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Am
Montag konnte das neue Caritas-Centrum an der Marktstr. 35 in Kevelaer
(Bild) besichtigt werden; schön dass hier alles unter einem Dach angeboten wird
- allgemeine Sozialberatung, der Familiendienst, die Schuldner- und
Migrations-, die Erziehungs- und Kurberatung.
Am Tag davor, im Sonntagsgottesdienst in der Marienbasilika, hatte Wallfahrtsleiter Rolf Lohmann in einer aufrüttelnden Predigt seine
Kirche und alle, die in ihr Verantwortung tragen, ermahnt, die Wirklichkeit der
Menschen von heute wahrzunehmen und sich auf sie einzustellen.
Am Tag vor dem Gottesdienst, am Samstag, waren nur die ersten drei Reihen im
Forum Pax Christi besetzt gewesen, als sich die Pilger zur abendlichen
Lichterprozession sammelten - kaum 200 Teilnehmer, und das in der einst
besucherstärksten Periode der Wallfahrtszeit.
Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen.
Wir müssen die Wirklichkeit der Menschen von heute so zur Kenntnis
nehmen, wie sie ist. Und die Kirche muss in der Wirklichkeit ankommen.
Das neue Caritas-Centrum ist keine Arztpraxis für gesellschaftliche
Krankheiten, und nach der Beratung ist keineswegs alles wieder heil.
Nein, der soziale Frieden unter uns allen ist in Gefahr, weil immer mehr Menschen mit
ihrer Lebenswirklichkeit nicht klarkommen. Und die Kirche ist ihnen
dabei nicht immer eine Hilfe.
Sie, die früher im Zentrum der Menschen stand, hat sich fortschreitend
entvölkert, weil sich viele Gläubigen der Macht der Kirche nicht mehr
beugen wollten. Die
Anzahl derer, die noch regelmäßig am Gemeindeleben teilnehmen, rutscht
unter die Marke von fünf Prozent der Kirchensteuerzahler. Und selbst deren
Anzahl nimmt galoppierend ab. Taufe, Firmung, Hochzeit und Begräbnis
werden gebucht wie Stücke aus dem Repertoire eines Familientheaters.
Anschließend gehen die Akteure auf Tauchstation, um sich bestenfalls zu
Weihnachten, am "Fest der Liebe", einmal blicken zu lassen.
Hat sich die Kirche, deren Mitglieder noch vor wenigen Jahrzehnten den
Kapellenplatz bevölkerten, wenn ein Bischof angekündigt wurde,
verändert? Ja, zaghaft und marginal. Stärker aber haben sich die Menschen
verändert. Und das war auch nötig. Doch die Kirche kam nicht mit.
So suchten Menschen vielfach allein ihren Weg. Sie gingen nicht immer in
eine gute Richtung. Und dann gab es viele, die erst gar nicht mehr
suchten, sondern sich nur noch um ihre eigenen Interessen kümmerten. Die
patriarchalen Traditionen der Kirche wirkten auf sie nur noch
befremdlich.
Ich habe mir gestern noch einmal die Fernsehaufzeichnung zum Papstbesuch 1987 in Kevelaer angeschaut
und war erschrocken. Wir von der Zeitung haben damals mitgespielt.
Allein unser "Kevelaerer Blatt" stellte sechs Text- und
Bild-Journalisten, um die wenigen Besuchsstunden des Papstes zu
dokumentieren.
Die schier
grenzenlose Verherrlichung eines Menschen macht mich heute nur noch
traurig. Sie hat sich erhalten - ebenso wie die hypnotische Wirkung
eines solchen Groß-Events auf die Massen.
Für einen Moment stellte ich mir vor, Christus wäre nicht nur in uns,
sondern stünde sichtbar und hörbar mitten unter uns. Er würde, davon bin
ich überzeugt, mit solchen Inszenierungen sofort Schluss machen.
Sie aber nehmen eher zu, denn leise Töne hört man nicht mehr in der Wirklichkeit der Menschen
von heute. Die Kirche sieht staunend zu, wie ihr seit 2000 Jahren
gezeichnetes Wunschbild, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen zu
gestalten sei, immer mehr ihren Realitätsbezug verliert und zum
Abziehbildchen fürs Poesiealbum wird.
Während der Übergangsphase, in der wir stecken,
werden kirchliche Angebote noch konsumiert, falls sie sich als Events in die
selbstbestimmte Gestaltung des Familienlebens einbauen lassen. Aber so
wie Form und äußere Feier zum Wichtigsten für viele geworden sind, so nutzt
sich die Attraktivität solcher Familien-Events schnell ab. Schließlich werden auch solche kirchlichen
Angebote entbehrlich. Denn wer die Eucharistie nicht als Gegenwart Gottes
begreift, kann die wahre Bedeutung der Erstkommunion für sein Kind
nicht einschätzen. Und im Zweifel glaubt er vielleicht, mit einem neuen
iPhone 5 ihm eine noch größere Freude zu bereiten.
Zu der Wirklichkeit von heute zählen aber auch die vielen Menschen, die
trotz allem mit ihrer Kirche im Reinen sind - aber die Kirche nicht mit ihnen. Sie
hoffen auf die Barmherzigkeit, die Christus vorgelebt hat. Sie hoffen
darauf, dass die Priester auf sie zugehen, so wie Christus lieber zu den
Armen, Entrechteten und Sündern gegangen ist als zu den oft nur
scheinbar Gerechten. Sie hoffen darauf, dass die
Kirche nicht nur predigt, dass Gott die Liebe ist, sondern auch
danach handelt.
Für die Erneuerung zu einer liebenden Kirche sehen wir überall Ansätze,
die mit der Kirche versöhnen. Und wir erleben sie bereits in
Pfarrgemeinden, die uns vertraut sind und deren Priester alle einladen
und nicht nur viele.
Wie einfach solches Handeln aus der Liebe Gottes ist, habe ich jetzt während der Norder
Küsten-Wallfahrt nach Kevelaer wieder erfahren dürfen. Wir Pilger aus der
Diaspora haben aufeinander geachtet und uns zugehört. Wir haben uns
umarmt und gegenseitig geholfen, die Botschaft des schlichtesten
Gnadenbilds der Welt in uns aufzunehmen. Wir haben, als drei Frauen und
ein Mann aus unserer Gruppe einen himmlischen Marienhymnus sangen, in
diesen drei, vier Minuten mehr verstanden, als uns ein langjähriges
Theologiestudium hätte vermitteln können.
"Sagt den Verzagten, habt Mut!" (Jes 35, 4) - so lautet das Leitwort der
bald zu Ende gehenden Wallfahrtszeit.
Sagt den Verzagten in der Kirchenführung, habt Mut, in der Wirklichkeit
der Menschen von heute anzukommen.
Donnerstag, 4. Oktober 2012
© Martin Willing 2012