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VON DELIA EVERS
Viele Menschen in Kevelaer fühlen sich dem Caritas-Baby-Hospital in
Bethlehem verbunden und haben zuletzt bei der Geburtstagsfeier für
Weihbischof Heinrich Janssen (Xanten) mit anderen Gästen einige Tausend
Euro gespendet. Die Idee zu diesem besonderen Kinder-Krankenhaus
entstand in der Heiligen Nacht vor 50 Jahren; so hat es eine eigene
Weihnachtsgeschichte neben der ganz großen, weltprägenden, die sich nur
ein paar Steinwürfe entfernt zu Beginn unserer Zeitrechnung ereignet
hat.
In dieser Nacht vor 50 Jahren gibt es keinen Schweifstern, der ein
großes Ereignis ankündigt; es hängen keine Engel mit Schalmeien im
Himmel, und es liegt kein lebendiges Kind in der Krippe. Der Name des
Kindes, das vor 50 Jahren die Gründung des Hospitals auslöst, ist nicht
überliefert. Nur eins ist gewiss. Das Kind ist klein und tot.
Heiligabend 1952, ein Mittwoch, spät abends - in der Nähe von Bethlehem
liegt ein Flüchtlingslager. Menschen richten sich für die Nacht ein;
ihnen ist kaum etwas geblieben. Der israelische Unabhängigkeitskrieg
liegt nur wenige Jahre zurück, die Israelis haben alt eingesessene
arabische Dörfer zerstört und selbst in Gebieten gewütet, die ihnen
nicht zugeteilt waren.
Hunderttausende von Arabern sind geflohen. Viele von ihnen hausen noch
immer in riesigen Flüchtlingslagern wie in dem Camp bei Bethlehem. Das
Essen ist viel zu knapp, es gibt kaum Wasser; und es ist zu kostbar, um
sich damit zu waschen oder die Wäsche zu machen. Im Lager stinkt es,
auch die Menschen stinken in ihrer Not. An Hygiene ist nicht zu denken.
Das Lager ist wie ein Ghetto; es gibt keine Herbergen, in denen Platz
für sie wäre. Sie sind nicht gekommen, um sich schätzen zu lassen wie
einst Maria und Josef. Sie werden nicht geschätzt, sondern verflucht.
Sie sollen aus dem Heiligen Land verschwinden.
Heiligabend 1952; niemand hat überliefert, wie das Wetter ist.
Vielleicht brennen ein paar Feuer, obwohl das Holz sehr knapp ist; und
der Wind trägt den Geruch der Brandscheite in dünnen Fahnen vor die Tore
von Bethlehem. Dort steht, und das ist gewiss, der Schweizer Pater Ernst
Schnydrig und schaut in die Ferne. Vielleicht wäre er gern wie all die
vielen Millionen Menschen auf der Welt in dieser besonderen Nacht mit
seinen Gedanken im biblischen Bethlehem, er bräuchte nur auf dem Absatz
kehrt zu machen; nach ein paar Schritten wäre er dort, wo nach der
Überlieferung die Geburtsgrotte Jesu liegt. Er könnte wie die Hirten
niederfallen, die Augen vor dem Flüchtlingselend schließen und die frohe
Kunde hören. Stille Nacht, Heilige Nacht. Doch der Wind trägt Stimmen
aus dem Flüchtlingslager zu ihm herüber. Nicht alles schläft.
Pater Ernst Schnydrig wacht und steht zwischen Bethlehem und dem
Flüchtlingselend. Da löst sich vor dem Lager ein Araber aus dem Dunkeln.
Er geht so gebeugt wie Menschen gehen, die verzweifelt sind. Er trägt
einen Schmerz, und er trägt ein totes Kind. Der Mann geht schwer und
legt das Kind auf den Boden, scharrt im Morast eine Grube frei und
bettet das Bündel hinein. Sicher ist das Kind mit den schwarzen Locken
des palästinensischen Volks vor der Vertreibung hold gewesen; jetzt
schläft es in Ruh. Der Vater wird die Ruh nicht himmlisch nennen.
Langsam tritt der Mann den Rückweg an. Er wird nie erfahren, dass es
sein Kind ist, das zum Segen für Tausende von Kindern werden wird. Auch
Pater Schnydrig weiß nichts davon. Er hat keine Ahnung, dass es eine
besondere Nacht werden wird, eine Heilige Nacht, in der doch noch ein
Stern aufgeht.
Er steht erschüttert da und greift sich ans Herz, weil sein Verstand
nicht greifen kann, dass ein paar Meter hinter ihm die
Weihnachtsgeschichte lebendig wurde und ein paar Meter vor ihm ein Vater
sein totes Kind verscharrt, das ohnehin nie die Chance gehabt hätte,
Festtagsvokabeln wie „Bratapfel“ und „Weihnachtsgans“ zu lernen.
Plötzlich hat der Pater zwei Wörter im Kopf, die so alt sind wie das
Warum aller Menschen.
Nie wieder!
Er spürt, wie der Tod des Kindes zum Leitstern einer Idee wird und gibt
ein Versprechen ab: „Nie wieder soll einem Kind am Geburtsort Jesu
medizinische Hilfe verwehrt bleiben“. So plötzlich erfährt er die
Antwort für sich auf das Warum, macht sie zu seiner Lebensaufgabe und
richtet das Caritas-Baby-Hospital ein, das seither Tausenden von Kindern
aller Nationalitäten geholfen hat.
Schnydrig beginnt klein, mietet ein Haus an, stellt 14 Betten hinein und
gründet die Kinderhilfe Bethlehem als unabhängigen,
deutsch-schweizerischen Verein, um die Arbeit finanziell zu sichern. Das
Provisorium entwickelt sich zu einem modernen Hospital. 1978 wird ein
Neubau mit 82 Betten, einer Isolier- und einer Neugeborenen-Station
eingeweiht. Pater Schnydrig erlebt den Festtag nicht. Er stirbt wenige
Tage vorher. Sein Vermächtnis steht im Grundstein des Neubaus:
„Wir haben den Ärmsten geholfen, so gut wir konnten, und haben dabei nie
nach Rasse oder Religion gefragt.“
Es liegt nicht an Pater Schnydrig, dass er sein Versprechen nicht halten
kann. Wie hätte er ahnen sollen, dass 50 Jahre später über seinem
Hospital israelische Kampfhubschrauber stehen und ins palästinensisch
verwaltete Bethlehem schießen.
Als ich das Caritas-Baby-Hospital während meiner Israelreise 2001
besuche, schildert uns ein junger Mann aus der Hospitalverwaltung das
Schicksal eines kleinen Mädchens. Die Mutter stammt aus Gaza an der
Küste, sie hat das völlig unterernährte Kind im Krankenhaus abgegeben.
Sie musste nach Gaza zurück. Ihre Heimat wurde genau so abgeriegelt wie
Bethlehem.
Seit einem halben Jahr kann sie ihr Kind nicht mehr sehen.
Verbitterung und Empörung liegen in der Stimme des jungen Mannes, als er
erzählt, dass Mütter, die mit ihren kranken Babys auf dem Arm oft
stundenlang durch die Steinwüste nach Bethlehem gelaufen sind,
erschöpft, ausgetrocknet und entkräftet vor den Sperren stehen und
abgewiesen werden.
Er ist sicher, dass einige von den Kindern gestorben sind - 50 Jahre
nach Stiftung des Hospitals und nur wenige Meter von ihm entfernt,
vielleicht ungefähr da, wo damals Pater Schnydrig gestanden hat.
Entfernungen, selbst ein paar Meter, sind unüberbrückbar im Hass. Sie
sind im Flug zu nehmen für das Mitgefühl.
Es ist ein Tag im November 2001, 14.30 Uhr, Besuchszeit im
Caritas-Baby-Hospital. Mit erwartungsvollen Augen blicken die Kinder in
ihren Betten auf die Eingangstür der Station. Sehnsüchtig warten sie auf
ihre Eltern. Aber auch heute ist das Warten vergebens. Kaum eine Mutter
oder ein Vater schafft es, das Hospital zu erreichen. Seit Tagen bleiben
die Ärzte und Schwestern die einzigen Bezugspersonen. Mit ihnen und den
acht Ordensschwestern werden die Kinder auch das Weihnachtsfest feiern.
Denn Bethlehem ist im Ausnahmezustand. Seit Beginn der Adventszeit ist
israelisches Militär in den Ort eingerückt. Während sich Christen in
aller Welt auf Weihnachten vorbereiten, herrscht am Geburtsort Jesu
strikte Ausgangssperre. Das Leben kommt zum Erliegen.
Einen normalen Alltag gibt es nicht. „Mit unserer Arbeit im Hospital
wollen wir dazu beitragen, dass die Menschen die Hoffnung trotz der
schwierigen Situation nicht aufgeben,“ sagt Klaus Röllin,
Geschäftsführer der Kinderhilfe Bethlehem, Trägerin des Hospitals.
Während sich die Menschen in den letzten Monaten schon daran gewöhnt
hatten, außerhalb ihrer Ortschaften an israelischen Straßensperren
abgewiesen zu werden, bringt die erneute Besatzung in diesem Jahr neue
Not über die Familien von Bethlehem. Ließen sich die Militärposten
außerhalb der palästinensischen Ortschaften noch mit Schleichwegen über
die Hügel umgehen, wachen jetzt Soldaten in den Straßen Bethlehems.
Niemand darf sein Haus verlassen. Bethlehem wirkt wie eingefroren. Die
Straßen sind menschenleer.
Nur wenige Patienten sind im Hospital, die meisten stammen aus
Bethlehem. Das war früher anders. „Normalerweise kommen die Kinder aus
allen Teilen des Westjordanlands“, sagt Röllin. Noch immer ist das
Caritas-Baby-Hospital das einzige auf Kleinkinder spezialisierte
Krankenhaus für Westjordanland und Gazastreifen - hier leben 500.000
Kinder, die jünger als vier Jahre sind.
Niemand wird an den Toren des christlichen Krankenhauses abgewiesen. Für
Bedürftige, die sich keine medizinische Hilfe leisten können, übernimmt
der spitaleigene Sozialdienst die Kosten.
Seit seiner Gründung vor 50 Jahren arbeitet das Hospital ohne
Unterbrechung. Selbst in diesem Jahr, als israelische Panzer Bethlehem
wochenlang besetzt hielten, standen die Ärzte und Schwestern Tag und
Nacht bereit. Genauso wie jetzt, da das Militär zum dritten Mal
dauerhaft in Bethlehem einmarschiert ist. Die kurzen Pausen der
Ausgangssperren nutzen Mütter, um ihre kranken Kinder ambulant im
Caritas-Baby-Hospital behandeln zu lassen. In diesen Stunden herrscht
große Betriebsamkeit. Die Ärzte untersuchen so viele Kinder wie möglich
und geben ihnen die notwenigen Medikamente meist direkt mit. Zu ungewiss
ist, ob die Zeit für den Besuch einer Apotheke noch reicht und ob das
Medikament dort vorrätig ist. Schwere Fälle werden trotz der
sorgenvollen Gesichter der Mütter stationär aufgenommen. „Wie soll ich
mein Kind im Krankenhaus besuchen, wenn ich nicht weiß, ob ich morgen
aus dem Haus darf“, sagt eine verängstigte Mutter weinend; sie muss ihre
Tochter wegen einer schweren Infektion im Hospital zurücklassen. Wer
nicht zum Arzt muss, versucht in der kurzen Zeit das Nötigste zum
Überleben zu ergattern. Doch auch das wird immer schwieriger. Den
Geschäften fehlt der Nachschub und den Menschen das Geld, um sich
Lebensmittel zu kaufen.
Das Caritas-Baby-Hospital ist eine der wenigen Einrichtungen in
Bethlehem, die die Turbulenzen der letzten Monate ohne Schaden
überstanden haben. Dank zahlreicher Spender aus Deutschland, der Schweiz
und Italien ist es voll funktionsfähig. Auch der spitaleigene
Sozialdienst leistet große Hilfe. Leiterin Schwester Silvia und ihre
Kolleginnen haben in den letzten Monaten mehr als 120 Fälle am Tag
betreut. Jetzt beratschlagen sie, wie sie die Hilfe trotz Ausgangssperre
zu den Menschen bringen können. Viele Familien sind auf Decken und
Kleider sowie auf Medikamente und Milchpulver aus dem Hospital
angewiesen. Die Not wächst täglich. Die Vereinten Nationen gehen davon
aus, dass am Heilig Abend Zweidrittel aller Palästinenser unterhalb der
Armutsgrenze leben.
Besonders die Kinder sind von der Not betroffen. Ihre Ernährung besteht
häufig nur aus Reis, Bohnen, Tee und Wasser. Entsprechend geschwächt und
anfällig ist ihre Gesundheit. Eine gewöhnliche Erkältung hat leichtes
Spiel und wird zu einer ernsthaften Bedrohung. Besonders der Winter
macht den Ärzten Sorge, da sie mit vielen unterkühlten Kindern rechnen
müssen.
In Bethlehem ist Weihnachten ein gespenstisches Fest.
© Martin Willing 2012, 2013