Leben
seiner Tante treten möge. 14 Tage später meldete Lieschen der Familie
glückstrahlend Vollzug.
Das beeindruckte den kleinen Bert. Gerresheim heute: „Wir waren nicht
sehr religiös. Aber Kevelaer war unser Bezugsort, wenn es Probleme gab“.
Er hat noch eine andere Erinnerung aus dieser Zeit: Er malte das
Kevelaerer Gnadenbild. Es ist die älteste Zeichnung, die er aus seinen
Kindertagen verwahrt. Hinzugekommen sind im Laufe der Jahre weitere
Andachtsgraphiken, die er für eine Sammlung teils kaufte, teils selber
schuf, so wie die Mutter Maria Kevelaer als Knotenlöserin. Gerresheim
hat ihr die Schnur mit den Verstrickungen der Welt in die Hand gemalt
und Maria mit ihrer Lösung beginnen lassen, die zugleich ihre Losung
ist: Jesus Christus, Erlöser der Welt.
Während sie die Knotenschnur in der einen Hand hält, trägt sie das Kind
in der anderen; es hat seiner Mutter Maria Kevelaer das Zepter aus der
Hand genommen und hält ihr das „gute Ende“ des entwirrten Taus, so hat
sie die Rechte frei für ihren Dienst als Knotenlöserin. Die Arbeit macht
ihr zu schaffen: Jeder Knoten steht für einen Betrübten, der sie um
Trost bittet. So hat Gerresheim ihr ein Gesicht gezeichnet, das die
Schmerzen der Welt widerspiegelt, während sie unverzagt arbeitet.
Vielleicht
verbindet den Bildhauer Bert Gerresheim der beschwerliche Weg des
Menschen durch die Zeit mit dem Wallfahrtsort Kevelaer. Viele
Hunderttausend Pilger tragen ihre Sorgen Jahr für Jahr in die
Marienstadt, werden entlastet und erfahren Linderung.
Zwei Freunde: Bert Gerresheim und Weihbischof > Heinrich Janssen aus Kevelaer (1992).
In Kevelaer wie anderswo vermittelt Gerresheim keine Abziehbilder vom
wundersamen Glück auf Erden, obwohl dies im Wallfahrtsort der vielen
kleinen Zeichen am schlichten Gnadenbild so naheliegend scheint. Doch so
ist die Welt nicht. Gerresheim zeigt das wahre Gesicht von Kevelaer und
kein geschöntes, wie es die weltliche Stadt in aller Herren Länder
exportiert und damit gutgläubige Betrachter vom inneren Anliegen des
Gnadenortes entfernt.
Der Düsseldorfer Gerresheim unternimmt nichts, um Kevelaer, das ihm eine
Heimat ist, künstlerisch oder künstlich schön zu färben. Bei ihm hat die
Muttergottes Falten im Gewand und Falten im Gesicht und kniet Jakobus
gebeugt. Gerresheim mutet seinen Betrachtern eine Kunst zu, die keine
Schnörkel kennt, sondern das Wesentliche offenlegt, bis weilen
schmerzhaft und schonungslos.
... und Jahre später.
Seine Mutter Teresa blickt nicht mit lieb
lächelnden Augen vom südlichen „Portal der Nachfolge Christi“ über den
Kapellenplatz; und sie spiegelt nichts von einer Seligen wider, die
viele in ihr erkennen möchten: Wir sehen das halb abgewandte Gesicht
einer verbrauchten und vom Leben gezeichneten Frau; rührend ihre große
Hand, riesig wie die Pranke eines Schmieds, vom Zupacken wie breit
gewalzt. So hat sie in Kevelaer vor dem Gnadenbild gekniet, klein und
armselig, eine von Millionen Pilgern; so hätte sie sich selbst gesehen.
Mit dieser kleinen Frau hat Gerresheim ein ungleich treffenderes Bild
geschaffen, als hätte er sie im Jubel von Menschenmassen baden lassen -
gleichwohl wäre auch ein solches Bild ein Motiv gewesen; es hätte das
Portal glatter und prächtiger gemacht, Mutter Teresa noch ein Stückchen
weiter entrückt und Kevelaer im Glanz des Besuchs noch ein bisschen
wachsen lassen.
Doch Kevelaer ist nicht bedeutsam, weil Bedeutsame
hierherkommen: Am Gnadenort vor Maria sind alle gleichermaßen Bittende
und Betende. Gerresheim lenkt den Blick weg vom Gefühl einer Stadt,
etwas Besonderes zu sein, hin zum Besonderen selbst.
Seine Werke zeigen, dass sich nichts im Leben, auch nicht Gnadenbild und
Gnadenort schönfärben lassen: Sie sind ein Ort der Schmerzen.
Sorgen und
Nöte sind der Kern vieler Gerresheim-Werke. Sie machen den Leidensweg
Christi für die Menschen von heute anschaulich. Der Künstler ist ein
bildhafter Bibelübersetzer, der zeigt, dass auch heute Menschen berufen
werden, Christus zu folgen: Der Bildhauer zeigt von Folter und
Grausamkeit gezeichnete Leiber, zerstörte Gesichter, im Schrei erstarrte
Münder, einen Unterarm von Jesus Christus im Kreuzweg der
St.-Antonius-Kirche Kevelaer, tätowiert mit der Nummer des KZ-Häftlings
Maximilian Kolbe, und Stacheldraht auf dem „Portal der Versöhnung“ im
Brunnenhof der
Basilika.
Er seziert und verengt den Blick auf das Wesentliche; er ist ein
glaubwürdiger Zeuge, obwohl er seiner subjektiven Wahrnehmung vertraut
und nicht daran denkt, Fakten und ihre zeitliche Abfolge wie in einem
Geschichtsbuch zu dokumentieren. Seine Werke sind nicht Zeitdokumente,
sondern Zeitlose-Dokumente und in diesem besonderen Sinn abstrakt; sie
machen uns zu Wanderern zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
heben die Zeit gleichsam auf und geben den Weggefährten von Christus die
Gesichter der Menschen unserer Tage; das Leiden ist in der Welt
geblieben: Im Kreuzweg der St.-Antonius-Kirche trägt Simon von Cyrene
die Züge von Karl Leisner, hat Maria die Gestalt von Mutter Teresa
angenommen. So vermischt Gerresheim, was nur in der Kunst vermischt
werden kann: Er schichtet verschiedene Orte und verschiedene Zeiten in
einem Bild zu einem Ort und zu einer Zeit und gibt ihnen eine ungeahnte
Tiefe.
Säuberlich getrennte Tatsachen sind etwas anderes und haben ihren
Nachteil: Sie öffnen vielleicht den Verstand, aber nicht die
Vorstellungskraft, die dafür sorgt, dass die Bilder von Gerresheim uns
nur schwerlich loslassen und dass sie viele Menschen über sinnliches
Schauen und Begreifen zum Beten und zum befreienden Kern der Frohen
Botschaft führen können. „Der Mensch braucht Inhalte, die er mit
Gefühlen belegen kann“, sagt der Bildhauer. Seine Werke entwickeln ein
Eigenleben, sobald sie aus der Werkstatt in die Umgebung gestellt sind,
für die er sie geschaffen hat, und sich dort wie von selbst einzupassen
beginnen; sie sprechen für sich und brauchen keine Interpretationshilfe.
Es gibt keinen Menschen, der Leid nicht unmittelbar verstünde und sich
von ihm nicht angesprochen oder provoziert fühlte.
Zu diesem unmittelbaren Eindruck trägt bei, wie Gerresheim seine
Arbeiten ausführt. Sie sind realistisch, ausgezeichnet und dramatisch
bis in die letzte Feinheit. Seine Gestalten wirken, als könnten sie sich
aus der Bronze lösen, neben uns treten und uns in ihr Schicksal
hineinnehmen. Wenn Gerresheim erzählt, er sei früh von den
niederrheinischen Schnitzaltären aus der Antwerpener Schule und ihrem
ans Gespenstische grenzenden, übertriebenen Realismus fasziniert
gewesen, finden wir davon Züge in seinen Arbeiten wieder. Realismus hat
etwas Mystisches; für beides sind Niederrheiner anfällig. Hier, „wo so
viel Himmel drüber ist“, sind die Menschen voll Sachlichkeit, und
„trotzdem konnte sich ein Gnadenort entwickeln“.
Den jungen Bert Gerresheim hat diese Stadt früh fasziniert. Zeichnen war
seine Sprache. Seine Eltern, beide keine Künstlernaturen, hatten Respekt
vor ihrem Kind und den ungezählten Entwürfen, die es auf irgendwelche
Unterlagen zauberte. Sie schenkten ihm früh eine Wandtafel, auf der es
nach Herzenlust arbeiten konnte. Später spielte Bert Gerresheim mit dem
Gedanken, Priester zu werden, doch am Ende erschien ihm das Leben so
herrlich bunt, dass er es in all seiner Vielfalt nutzen und genießen
wollte. Er hatte beeindruckt das Wort von der „Fabel des Lebens“
gelesen. Die wollte er mit allen Sinnen erkunden. Besonders Formen
hatten es ihm angetan.
Wenn er sich eine Landschaft anschaute, nahm er
nicht ihre Farben, sondern ihre Konturen wahr. Er begann zu modellieren.
Irgendwann traute er sich mit eigenen Arbeiten zu Otto Pankok (Bild), jenem
berühmten und in der Nazizeit verfolgten Expressionisten, der in
derselben Straße wohnte wie er. Als der junge Bert ihm seine Werke
zeigte, „war Pankok ganz still“. Gerresheim spürte, dass „der Alte“ ihn
angenommen hatte. Er gab dem Jungen für unwesentliche Nachbesserungen
Tipps mit auf den Weg.
Am selben Tag, an dem Gerresheim am Gymnasium
seine Reifeprüfung ablegte, zog er in die Düsseldorfer Akademie, wo
Pankok Professor war. Von da an gingen sie abends über die Oberkasseler
Brücke gemeinsam nach Hause. Ihre Verbindung blieb nicht ohne Spannung:
Pankok war Expressionist mit Leib und Seele, Gerresheim liebte das
Surrealistische. Was er nie vergaß: „Pankok hat immer um das heilende
Bild des Menschen gerungen“. Und: „Für ihn war der Mensch wichtiger als
jeder formale Aspekt“.
Beide liebten das Sinnliche, Gerresheim mochte und mag die Arbeit mit
den Händen, das Modellieren, das Tasten und das Raum-Empfinden. Seine
Finger sind für ihn mehr als verlängerte Werkzeuge der Fantasie: „Sie
ersetzen oft meine Augen“, sie greifen und begreifen buchstäblich und
unmittelbar. Oft modellieren seine Hände die Werkstücke in Mundnähe, in
Kussnähe. „Da bin ich ganz nah an der Haut der Dinge“. Dieses Schaffen
muss ein wunderbares Zusammenspiel sein aus den „Datensammlungen“ im
Kopf des belesenen und gebildeten Mannes, den eigenen Eindrücken und
Gefühlen, die sich in der Vorstellungskraft zu Bildern fügen, und den
Impulsen, die in die Finger fahren und den Bildern eine Form geben.
So sind 50 Werke entstanden, die in Kevelaer Raum gefunden haben
(„Kevelaer ist für mich ein kleines Museum“) - die Portale an der
Basilika und im Brunnenhof mit Papst, Mutter Teresa und Karl Leisner,
die Pilgerfigur „Das Bild“ vor dem Kapellenplatz, der Jakobus (auch ein
Pilger), Kreuzwegstationen in der St.-Antonius-Kirche, das Beichtrelief,
die Pforte der Umkehr.
Besonders ein Werk steht dafür, dass das Anliegen
von Pankok, „das heilende Bild des Menschen“ zu entwerfen, auch ein
Anliegen von Gerresheim ist: Ungezählte Kevelaerer rührt es noch heute,
dass der Bildhauer den beim Kirchenbrand von St. Antonius verkohlten
mittelalterlichen Corpus Christi zu einem Lebensbaum erweitert hat,
schonungslos die Realität zeigt, den verstümmelten Körper, die
unerträgliche Verlorenheit in der unheilen Welt - und sie gleichermaßen
öffnet für etwas Größeres, Höheres; Karfreitag, hinübergeführt ins
Osterfest als Zeichen menschlicher Hoffnung und Erlösung.
Im Augenblick des Kirchenbrands:
Die Feuerwehr lenkt einen Wasserstrahl durch das Fenster der
St.-Antonius-Kirche auf das große Altarkreuz, das dennoch in den Flammen
verkohlen wird.
Foto: Delia Evers
Die Werke von Bert Gerresheim sind Ereignisbilder, die wie ein
Bekenntnis zum menschlichen Kreuzweg und zu seinem Ende sind, die
Geschichten erzählen wie ein Buch mit vielschichtigen Ebenen: Sie nehmen
den Betrachter mit auf eine sehr persönliche Pilgerschaft zum Kern der
Dinge, nehmen ihn mit auf den Leidensweg von Menschen und machen ihn zum
Weggefährten von Edith Stein und Jerzy Popielusko, die Zeugnis für ihren
Glauben ablegten, wie auch Wallfahrer Zeugnis für ihren Glauben ablegen.
Wie unmittelbar seine Kunst begriffen wird und ergreift, zeigt die
Übergabe des „Portals der Versöhnung“ im Brunnenhof der Basilika 1997.
Das Werk ist dem Geschehen um die Priesterweihe des deutschen Karl
Leisner durch den französischen Bischof Gabriel Piguet in einem
deutschen Konzentrationslager gewidmet.
Neben Gerresheim stand bei der feierlichen Enthüllung eine alte
Ordensfrau, eine, die Azaleen liebt, weil sie im Krieg in Dachau bei
Gefahr für das eigene Leben in Azaleensträußen Messgegenstände in die
KZ-Zelle des Häftlings Karl Leisner schmuggelte.
Bert Gerresheim im Gespräch mit Martin Willing im Museum Kevelaer (2005).
Am 26. Oktober 1997 nun stand Josefa Imma Mack im Marienwallfahrtsort vor dem Portal, auf dem sie selbst abgebildet ist: Als junges Mädchen, mit Azaleen in den Händen, darin verborgen ein Messkelch. Für die Ordensfrau war es ein überwältigender Augenblick.
Als das Verhüllungstuch fiel, stand sie ein paar Sekunden vor dem Portal, neben ihr Gerresheim; sie wollte ihm etwas sagen, reichte ihm eine Hand, schaute ihn an und weinte. Der Bildhauer nahm sie in die Arme. Wohl jeder im Brunnenhof spürte, dass hier nicht ein Kunstwerk „zur freundlichen Erinnerung“ angebracht worden war, sondern eines, das als „Portal der Versöhnung“ übertragbare Zeichen setzt.
Schwester Josefa Imma Mack vor dem Portal, auf dem sie selbst abgebildet ist.
Es gibt keine Zeiten, in denen Feinde nicht Feinden zu verzeihen hätten.
Diese Stimmung war auch dem Hüter des Kevelaerer Heiligtums, Pastor
Richard Schulte Staade, anzumerken. Er erinnerte an die Geschehnisse im
KZ Dachau, bei denen „der Glaube Berge an Vorurteilen aus dem Weg
geräumt hat“. Der Glaube könne sogar helfen, über den eigenen Schatten
zu springen. Das wunderbare Geschehen von damals, übertragen durch einen
Menschen, der die Umstände miterlebt hat, und übertragen durch das
Kunstwerk selbst, war im Brunnenhof plötzlich spürbar.
Schulte Staade
nahm es den Atem, er konnte einen Moment lang nicht weitersprechen und
musste sich fassen, so unvermittelt wurde fassbar, was für eine Kraft
die Versöhnung spendet. Im menschengefüllten Brunnenhof war kein
einziger Laut zu hören, bis der Pastor fortfuhr:
„Der Feind kniet vor
dem Feind, und der Feind segnet den Feind“.
Bert Gerresheim hat diesen einmaligen Augenblick in Kevelaer lebendig
werden lassen. So kraftvoll ist seine Kunst.
Sein Kevelaerer Galerist Heinz Janssen meint: „Bert Gerresheim ist ein
Mensch zum Gernhaben und ein Glück für Kevelaer“.
Galerist Heinz Janssen,
Künstler Bert Gerresheim.
Was kann Kevelaer sich von Gerresheim absehen? Wir können das Wesentliche so anschauen wie es ist - und wir können es überhaupt wieder anschauen. Wir können aufhören, das Hässliche zu schminken, das Unwichtige aufzublähen und das Wertvolle durch Großspurigkeit klein zu machen.
Delia Evers