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Westerbork - KZ in den Niederlanden

Von hier wurden Anne Frank, Edith Stein und Leni Valk ins Todeslager transportiert 

Leni Valks, Anne Frank, Settela Steinbach
Das Mädchen in der Mitte ist durch sein Tagebuch weltweit bekannt geworden: Anne Frank. Das Foto rechts kennt man ebenfalls in aller Welt, aber kaum jemand weiß den Namen des Mädchens: Es ist die neunjährige Settela Steinbach, eine von 215 Sinti und Roma, die wie Anne Frank und Edith Stein über Westerbork in Holland nach Polen deportiert und dort ermordet worden sind. Die kleine Settela ist in einem der historischen Filme, die die Gedenkstätte im Internet zeigt, zu sehen. Aus den Bildern des bewegenden Films stammt dieses berühmte Standfoto (www.kampwesterbork.nl). - Das kleine Mädchen (links) ist Leni Valk aus Goch, geboren 1933. Es wurde nach Holland in die scheinbare Sicherheit gebracht. Im Mai 1943 wurde das neunjährige Mädchen über Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor transportiert und dort ermordet (Foto: www.lvrs-goch.schulon.org).

Gut zwei Autostunden von Kevelaer entfernt, im Nordosten der Niederlande, liegt der kleine Ort Westerbork. 1939 werden hier in der Einsamkeit der bewaldeten Umgebung Wohnbaracken für etwa tausend junge Männer errichtet. Es sind unverheiratete Flüchtlinge aus Deutschland: Juden.

Die Unterbringung der Männer in Westerbork kostet den niederländischen Staat keinen Cent. Jüdische Organisationen kommen für alles auf - für den Bau der Baracken wie für die Verpflegung der Insassen. Und nicht nur im Fall Westerbork zahlen die Juden selbst: Das Komitee für besondere jüdische Belange verbürgt sich dafür, dass keiner der nach Holland geflüchteten deutschen Juden dem Staat zur Last fallen werde.

Modell vom Lager Westerbork
Modell vom Konzentrationslager Westerbork in Holland.

So erreicht das Komitee bei der Regierung in Den Haag die Duldung von Zehntausenden Flüchtlingen. Für die Übernahme der Unterhaltskosten garantieren die jüdischen Hilfsorganisationen mit Bürgschaftszahlungen in Millionenhöhe. Das Komitee sichert zu, auf die eingereisten Juden einzuwirken, dass sie baldmöglichst in andere Länder emigrieren. Die meisten Juden wandern tatsächlich in Drittländer aus; nur eine Minderheit bleibt in den Niederlanden.

Wer es bis 1940 über die Grenze nach Holland geschafft hat, fühlt sich gerettet oder zumindest in größerer Sicherheit als in Nazi-Deutschland.

So ergeht es auch der Familie von Anne Frank, die bereits 1933 von Frankfurt nach Amsterdam ausgewandert ist, außerdem der Ordensschwester Dr. Edith Stein, die nach der „Kristallnacht“ 1938 in den Karmel Echt im Nachbarland flieht, und der fünfjährigen Leni Valk aus Goch, die im November 1938 nach der Verhaftung ihres Vaters zu Verwandten in Leeuwarden gebracht wird - in die trügerische Sicherheit.

Die niederländische Regierung schränkt trotz der Kostenübernahme durch jüdische Organisationen die Einreise ab 1934 stark ein. Doch immer noch flüchten in Todesangst Zehntausende Menschen über die Grenze, besonders nach dem November-Schock von 1938, als der braune Mob („Kristallnacht“) Juden jagt, deren Eigentum zerstört und Synagogen brandschatzt. Vier Wochen danach macht Den Haag die Staatsgrenze dicht, um den Strom der „illegal Einreisenden“ zu stoppen. Selbst jetzt finden viele Flüchtlinge noch Wege ins Reich von Königin Wilhelmina.

Die niederländische Regierung kann nun nicht anders, als zunächst 25 Auffanglager einzurichten. Im Oktober 1939 erklärt sie eine Anlage im Nordosten der Niederlande zum zentralen Flüchtlingslager für die Niederlande - die Baracken von Westerbork.

Das Kartenhaus der Sicherheit bricht am 10. Mai 1940 zusammen, als die deutsche Wehrmacht das Land besetzt. Mit der systematischen Erfassung aller Juden und ihrer Lagereinweisung wird sehr bald begonnen. Westerbork, das von den Juden selbst finanzierte Lager, wird von den Nazis zum Haupt-KZ umfunktioniert, in dem fast alle der 102.000 Juden, die in den Niederlanden aufgegriffen werden können, festgesetzt werden - bis zu ihrer Deportation in die osteuropäischen Vernichtungslager.

Ende September 1942 meldet Hanns Albin Rauter, der Höhere SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, an Heinrich Himmler, den Reichsführer-SS: „Am 15. Oktober wird das Judentum in Holland für vogelfrei erklärt.“

Edith SteinFür Edith Stein ist die Stunde bereits da. Sie ist Opfer eines Racheakts der Nazis an den Kirchen Hollands geworden:

Edith Stein.

Im Sommer 1942 unterzeichnen die Vertreter aller großen Kirchen der Niederlande ein Protestschreiben gegen die erste Deportation von Juden nach Osteuropa. Die Einigkeit der Kirchen zerbricht an der Frage, ob und wie dieser Protest öffentlich gemacht werden soll. Die bedeutendste protestantische Kirche, die Hervormde Kerk, will den Brief öffentlich verlesen lassen. Die katholische und die calvinistische Kirche stimmen zu. Aber als die Deutschen, denen die Vorbereitungen nicht verborgen geblieben sind, mit Vergeltung drohen, zuckt der protestantische Teil der Kirchenallianz zurück.

Die katholische Kirche, vorneweg der Utrechter Erzbischof Jan de Jong, lässt sich nicht einschüchtern und veröffentlicht am 26. Juli 1942 einen Hirtenbrief gegen die Behandlung der Juden durch die Deutschen. Ausdrücklich macht de Jong keinen Unterschied zwischen Juden und zum Katholizismus konvertierten Juden.


Zurück von Auschwitz: leere Züge.

Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart, oberster Nazi in den besetzten Niederlanden, will den Bischof und die katholische Kirche genau dafür abstrafen, dass sie nicht zwischen den Juden differenzieren. Um Erzbischof de Jong besonders zu treffen, verhaften die Nazis gezielt zum katholischen Glauben konvertierte Juden.

Bei dieser Aktion wird - am 2. August 1942 - auch die Ordensschwester Edith Stein mit ihrer Schwester Rosa festgesetzt, nach Westerbork gebracht und schon bald nach Auschwitz transportiert. Dort wird Edith Stein - 1987 seliggespochen - am 9. August 1942 ermordet.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Familie von Anne Frank bereits seit einem Monat untergetaucht. Sie befindet sich in einem sorgfältig vorbereiteten Versteck - in der Prinsengracht in Amsterdam. Dort leben die Franks zwei Jahre, bis am 4. August 1944 SS-Männer das Achterhuis gründlich durchsuchen und alle hier Untergetauchten, darunter Anne Frank, verhaften. Die Eltern werden von einem Gefängnis in Amsterdam über die Station Westerbork nach Auschwitz deportiert. Vater Otto Frank überlebt das Grauen - als einziger der Familie. Die Töchter Anne und Margot werden nach Bergen-Belsen gebracht, wo sie wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers an Typhus sterben. Im Versteck von Anne Frank in Amsterdam findet man später ihr berühmtes Tagebuch.

Leni Valk, Tochter des Gocher Textileinzelhändlers Walter Valk und seiner Frau Erna, ist fünf Jahre alt, als sie nach der „Kristallnacht“ 1938 und der Verhaftung des Vaters über die Grenze zur Bahnstation Boxmeer gebracht und dort in den Zug nach Leeuwarden gesetzt wird. Sie trägt ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: „Bitte helft diesem Kind, Zielort: Leeuwarden“. Leni kommt glücklich an. Mit Briefen wird der Kontakt zur Familie in Goch aufrecht erhalten.

Vater Valk wird im Februar 1939 aus dem KZ entlassen und darf nach Goch zurückkehren. Ende 1941 werden beide Eltern erneut verhaftet und in Konzentrationslager eingeliefert. Sie überleben und werden 1945 befreit. Sofort beginnen sie mit der Suche nach Leni. Erst 1947 erfahren sie, was inzwischen geschehen ist.

Lenis Onkel Isaak Valk und Tante Hertha müssen sich sehr geschickt verhalten haben, denn es gelingt ihnen bis Anfang 1943, der SS und den mit hohen Prämien belohnten Kopfjägern zu entgehen. Die Nazis haben um diese Zeit die meisten der über 100.000 Juden in den Niederlanden aufgegriffen und in Lagern interniert. Sie sind bereits dabei, nun auch die etwa 8.000 jüdischen Patienten, die sich zu der Zeit in Krankenhäusern befinden, zu verhaften und in Polen ermorden zu lassen.

Seyß-InquartWer hofft, dass die für die Deutschen schlechten Nachrichten von den Fronten - die Rote Armee steht bereits an der Grenze zu Polen, die Amerikaner landen südlich von Rom - die ständigen Mordaktionen der Nazis bremsen könnten, sieht geradezu das Gegenteil eintreten.

Reichskommissar Dr. Arthur Seyß-Inquart.

Reichskommissar Seyß-Inquart droht am 29. Januar 1943 den Niederländern die „gleiche totale Zusammenfassung der Kräfte“ an, wie sie im Hitler-Erlass vom 13. Januar über den „totalen Krieg“ gefordert werde:

 „In einem Augenblick, in dem unsere Männer, Väter und Söhne mit eiserner Entschlossenheit ihrem Schicksal im Osten entgegensehen und unerschütterlich und unerschüttert den höchsten Einsatz leisten, ist es unerträglich, Konspirationen zu dulden, die es sich zum Ziel setzen, den Rücken dieser Ostfront unsicher zu machen. Wer dies wagt, muß vernichtet werden.“

Damit meint er nicht die Juden, denn die sind schon - zum größten Teil - interniert oder vernichtet. Seyß-Inquart meint die immer erfolgreicher agierenden Frauen und Männer des aktiven Widerstands in dem von ihm verantworteten Besatzungsraum und die Beschützer von vielleicht 25.000 untergetauchten Verfolgten. In Holland, das zeichnet sich ab, ist das NS-Regime gescheitert.

Gleise in Westerbork
In der Nähe dieser Eisenbahnrampe des Lagers Westerbork haben sich Leni Valk, Anne Frank, Edith Stein und 102.000 weitere Menschen aufgehalten, bevor sie in Viehwaggons abtransportiert und ermordet wurden. Das KZ Westerbork ist heute eine Gedenkstätte.

Anton MussertDerweil leisten sich die Nazis in den Niederlanden ein Schmierentheater: Anton Mussert, Gründer der Nationaal Socialistische Beweging (NSB), der am meisten gehasste Niederländer und von Hitler und besonders Himmler ausgebremste Führer der Niederländer (Leider), wird von Reichskommissar Seyß-Inquart mit einer bedeutungslosen, aber großartig klingenden Aufgabe betraut.

Anton Mussert.

Mussert darf als Marionette die im Januar 1943 gebildete „Staatskanzlei“ führen und sich fast wie ein Staatsoberhaupt fühlen - freilich ohne den Hauch eines Einflusses auf die Geschehnisse in den Niederlanden.

In den Tagen, da Mussert ein neues Wappen malt und Briefpapier drucken lässt für eine Staatskanzlei, die es tatsächlich nur auf dem Papier gibt, wird das kleine Mädchen Leni Valk mit der Familie des Onkels verhaftet. Am 11. Januar 1943 trifft das Kind im KZ Westerbork ein. Am 18. Mai wird es in einen der wöchentlich abgehenden Deportationszüge gesteckt. Drei Tage dauert die Fahrt bis Sobibor in Polen. Am 21. Mai stirbt das neunjährige Mädchen - wie Onkel Isaak und Tante Hertha - in einer Gaskammer.

Gedenkstätte Westerbork
Die 102.000 Steine in der Gedenkstätte Westerbork stehen für 102.000 ermordete Menschen.
Fotos: Martin Willing

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Judenverfolgung Textstellen in der Kevelaerer Enzyklopädie:
| Edmund Janssen | Kevelaer und die NS-Zeit | Vernichtung der Synagogen | Edith Stein |

© Martin Willing 2012, 2013