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Philosoph, Suchender, Glaubenszeuge | * 1883 Till | † 1945 KZ Bergen-Belsen
Ende der 1920er-Jahre einer der meistgehörten und -gelesenen
Philosophen Deutschlands, lange Zeit fast vergessen, heute mehr und mehr
wieder in lebendiger Erinnerung: Johannes Maria Verweyen, gebürtig aus
Till,
Gaesdonck-Schüler und Kevelaer-Besucher - ein Märtyrer, der im KZ
starb. In den Ranken des
Gerresheim-Kreuzes in der St.-Antonius-Kirche
Kevelaer steht sein Name neben dem weiterer Märtyrer vom Niederrhein.
Seine bewegende Lebensgeschichte beginnt unspektakulär im Mai 1883 in
Till bei Kleve, wo Johannes Maria Verweyen zur Welt kommt und in einem
bäuerlichen Elternhaus aufwächst. Der Gaesdonck-Schüler pilgert häufiger
zum Gnadenbild der Trösterin der Betrübten. Verweyen schreibt in seinen
Erinnerungen: „Die Tiefe der dort gewonnenen religiösen Jugendeindrücke
brachte es mit sich, daß ich später auch als Erwachsener, so oft sich
zur Ferienzeit Gelegenheit bot, diesen stimmungsreichen Ort aufsuchte.“
Als musisch begabter, junger Intellektueller wird Verweyen von
Glaubenszweifeln befallen, der Student bleibt aber zunächst dem Glauben
seiner Jugend zugewandt. 1905 promoviert er in Bonn, wo er 1918
habilitiert und zum Professor für Philosophie berufen wird. Der
Niederrheiner verfasst bedeutende soziologische und philosophische
Werke, dessen Gedanken in Europa und darüber hinaus große Aufmerksamkeit
finden.
Der Philosoph und Theosoph wendet sich 1919 den schöngeistig-ethisch
ausgerichteten Monisten zu. In dieser Entwicklungsphase erfährt er seine
bis dahin tiefste Zäsur: Nach dem Verlust seines Jugendglaubens verliert
er nun auch die Beziehung zu seiner Mutterkirche und erklärt - 1921 -
vor dem Bonner Amtsgericht seinen Austritt aus der katholischen Kirche.
Der ewig Suchende lässt sich 1923, vermutlich in Berlin, in den
Freimaurerbund aufnehmen. Dann hat er, im August 1926, im holländischen
Huizen eine schicksalhafte Begegnung mit Dr. James Wegdwood, dem Bischof
und Begründer der seit 1916 bestehenden so genannten
liberal-katholischen Kirche.
Nach mehrjähriger Überlegung steht sein Entschluss fest, im Rahmen
dieser Glaubensgemeinschaft das priesterliche Berufsideal seiner frühen
Jugendzeit zu verwirklichen. Ende September 1928, am Fest des hl.
Erzengels Michael, empfängt er in Huizen durch Bischof Wedgwood die
Priesterweihe.
Bis 1933 ist Johannes Maria Verweyen für die liberal-katholische Kirche
priesterlich tätig - die Öffentlichkeit, stets an Nachrichten über den
vielfachen Buchautoren und Philosophen interessiert, erfährt davon
nichts. Selbst seine katholischen Eltern am Niederrhein wissen nicht,
dass ihr Sohn in der von Rom unabhängigen Kirche Priester geworden ist.
Nach der Machtergreifung Hitlers verändert sich etwas in dem rastlosen
Sucher: Er spürt in sich eine stetig wachsende Annäherung an die Kirche
seiner Jugend, die katholische Kirche. Er hat im Mai 1935 ein
Erweckungserlebnis, nachdem es sich gefügt hat, dass er der
Heiligsprechung von Thomas Morus und John Fisher auf dem Petersplatz in
Rom beiwohnen kann. Verweyen, der in Rom zum Dank für einen viel
beachteten Vortrag über den Marienwallfahrtsort Lourdes eine Ehrenkarte
für die Feierlichkeiten erhalten hat, sitzt vorne direkt hinter den
Kardinälen und hat Papst Pius XI. unmittelbar im Blick, als dieser die
Messfeier zelebriert.
„Tief hat sich meinem Gedächtnis dieser [...] feierliche Augenblick
eingeprägt, wie ich ihn nie vorher oder nachher erlebte“, schreibt
Verweyen. „Niemals wurde ich in solcher wahrhaft überwältigenden Weise
der göttlichen Wirklichkeit, der Gegenwart Jesu Christi im
Altarsakrament, inne und gewiß. Die Majestät und Wucht dieser
weihevollen Minuten drückte mich mit ganz anderer Stärke als jemals
vorher oder nachher in die Knie, ohne mich jedoch zu erdrücken. Im
Gegenteil, sie erfüllte mich mit einer geradezu überirdischen
Seligkeit.“
Ein Jahr danach verlässt Johannes Maria Verweyen die liberal-katholische
Kirche und wird wieder Mitglied der katholischen Kirche. Seine
Priesterschaft wird, wie erwartet, nicht anerkannt.
Verweyen selbst analysiert 1941 seinen geistigen Werdegang bis dahin
sinngemäß so: Nach Verlust seines Jugendglaubens verharrt er zunächst im
ausschließlichen Diesseits-Positivismus, findet dann von der
Transzendenz zur Immanenz - vom Jenseits zum Diesseits, erweitert sein
Bewusstsein durch die Theosophie, vertieft sein inneres Leben durch
esoterische Schulungen, sucht auf der religiös-metaphysischen Ebene das
Geschenk einer gestifteten Kirche, das Sakramentale, das er früher in
der katholischen Kirche besaß, meint es zunächst in der
liberal-katholischen Kirche zu finden und kehrt schließlich zum Glauben
seiner Jugend zurück.
Bereits ab 1935 hat die Geheime Staatspolizei auf den Philosophen ein
wachsames Auge. Die Gestapo ist allerdings noch nicht auf dem neuesten
Stand. In einem geheimen Dossier von 1935 über Verweyen heißt es: „Er
ist Anhänger der atheistischen Weltanschauung und hat sich im
Monistenbund und freireligiösen Gemeinden führend betätigt. - Er soll
Vortragsreisen in allen größeren Ländern Europas halten und in
politischer Hinsicht sehr zurückhaltend sein. Hält Vorträge bei der
‘Neugeistbewegung’“.
1936 beginnen die Nazis, systematisch nach Verweyen zu suchen.
Telegramme wechseln zwischen der Gestapo in Berlin und Düsseldorf und
der Polizei in Wissel, wo Verweyens Eltern leben, hin und her. Die
Gestapo fertigt ein Bewegungsprofil an („... hat sich Anfang d. M. zur
Teilnahme an der Beerdigung seiner Mutter einen Tag im Landkreis Kleve
aufgehalten ...“), verliert ihn über viele Monate aus den Augen, bildet
sich aus Informationsfetzen ein diffuses Bild von Verweyen, will oder
kann ihn noch nicht fassen - bis im Juni 1941 die Order der Gestapo
Düsseldorf ergeht:
„Betrifft: Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte
Geheimwissenschaften. [...] Ich ersuche nach Verweyen zu fahnden und ihn
im Ermittlungsfalle festzunehmen.“
Dann ein Telegramm „an alle Stapo (Leit) Stellen und
Grenzpolizeikommissariate [...] Ich bitte die Fahndung nach dem
Professor Johannes Maria Verweyen einzustellen, da er in Frankfurt a. M.
festgenommen werden konnte.“
Verweyen wird Anfang September 1941 ins Gefängnis am Alexanderplatz in
Berlin eingeliefert und monatelang von der Gestapo festgehalten, ohne
verhört zu werden. Im Mai 1942 weist man ihn ins KZ Sachsenhausen
ein. Dort trifft er auch etliche Hochschulkollegen wieder, die ihm
persönlich bekannt sind. Im Block 15, der Diplomaten und Geistlichen
vorbehalten ist, hält Verweyen im Geheimen Vorträge über
geisteswissenschaftliche Fragen. Im Block 14, dem Zugangsblock, wo
besonders viele Ausländer inhaftiert sind, gibt Verweyen
Sprachunterricht.
Das Jahr 1945 bricht an. Verweyen, der während der Lagerzeit einen
geradezu kontemplativen Gottesglauben vorlebt, wirkt auf viele Insassen,
die sich in größter Not eher um sich selbst sorgen, sonderbar bis
verrückt. Allmählich spricht sich im Lager herum, dass Verweyen auch auf
die Ärmsten unter den KZ-Insassen, die Fremdstämmigen aus der Ukraine,
aus Polen und der Tschechoslowakei, zugeht und ihnen Worte des Trostes
schenkt.
Aber das ist es nicht allein: Verweyen untermauert seine tröstenden
Worte stets mit einem Stück seiner 270 Gramm Tagesration Brot. Damit
verschenkt er das Kostbarste, das ein KZ-Häftling besitzt: etwas zu
essen. Verweyen selbst magert immer weiter ab.
Russen und Ukrainer nennen den Mann aus Till „Väterchen“: Er ist ihnen
Vater und Bruder, Heimat und Herz. Oft beugt er sich über Sterbende und
spendet ihnen Worte der Liebe.
Er gibt nicht nur Liebe und Brot, er gibt am Ende auch sein Leben.
Als im Februar 1945 mit Blick auf die anrückenden Alliierten ein
Transport von tausend „Fremdstämmigen“, wahren Elendsgestalten, die sich
kaum auf den Beinen halten können, vom KZ Sachsenhausen zum KZ
Bergen-Belsen abgehen soll, weiß jeder, dass Bergen-Belsen die Ermordung
bedeutet. Zahlreiche Ukrainer, zu denen Johannes Maria Verweyen im Lauf
der letzten Zeit Kontakt gehabt hat, bedrängen den Niederrheiner.
Was dann geschieht, haben Überlebende bezeugt: „‘Väterchen’“, rufen die
Ukrainer, ‘laß uns nicht im Stich. Wir haben doch nur dich.’“
Verweyen, selbst bis auf die Knochen abgemagert und zu einem Fußmarsch
von 300 Kilometern kaum fähig, meldet sich, die Ukrainer auf ihrem
letzten Weg nach Bergen-Belsen und damit in den Tod zu begleiten. Der
Todesmarsch endete am 4. Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen.
Unter denen, die überleben und ankommen, ist Johannes Maria Verweyen. Er
wird in eine vom Fleckfieber verseuchte Baracke eingeliefert und ist nun
Gefangener mit der Nr. 42436. Der Lagerkommandant begrüßt die
Angekommenen mit der Erklärung, dass sie hier seien, um zu sterben, weil
sie unproduktiv seien. Und sie sterben, jeden Tag zu Hunderten.
Die Leichen bleiben tagelang liegen, bis ihnen ein Strick oder ein
Riemen um den Arm gebunden wird, an dem sie zu den Verbrennungsöfen
geschleift werden.
Kaum 20 Tage nach seiner Ankunft in Bergen-Belsen, unmittelbar bevor
britische Truppen das Lager befreien, erlischt das Leben des an
Fleckfieber erkrankten Johannes Maria Verweyen.
Es ist der 21. Februar 1945.
„Ich sehe noch“, schreibt später ein überlebender Mithäftling, „wie man
den toten Leib des Professors hinauswarf vor den Block 5. Ich habe vom
gegenüberliegenden Fenster über den toten Professor gebetet.“