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INHALTSVERZEICHNIS |
Kapitel 17 von 115 |
Juli 1951
Anfang Juli feiert Hedwig Poos, Hebamme für Twisteden, ihr 25-jähriges
Dienstjubiläum. Sie hat selbst mehrere Kinder, von denen sie einen Sohn
im Krieg verloren hat.
Gefallen ist auch der einzige Sohn von Anna und Siegfried Wallendorf,
dem Figuristenmeister und Inhaber des gleichnamigen Unternehmens an der
Weezer Str. 6a. Für Siegfried Wallendorf, der den 1879 gegründeten
Betrieb von seinem Vater Andreas übernommen hat, war sein Sohn, der
ebenfalls Andreas hieß und als talentiert für den Bildhauerberuf galt,
die Zukunft. Nach dem Tod von Andreas (* 1925, † 1944) konzentrieren
sich die Hoffnungen auf die Tochter, die nach dem Krieg im väterlichen
Betrieb ausgebildet wurde.
Jetzt, im Juli 1951, besteht „Fräulein Wallendorf“, deren Vorname nicht
überliefert ist, als erste Figuristin ihre Gesellenprüfung „in Theorie
und Praxis mit gut-gut“. Sie will, wie es im KB heißt, für ihren
gefallenen Bruder das Geschäft weiterführen. Das Unternehmen firmiert
noch 1962 als „Siegfried Wallendorf, Kevelaer, Figurenfabrik, Statuen in
Gips und Elfenbeinmasse (Figuren bis zu Lebensgröße, Kirchliche u.
weltliche Figuren, Krippendarstellungen in allen Größen“. Den weiteren
Lebensweg von „Fräulein Wallendorf“, deren Vater Siegfried 1953 stirbt,
kennen wir nicht.
Der
9. Juli ist von historischer Bedeutung. An diesem Tag erklären
die drei Westmächte den Kriegszustand mit Deutschland formell für
beendet. Auch die Uhrzeit wird festgelegt: Seit 16 Uhr befinden sich
Amerika, Frankreich und England nicht mehr im Kriegszustand mit
Deutschland.
Harry S. Truman. Gemälde, WIKIPEDIA
Was US-Präsident Harry S. Truman an diesem Tag im Kongress bekannt gibt,
erhellt die Hintergründe für die Gründung der Bundesrepublik, auf die im
Ostteil die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik folgt.
Amerika habe, sagt der US-Präsident, mit den Alliierten seit Beendigung
des Kriegs das Ziel verfolgt, einen Friedensvertrag mit der deutschen
Regierung abzuschließen; die Sowjetunion habe jedoch das Zustandekommen
einer solchen Regierung für ein geeintes Deutschland verhindert und eine
endgültige Friedensregelung zunächst unmöglich gemacht.
Dadurch sei man gezwungen gewesen, sich auf den unter westalliierter
Kontrolle stehenden Teil Deutschlands zu konzentrieren. Die
Bundesregierung in Bonn stütze sich auf eine demokratische Verfassung;
sie habe wachsendes Verantwortungsbewusstsein und eine ständig
zunehmende Bereitschaft gezeigt, ihren Platz in der freien Gemeinschaft
der Völker anzunehmen. Damit seien die Voraussetzungen gegeben, den
Kriegszustand mit dem freien Teil Deutschlands zu beenden.
Der bedeutsame Akt hat weit reichende, praktische Konsequenzen: Deutsche
Reisende und Geschäftsleute haben nun den gleichen Status wie
Staatsbürger anderer befreundeter Staaten. Sie können das Land besuchen
und Geschäftsbeziehungen aufbauen. Freilich: Die Beendigung des
Kriegszustands ändert am Besatzungsstatus nichts.
Zur selben Zeit muss sich die Stadt Kevelaer mit ihrer Kanalisation
beschäftigen. Bisher ist nur der Stadtkern angeschlossen; bald sollen
auch andere Straßen an die Abwasserentsorgung angebunden werden:
Rheinstraße, Jägerstraße, Hoogeweg, Wettener Straße, Rosenbroecksweg,
Weezer, Hubertus-, Brunnen-, Wasser-, Bach-, Mittel-, Windmühlen- und
Wember Straße, Kroaten-, Schanz-, Twiste–dener, Bieg- und Römerstraße.
„Es werden noch Jahre vergehen, bis alle Straßen Kevelaers an die
Kanalisation angeschlossen sind“, stellt die Verwaltung fest. Mit dem
Ausbau soll 1952 begonnen werden.
Bei Aufräumarbeiten auf Trümmergrundstücken werden immer noch Kriegstote
gefunden. In Geldern werden unter Steinen die sterblichen Reste zweier
Männer entdeckt. In Weeze-Baal stößt man auf eine von Erdreich bedeckte
Ju 87, in deren Pilotenkanzel sich zwei tote Soldaten befinden. Ihre
Identität bleibt zunächst unbekannt; sie werden in der Weezer
Kriegsgräberstätte beigesetzt.
In der Tageszeitung erscheint eine bemerkenswerte Meldung: Bei Woronesch
in Russland sei im Dezember 1944 ein Soldat namens „Voss oder Vossen“,
etwa 30 Jahre alt, aus Kevelaer oder Umgebung stammend, gefallen.
Angehörige könnten diese Meldung des DRK „dienstags oder donnerstags“ im
Haus der Gemeindevertretung Veert abholen.
Ende Juli heiraten der Bronzegießerei-Unternehmer Willy Pohlenz aus
Kevelaer, Am Kropp 61, und Hedwig Paeßens, ebenfalls aus Kevelaer
stammend.
Festtag für die evangelischen Christen in Kevelaer:
Ihre erste Kirche in der Wallfahrtsstadt wird am 29. Juli geweiht.
Zunächst versammelt sich die Festgemeinde auf dem Hof der
St.-Hubertus-Volksschule, um von ihrer bisherigen Andachtsstätte
Abschied zu nehmen. Hier in der Schule hatten die evangelischen Christen
Räume nutzen dürfen, um Gottesdienst zu feiern. Von dieser Stätte
trennen sie sich nun. Auf dem Schulhof erinnert Pfarrer Peltner aus
Weeze, der die Kevelaerer Gemeinde seelsorglich betreut, an die
Schwierigkeiten während der Zeit des Provisoriums.
Danach zieht die Gemeinde zur Brunnenstraße, wo das kleine, hölzerne
Gotteshaus im Stil nordischer Kirchen mit silbergrauem Schieferdach und
einem Glockentürmchen aufgebaut worden ist. „Es wirkt trotz seines
fremdartigen Stils irgendwie vertraut“, notiert ein Journalist. „Auf dem
hübsch angelegten Vorplatz hatten sich u. a. eingefunden:
Dechant
Janssen, Landrat Bösken,
Bürgermeister
Plümpe und
Baumeister Heynen.“ Baumeister Klatt übergibt den Schlüssel an
Präses D. Held; der wiederum reicht ihn weiter an Pfarrer Peltner.
Superintendent Dr. Echternacht aus Geldern feiert den ersten
Gottesdienst. Pfarrer Peltner dankt Dechant Heinrich Maria Janssen, „der
ehemals in Schneidemühl Pfarrer einer Diaspora-Gemeinde gewesen ist und
daher volles Verständnis für die Evangelische Diaspora-Gemeinde Kevelaer
gezeigt hat“.
Am Tag der Kirchweihe gibt die evangelische Gemeinde Weeze bekannt, dass
sie für die noch nicht eigenständige Gemeinde Kevelaer das Grundstück an
der Brunnenstraße, auf dem nun das Gotteshaus steht, von der Stadt
Kevelaer gekauft hat - ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Gründung
einer evangelischen Gemeinde Kevelaer, die allerdings erst 1955
vollzogen werden kann.
Am Tag nach der Kirchweihe geht es im Stadtrat lebhaft
zu: Viele Aufgaben drängen, aber immer plagt Geldmangel. Dringend muss
die Straßenbeleuchtung erneuert werden. Die Maßnahme wird auf drei Jahre
gestreckt. Nur abschnittsweise kann die Stadt entsprechende Aufträge
vergeben. Zunächst sind Weezer Straße, Alte Weezer Straße, Egmont- und
Friedenstraße sowie ein Teil der Dondertstraße an der Reihe.
Einige Kreuzungsbereiche erhalten immerhin eine Art Notbeleuchtung:
Hubertus-/Windmühlenstraße, Walbecker/Twistedener Straße,
Brunnen-/Bachstraße und Hoogeweg/Jägerstraße. Außerdem wird die
Bahnstraße „notbeleuchtet“.
Die glatten Pflastersteine auf der Rheinstraße müssen beseitigt werden,
weil auf ihnen Fahrzeuge und Fuhrwerke immer wieder ins Rutschen
geraten. Bauern kritisieren, sie könnten die Straße nur mit
unbeschlagenen Pferden passieren. Ein Landwirt verklagt gerade die
Stadt, weil er hier unlängst verunglückt ist. Der Stadtrat geht auf
Nummer sicher und lässt die Rheinstraße in einem ersten Abschnitt - von
der Umgehungsstraße (B 9) bis zur Niersbrücke - mit einem
Basaltsplittteppich nach einem neuen Verfahren überziehen. Dadurch wird
die Oberfläche „griffig und sicher“.
Für die Wember Straße sind weitere Beratungen nötig. Die Instandsetzung
dieser Straße wird besonders teuer, weil beidseitig die Abflussrinnen
neu verlegt werden müssen. Auch das Freibad müsste von Grund auf
hergerichtet werden. Aber hier zögern die Stadtvertreter, denn erst
müsse dafür gesorgt werden, dass die Wasserqualität „wieder stimmt“. An
das von den Freibad-Freunden gewünschte Sprungbrett sei also vorerst
nicht zu denken.
Ein Bürger der Wember Straße hat beantragt, die Zollamtswohnungen an die
Trinkwasserversorgung anzuschließen. Die Ratsmitglieder können sich dazu
nicht durchringen, obwohl die Hauspumpen an der Wember Straße kaum
genießbares Wasser fördern. Die Politiker wollen erst ein Ingenieur-
Gutachten über die Schäden des Trinkwassernetzes und über die
Möglichkeiten seiner Erweiterung abwarten.
Gute Nachrichten gibt es auch: Die Erneuerung der Marienstraße ist fast
beendet, die Erweiterung der Hubertusschule auch. Amtsdirektor Fritz
Holtmann dankt für Zuschüsse und Darlehn des Landes und von anderen
Stellen. Wermutstropfen für die Marienstraße: Sie wird für
Pferdefuhrwerke zunächst gesperrt, weil „die Asphaltdecke den harten
Tritt der Pferdehufe noch nicht vertragen kann“.
August 1951
Anfang August heiraten Karl Kamps (Bahnstr. 20) und Nelly Peters von der
Busmannstraße.
Im Kävels Bläche erscheint zum 73. Geburtstag der Schriftstellerin
Franziska Rademaker (* 1878, † 1961) eine ausführliche Würdigung. Sie
war schon mit 38 Jahren aus dem Schuldienst ausgeschieden und lebte
seitdem als Schriftstellerin in Köln. Nun zieht sie nach Kevelaer um.
Ihr 1920 erschienener Roman „Ave der Heimat“ spielt in Kevelaer und wird
bis 1954 eine Auflage von 40.000 erreichen. Der vom Verlag Butzon &
Bercker herausgegebene Roman wird zur Zeit im Kirchenblatt der Diözese
Limburg in Fortsetzungen nachgedruckt.
Zum ersten Mal nach dem Krieg fährt am 8. August ein Pilgerzug aus
Holland nach Kevelaer. Mit besonderer Freude werden 700 Gläubige aus
Nimwegen am Bahnhof begrüßt. Weitere Sonderzüge mit Pilgern aus Holland
sind für die Wallfahrtszeit angekündigt.
Das
Kävels Bläche bringt eine Anzeige des Getränkegroßhandels Tenhaef:
„Jetzt auch in Kevelaer und Umgebung! ‚Sinalco‘, die beste deutsche
Fruchtsaftlimonade! ‚Sinalco‘, ein internationales Erfrischungsgetränk
für jung und alt! ‚Sinalco‘ gibt es in der ganzen Welt!“
Die
Anzeige ist mit einem Foto geschmückt, das ein junges, strahlendes
Mädchen mit Sinalco-Flasche in der Hand zeigt. „Verlangen Sie in den
Gaststätten ausdrücklich ‚Sinalco‘, hergestellt aus edelsten Südfrüchten
und mit reinem Zucker verarbeitet“, empfiehlt der „Alleinige Hersteller
im Kreis Geldern: Peter Tenhaef, Kevelaer. Fabrik alkoholfreier
Getränke“.
Für Tenhaef ist die Marke Sinalco bedeutsam: Mit ihrer Produktion
beginnt der Aufschwung des Kevelaerer Getränke-Großhändlers.
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© Martin Willing 2012, 2013