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Aguillon, Irénée
Französischer Kriegsgefangener wollte Kevelaer retten

Zwischen dem 2. und 3. März 1945 unternahm ein französischer Kriegsgefangener, der sich der Evakuierung entzogen hatte und auf dem Keylaerer Hofkampshof untergekommen war, das Abenteuer, Kevelaer und besonders den Kapellenplatz vor weiterer Zerstörung zu bewahren:

Dafür überschritt Irénée Aguillon, so der Name des mutigen Mannes, die Kampflinie bei Keylaer. Aber erzählen wir der Reihe nach...


Städtischer Empfang für den "Retter von Kevelaer" 1969 (v.l.): Bürgermeister Peter Plümpe, Stadtdirektor Dr. Karl-Heinz Röser, Frau Rühl vom Hofkampshof und der dort beschäftigte Kriegsgefangene Irénée Hypolite Aguillon.

Ab dem späten Vormittag des 2. März 1945 befindet sich dem Anschein nach kein Wehrmachtssoldat mehr in der Marienstadt. An der Gnadenkapelle stehen drei Männer des Volkssturms in Zivilkleidung. Sie wollen mit verrücktem Mut das Heiligtum gegen die anrückenden Alliierten verteidigen, wie sich später Zeuge Dr. Fritz Levacher aus Brauweiler erinnern wird. Jeden Moment erwarten die drei Volkssturm-Männer das Eintreffen der Kriegsgegner und befürchten das Schlimmste.

Doch die Briten lagern noch vor Keylaer am Laxhof. Ihre Artillerie soll Kevelaer den letzten Schlag geben.

Ein Protokoll aus dem Archiv des Priesterhauses, vermutlich 1947 von Dechant Wilhelm Holtmann verfasst, hält die Geschehnisse rund um Irénée Aguillon fest, "deren Wahrheit der Dechant von Kevelaer garantiert und woraus zu ersehen ist, dass die Muttergottes … in der Nacht vom 2. auf den 3. März 1945 ihr Heiligtum vor dem totalen Untergang bewahrt hat".

Laut Protokoll flüchtet die SS in der Nacht vom 2. auf den 3. März Hals über Kopf aus Kevelaer, "weil die Alliierten aus der Richtung Venlo überraschend auf Duisburg durchgestoßen waren".

Ganz in der Nähe der britischen Stellung lebt auf dem Keylaerer Hofkampshof bei Familie Rühl ein französischer Kriegsgefangener des Kommandos Wissen. Den Befehl zur Evakuierung hat er missachtet und sich auf dem Bauernhof in Keylaer versteckt. Hier hat er schon vorher gearbeitet.

Er stammt aus der Umgebung von Lourdes, dem weltbekannten französischen Marienwallfahrtsort. Er heißt Irénée Hypolite Aguillon und beschließt eine lebensgefährliche Aktion. Er will Kevelaer vor der Zerstörung bewahren. Das Heiligtum von Kevelaer erinnert ihn an das Heiligtum von Lourdes, und das verehrt er mit ganzem Herzen. Helfen kann er Kevelaer allerdings nur, wenn die Briten keinen Grund mehr sehen, ihre großkalibrigen Geschütze gegen die Stadt aufzufahren.

Der Franzose traut sich unmittelbar nach der Flucht der SS zu den Alliierten. Er überschreitet die Frontlinie und will die Meldung überbringen, dass die Briten in Kevelaer nicht mehr mit Widerstand rechnen und folglich nicht mehr kämpfen müssen. Kevelaer sei frei von deutschen Soldaten – eine wahnwitzige Behauptung.

Ob Irénée Aguillon wenigstens halbwegs verlässliche Quellen hatte, ist nicht überliefert. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt sicher wissen, ob in der Stadt noch versprengte Heckenschützen lauerten.

Die Engländer sind misstrauisch und führen den Franzosen mit erhobenen Händen in ihren Gefechtsstand. Sie glauben ihm nicht; am Abend haben sie eine Patrouille von drei Mann ausgeschickt, die nicht zurückgekehrt ist, wohl weil sie Deutschen in die Quere gekommen ist. Also, wird spekuliert, müssen noch Deutsche vor Ort sein.

Die Briten lassen den Franzosen frei; er radelt zum Hofkampshof zurück und findet dort – denkwürdiger Zufall - einen verwundeten Engländer vor. Er gehört zu der vermissten Patrouille. Ein Kamerad ist tot, ein anderer vermisst.

Der Franzose fährt flugs zu den Briten zurück. Sie begleiten ihn, bergen den Verletzten und vertrauen nun seiner Aussage, dass Kevelaer nicht mehr verteidigt wird. Irénée Aguillon gibt ihnen nützliche Hinweise über das Gelände, das die Deutschen befestigt haben, um den Vormarsch aufzuhalten.

Das Protokoll aus dem Priesterhaus berichtet weiter: "Die Motoren wurden angeworfen, die Artillerie aus der Stellung gebracht, und bereits eine halbe Stunde später rollten die Kolonnen durch Keylaer und Kevelaer. Der Gnadenort war gerettet. Mutter hatte gut gesorgt."

Das Hin und Her zwischen dem Franzosen und den Engländern ereignete sich in der Nacht und in den frühen Morgenstunden des 3. März. Nachweislich rollten die alliierten Panzer an diesem Tag um 6 Uhr in der Frühe durch Kevelaer.

Nicht klären lassen sich Wahrheitsgehalt und Herkunft einer abenteuerlichen Randnotiz. Die misstrauischen Briten sollen den Franzosen zunächst mit einer Maschinenpistole im Rücken in einem Jeep durch Keylaer gefahren haben, wo er erschossen worden wäre, wenn sich Deutsche gezeigt hätten. In den Original-Protokollen findet sich auf ein solches Geschehen kein Hinweis.

Die Briten hätten sich selbst in Gefahr gebracht, und die Tour hätte sich in der Nacht ereignen müssen, obwohl dafür nicht die mindeste Zeit war. Möglicherweise ist im Nachgang einiges ausgeschmückt worden.

Für die niederländische Zeitung Gennepse Dourant war im August 1948 klar: „Kevelaer in Kriegsgewalt von Maria beschützt“. Der Artikel griff die Tat des französischen Kriegsgefangenen auf.

Als 1948 in Kevelaer die Pax Christi Bewegung Deutschland gegründet wurde, ging der Bischof von Lourdes und Tarbes, Pierre-Marie Théas, in Kevelaer auf die Geschehnisse ein. Er hatte Aguillon persönlich gesprochen und sich die Ereignisse bestätigen lassen.

Théas sagte in Kevelaer: „Ahnen Sie die Freude, die der Bischof von Tarbes und Lourdes, der Wächter der geheiligten Grotte von Massabielle, empfindet, wenn er heute im altehrwürdigen Heiligtum von Kevelaer die Heilige Jungfrau verehrt, die Trösterin der Betrübten? In jenem Heiligtum, das 1945 ein Trümmerhaufen geworden wäre, wenn unsere Liebe Frau es nicht behütet hätte, indem sie sich eines französischen Kriegsgefangenen bediente, den die Bevölkerung von Kevelaer den Irenäus von Lourdes nannte?"

Im März 1969 gab die Stadt Kevelaer für Irénée Aguillon, den „Retter von Kevelaer“, einen Empfang. Er trug sich ins Goldene Buch ein.

Es wird sich kaum noch klären lassen, ob die Briten Kevelaer ohne die Tat des Franzosen verwüstet hätten. Die Gefechte dieser Tage in Nachbarstädten sowie in Kervenheim und Winnekendonk legen Furchtbares nahe. Ohne jeden Zweifel war Irénée von Lourdes ein mutiger Mann, der gewusst hat, dass ihn der Einsatz für das Marienheiligtum in Kevelaer das eigene Leben kosten konnte.

Offenbar ist der Kontakt zwischen Kevelaer und ihm nach dem einen Ereignis 1969 abgerissen. Über die Person von Irénée Aguillon ist nichts weiter bekannt.