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ISRAEL (2)

Das Kind in der Krippe

Pilgerreise ins Heilige Land: Caritas-Baby-Hospital in Bethlehem (2001)

WegweiserViele Menschen in Kevelaer fühlen sich dem Caritas-Baby-Hospital in Bethlehem verbunden und haben zuletzt bei der Geburtstagsfeier für > Weihbischof Heinrich Janssen (Xanten) mit anderen Gästen einige Tausend Euro gespendet. Die Idee zu diesem besonderen Kinder-Krankenhaus entstand in der Heiligen Nacht vor 50 Jahren; so hat es eine eigene Weihnachtsgeschichte neben der ganz großen, weltprägenden, die sich nur ein paar Steinwürfe entfernt zu Beginn unserer Zeitrechnung ereignet hat.

In dieser Nacht vor 50 Jahren gibt es keinen Schweifstern, der ein großes Ereignis ankündigt; es hängen keine Engel mit Schalmeien im Himmel, und es liegt kein lebendiges Kind in der Krippe. Der Name des Kindes, das vor 50 Jahren die Gründung des Hospitals auslöst, ist nicht überliefert. Nur eins ist gewiss. Das Kind ist klein und tot.

Heiligabend 1952, ein Mittwoch, spät abends - in der Nähe von Bethlehem liegt ein Flüchtlingslager. Menschen richten sich für die Nacht ein; ihnen ist kaum etwas geblieben. Der israelische Unabhängigkeitskrieg liegt nur wenige Jahre zurück, die Israelis haben alt eingesessene arabische Dörfer zerstört und selbst in Gebieten gewütet, die ihnen nicht zugeteilt waren.

Hunderttausende von Arabern sind geflohen. Viele von ihnen hausen noch immer in riesigen Flüchtlingslagern wie in dem Camp bei Bethlehem. Das Essen ist viel zu knapp, es gibt kaum Wasser; und es ist zu kostbar, um sich damit zu waschen oder die Wäsche zu machen. Im Lager stinkt es, auch die Menschen stinken in ihrer Not. An Hygiene ist nicht zu denken. Das Lager ist wie ein Ghetto; es gibt keine Herbergen, in denen Platz für sie wäre. Sie sind nicht gekommen, um sich schätzen zu lassen wie einst Maria und Josef. Sie werden nicht geschätzt, sondern verflucht. Sie sollen aus dem Heiligen Land verschwinden.

Heiligabend 1952; niemand hat überliefert, wie das Wetter ist.

Vielleicht brennen ein paar Feuer, obwohl das Holz sehr knapp ist; und der Wind trägt den Geruch der Brandscheite in dünnen Fahnen vor die Tore von Bethlehem. Dort steht, und das ist gewiss, der Schweizer Pater Ernst Schnydrig und schaut in die Ferne. Vielleicht wäre er gern wie all die vielen Millionen Menschen auf der Welt in dieser besonderen Nacht mit seinen Gedanken im biblischen Bethlehem, er bräuchte nur auf dem Absatz kehrt zu machen; nach ein paar Schritten wäre er dort, wo nach der Überlieferung die Geburtsgrotte Jesu liegt. Er könnte wie die Hirten niederfallen, die Augen vor dem Flüchtlingselend schließen und die frohe Kunde hören. Stille Nacht, Heilige Nacht. Doch der Wind trägt Stimmen aus dem Flüchtlingslager zu ihm herüber. Nicht alles schläft.

Pater Ernst Schnydrig wacht und steht zwischen Bethlehem und dem Flüchtlingselend. Da löst sich vor dem Lager ein Araber aus dem Dunkeln. Er geht so gebeugt wie Menschen gehen, die verzweifelt sind. Er trägt einen Schmerz, und er trägt ein totes Kind. Der Mann geht schwer und legt das Kind auf den Boden, scharrt im Morast eine Grube frei und bettet das Bündel hinein. Sicher ist das Kind mit den schwarzen Locken des palästinensischen Volks vor der Vertreibung hold gewesen; jetzt schläft es in Ruh. Der Vater wird die Ruh nicht himmlisch nennen.

Langsam tritt der Mann den Rückweg an. Er wird nie erfahren, dass es sein Kind ist, das zum Segen für Tausende von Kindern werden wird. Auch Pater Schnydrig weiß nichts davon. Er hat keine Ahnung, dass es eine besondere Nacht werden wird, eine Heilige Nacht, in der doch noch ein Stern aufgeht.

Er steht erschüttert da und greift sich ans Herz, weil sein Verstand nicht greifen kann, dass ein paar Meter hinter ihm die Weihnachtsgeschichte lebendig wurde und ein paar Meter vor ihm ein Vater sein totes Kind verscharrt, das ohnehin nie die Chance gehabt hätte, Festtagsvokabeln wie „Bratapfel“ und „Weihnachtsgans“ zu lernen.

Plötzlich hat der Pater zwei Wörter im Kopf, die so alt sind wie das Warum aller Menschen.

Nie wieder!

Er spürt, wie der Tod des Kindes zum Leitstern einer Idee wird und gibt ein Versprechen ab: „Nie wieder soll einem Kind am Geburtsort Jesu medizinische Hilfe verwehrt bleiben“. So plötzlich erfährt er die Antwort für sich auf das Warum, macht sie zu seiner Lebensaufgabe und richtet das Caritas-Baby-Hospital ein, das seither Tausenden von Kindern aller Nationalitäten geholfen hat.

Schnydrig beginnt klein, mietet ein Haus an, stellt 14 Betten hinein und gründet die Kinderhilfe Bethlehem als unabhängigen, deutsch-schweizerischen Verein, um die Arbeit finanziell zu sichern. Das Provisorium entwickelt sich zu einem modernen Hospital. 1978 wird ein Neubau mit 82 Betten, einer Isolier- und einer Neugeborenen-Station eingeweiht. Pater Schnydrig erlebt den Festtag nicht. Er stirbt wenige Tage vorher. Sein Vermächtnis steht im Grundstein des Neubaus:

„Wir haben den Ärmsten geholfen, so gut wir konnten, und haben dabei nie nach Rasse oder Religion gefragt.“

Es liegt nicht an Pater Schnydrig, dass er sein Versprechen nicht halten kann. Wie hätte er ahnen sollen, dass 50 Jahre später über seinem Hospital israelische Kampfhubschrauber stehen und ins palästinensisch verwaltete Bethlehem schießen.
Als ich das Caritas-Baby-Hospital während meiner Israelreise 2001 besuche, schildert uns ein junger Mann aus der Hospitalverwaltung das Schicksal eines kleinen Mädchens. Die Mutter stammt aus Gaza an der Küste, sie hat das völlig unterernährte Kind im Krankenhaus abgegeben. Sie musste nach Gaza zurück. Ihre Heimat wurde genau so abgeriegelt wie Bethlehem.

Seit einem halben Jahr kann sie ihr Kind nicht mehr sehen.

Verbitterung und Empörung liegen in der Stimme des jungen Mannes, als er erzählt, dass Mütter, die mit ihren kranken Babys auf dem Arm oft stundenlang durch die Steinwüste nach Bethlehem gelaufen sind, erschöpft, ausgetrocknet und entkräftet vor den Sperren stehen und abgewiesen werden.

Er ist sicher, dass einige von den Kindern gestorben sind - 50 Jahre nach Stiftung des Hospitals und nur wenige Meter von ihm entfernt, vielleicht ungefähr da, wo damals Pater Schnydrig gestanden hat. Entfernungen, selbst ein paar Meter, sind unüberbrückbar im Hass. Sie sind im Flug zu nehmen für das Mitgefühl.

Hospital in Bethlehem
Patienten und Schwestern im CBH in Bethlehm. Foto: https://skydrive.live.com

Es ist ein Tag im November 2001, 14.30 Uhr, Besuchszeit im Caritas-Baby-Hospital. Mit erwartungsvollen Augen blicken die Kinder in ihren Betten auf die Eingangstür der Station. Sehnsüchtig warten sie auf ihre Eltern. Aber auch heute ist das Warten vergebens. Kaum eine Mutter oder ein Vater schafft es, das Hospital zu erreichen. Seit Tagen bleiben die Ärzte und Schwestern die einzigen Bezugspersonen. Mit ihnen und den acht Ordensschwestern werden die Kinder auch das Weihnachtsfest feiern. Denn Bethlehem ist im Ausnahmezustand. Seit Beginn der Adventszeit ist israelisches Militär in den Ort eingerückt. Während sich Christen in aller Welt auf Weihnachten vorbereiten, herrscht am Geburtsort Jesu strikte Ausgangssperre. Das Leben kommt zum Erliegen.

Einen normalen Alltag gibt es nicht. „Mit unserer Arbeit im Hospital wollen wir dazu beitragen, dass die Menschen die Hoffnung trotz der schwierigen Situation nicht aufgeben,“ sagt Klaus Röllin, Geschäftsführer der Kinderhilfe Bethlehem, Trägerin des Hospitals. Während sich die Menschen in den letzten Monaten schon daran gewöhnt hatten, außerhalb ihrer Ortschaften an israelischen Straßensperren abgewiesen zu werden, bringt die erneute Besatzung in diesem Jahr neue Not über die Familien von Bethlehem. Ließen sich die Militärposten außerhalb der palästinensischen Ortschaften noch mit Schleichwegen über die Hügel umgehen, wachen jetzt Soldaten in den Straßen Bethlehems. Niemand darf sein Haus verlassen. Bethlehem wirkt wie eingefroren. Die Straßen sind menschenleer.

Nur wenige Patienten sind im Hospital, die meisten stammen aus Bethlehem. Das war früher anders. „Normalerweise kommen die Kinder aus allen Teilen des Westjordanlands“, sagt Röllin. Noch immer ist das Caritas-Baby-Hospital das einzige auf Kleinkinder spezialisierte Krankenhaus für Westjordanland und Gazastreifen - hier leben 500.000 Kinder, die jünger als vier Jahre sind.

Niemand wird an den Toren des christlichen Krankenhauses abgewiesen. Für Bedürftige, die sich keine medizinische Hilfe leisten können, übernimmt der spitaleigene Sozialdienst die Kosten.

Seit seiner Gründung vor 50 Jahren arbeitet das Hospital ohne Unterbrechung. Selbst in diesem Jahr, als israelische Panzer Bethlehem wochenlang besetzt hielten, standen die Ärzte und Schwestern Tag und Nacht bereit. Genauso wie jetzt, da das Militär zum dritten Mal dauerhaft in Bethlehem einmarschiert ist. Die kurzen Pausen der Ausgangssperren nutzen Mütter, um ihre kranken Kinder ambulant im Caritas-Baby-Hospital behandeln zu lassen. In diesen Stunden herrscht große Betriebsamkeit. Die Ärzte untersuchen so viele Kinder wie möglich und geben ihnen die notwenigen Medikamente meist direkt mit. Zu ungewiss ist, ob die Zeit für den Besuch einer Apotheke noch reicht und ob das Medikament dort vorrätig ist. Schwere Fälle werden trotz der sorgenvollen Gesichter der Mütter stationär aufgenommen. „Wie soll ich mein Kind im Krankenhaus besuchen, wenn ich nicht weiß, ob ich morgen aus dem Haus darf“, sagt eine verängstigte Mutter weinend; sie muss ihre Tochter wegen einer schweren Infektion im Hospital zurücklassen. Wer nicht zum Arzt muss, versucht in der kurzen Zeit das Nötigste zum Überleben zu ergattern. Doch auch das wird immer schwieriger. Den Geschäften fehlt der Nachschub und den Menschen das Geld, um sich Lebensmittel zu kaufen.

Das Caritas-Baby-Hospital ist eine der wenigen Einrichtungen in Bethlehem, die die Turbulenzen der letzten Monate ohne Schaden überstanden haben. Dank zahlreicher Spender aus Deutschland, der Schweiz und Italien ist es voll funktionsfähig. Auch der spitaleigene Sozialdienst leistet große Hilfe. Leiterin Schwester Silvia und ihre Kolleginnen haben in den letzten Monaten mehr als 120 Fälle am Tag betreut. Jetzt beratschlagen sie, wie sie die Hilfe trotz Ausgangssperre zu den Menschen bringen können. Viele Familien sind auf Decken und Kleider sowie auf Medikamente und Milchpulver aus dem Hospital angewiesen. Die Not wächst täglich. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass am Heilig Abend Zweidrittel aller Palästinenser unterhalb der Armutsgrenze leben.

Besonders die Kinder sind von der Not betroffen. Ihre Ernährung besteht häufig nur aus Reis, Bohnen, Tee und Wasser. Entsprechend geschwächt und anfällig ist ihre Gesundheit. Eine gewöhnliche Erkältung hat leichtes Spiel und wird zu einer ernsthaften Bedrohung. Besonders der Winter macht den Ärzten Sorge, da sie mit vielen unterkühlten Kindern rechnen müssen.

In Bethlehem ist Weihnachten ein gespenstisches Fest.

Delia Evers

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