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Ortsgeschichte im Kontext der Weltgeschichte | Teil 3
Energiekosten spielen Anfang 1948, als
der dritte bitterkalte Winter in Folge den Niederrhein erfasst, keine
Rolle. Um jeden Preis und selbst für den Preis der Versteppung muss
Brennholz herangeschafft, müssen Wälder gerodet werden, um Heizmaterial,
aber auch Anbauflächen für Kartoffeln und Feldfrüchte zu gewinnen. Mit
ersten Sandverwehungen in Lüllingen und Twisteden sind die rigorosen
Abholzungen zu bezahlen. Es gibt Stimmen, die vor den Spätfolgen warnen.
Aber Menschen, die sich nicht wärmen können, deren Wasserleitungen
zufrieren und die zudem hungern müssen, ist Kurzsichtigkeit nicht
vorzuwerfen.
Die Familien rücken zusammen und bilden kleine soziale Netzwerke, in
denen sich die Menschen auffangen, wenn der Boden unter den Füßen
wegkippt. Auch die, die alles verloren haben, die Flüchtlinge und
Vertriebenen, werden nicht vergessen.
Einheimische, die sich besser zu helfen wissen als Fremde, sieht man
seltener in den Schlangen von der Kevelaerer Volksküche. Sie verzichten
auf ihre Portionen, damit die noch Ärmeren, die keine Kochstelle haben,
die ihre Kinder nicht ernähren können, alt oder allein sind, etwas zu
essen bekommen.
Seit acht Monaten gibt es im Wallfahrtsort diese Volksküche. Jetzt, im
März 1948, werden täglich zwischen 130 und 150 Portionen eines
Eintopfgerichts ausgegeben. Umsonst ist die Speisung nicht: 10 Gramm
Fett oder 50 Gramm Fleisch oder entsprechende Nährmittelkarten muss der
Hilfsbedürftige pro Woche abliefern, um seine Tagesration in der
Volksküche zu bekommen. Und einfach anstellen darf man sich auch nicht:
Ein Ausschuss entscheidet darüber, wer teilnehmen kann. Er registriert,
dass berechtigte Kevelaerer zugunsten von Vertriebenen verzichten, weil
weitere Transporte mit Flüchtlingen angekündigt sind. Kevelaerer
Landwirte und Bäcker sorgen mit ihren Spenden dafür, dass die Volksküche
Nachschub bekommt.
Flüchtig geschaufelte Gräber
gefallener Soldaten erinnern an die letzten großen Panzerschlachten um
den Niederrhein. An Feldern und Wäldern im Raum Weeze und Uedem trotzen
Holzkreuze dem Winter.
Seit Oktober 1947 werden die Gräber systematisch gesucht und registriert
und die Gefallenen umgebettet. Im Frühjahr 1948 wird auf Anregung des
Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Weeze ein Zentralfriedhof
errichtet. Schon jetzt liegen hier über tausend Gefallene. Bald wird
Weeze zum größten Ehrenfriedhof in Nordrhein-Westfalen.
Viele der Toten sind noch nicht identifiziert. Ihre Familien in England,
in Kanada, in den USA, in Deutschland haben keine Nachricht und leben in
der Ungewissheit.
Als der Weiße Sonntag des Jahres 1948 naht, fehlen die Väter an der
Seite vieler Kommunionkinder. Für einige erfüllt sich das Wunder von
Ostern auf ganz persönliche Weise, als der Bischof von Lourdes,
Pierre-Marie Théas, bei seinem Besuch in Kevelaer am Weißen Sonntag
verkündet: „Es ist mir sehr angenehm, öffentlich bekanntzugeben, dass
die französische Regierung den Angehörigen der Erstkommunikanten dieses
Morgens die Freiheit geschenkt hat.“ Die Väter werden aus der
Kriegsgefangenschaft entlassen.
Neben den Familien, denen die beglückende Botschaft gilt, stehen an
diesem Tag auch andere auf dem Kapellenplatz, beispielsweise die Familie
von Kriemhild Ermers. „Mein Vater war in Russland“, sagt sie viele Jahre
später in einem KB-Gespräch. „Ihn konnte der Bischof nicht mitbringen.“
Am Morgen des Weißen Sonntags 1948 nieselt es zunächst, dann klart es
auf. 266 Erstkommunionkinder warten aufgeregt in der Marktschule. Sieben
Bischöfe und Pfarrer
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Wilhelm Holtmann holen sie
ab und führen sie in feierlicher Prozession durch die Straßen, die mit
Triumphbögen geschmückt sind. Tausende Kevelaerer stehen an den
Bürgersteigen.
Die Basilika wird brechend voll. Viele Menschen müssen stehen. Die
Kinder begreifen nicht, dass an diesem Tag in Kevelaer noch etwas
geschieht, was so unvorstellbar erscheint wie ein Wunder: Bischof Pierre
Théas, der schon in einem deutschen Internierungslager Feindesliebe und
Versöhnung gepredigt hat („und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir
vergeben ... Deutschland“), leitet die Versöhnung Frankreichs mit
Deutschland ein. Sie ist der beherrschende Gedanke, als in Kevelaer eine
deutsche Sektion der weltweiten Friedensbewegung Pax Christi gegründet
wird.
Kaum ist der Alltag in den
Wallfahrtsort zurückgekehrt, kündigt sich für Anfang Mai 1948 die
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Kirmes der Geselligen Vereine
an. Eine Raupe zieht auf dem Marktplatz ihre Runden, die kurz
vor Ende der Fahrt das Verdeck schließt, unter dem Verliebte, wenigstens
für einige Sekunden, ungestört knuddeln können. Weitere Attraktionen der
Kirmes sind der Selbstfahrer, zwei Schiffsschaukeln und ein
Kettenkarussell. Natürlich stehen dort auch Losbuden und Verkaufsstände
für Kirmeskram. Schießbuden aus vergangenen Zeiten sind allerdings
verboten. Wer sein Glück versuchen will, muss zur Armbrust oder zum
Bogen greifen.
Eine Woche nach der Kevelaerer Kirmes, am 14. Mai 1948, verliest im
fernen Palästina ein polnischer Jude eine Erklärung, die jetzt,
unmittelbar nach dem Abzug der letzten britischen Truppen aus Palästina,
Tatsachen schafft: Ben Gurion verkündet die Gründung des Staates Israel.
Am selben Abend erkennen die USA den neuen Staat an. Und fast
gleichzeitig rücken arabische Truppen ein, um die Staatsgründung im Keim
zu ersticken. Erst 1949 werden die Kämpfe - unter Vermittlung der UNO -
unterbrochen werden.
Weltpolitisch bedeutsame Ereignisse
bahnen sich unterdessen auch in den drei Westzonen Deutschlands an. Die
wertlos gewordene Reichsmark soll aus dem Verkehr gezogen werden. Der
Alleingang der Westalliierten, nämlich die Deutsche Mark für ihre Zonen
einzuführen, ohne dass auch nur versucht wurde, die sowjetisch besetzte
Zone in die Währungsreform einzubeziehen, hat Folgen größten Ausmaßes.
Sie münden schließlich in die Teilung des Landes in zwei deutsche
Staaten.
Kaum sind die Gerüchte über eine bevorstehende Währungsreform in der
Welt, verschwindet aus den Geschäftslokalen alles, was sich später für
das neue, gute Geld verkaufen lässt. Wer kann, hamstert und hortet. Die
Militärbehörde in Geldern greift ein und verbietet die Schließung der
Geschäfte. Warenhortung wird mit strengen Strafen bedroht. Die
Bevölkerung wird noch am Tag vor der Währungsreform aufgefordert, solche
Geschäftsinhaber sofort anzuzeigen. Den Kaufleuten wird angekündigt,
dass die Abrechnungen für die Tage vor und nach der Währungsreform genau
geprüft werden. Werde beim Mengenvergleich herausgefunden, dass Waren
gehortet worden seien, müsse der Geschäftsinhaber mit empfindlicher
Bestrafung rechnen.
Hundert Austauschstellen werden im Kreisgebiet eingerichtet. Sie sollen
die Kopfquote auszahlen. Jeweils der Haushaltungsvorstand soll unter
Vorlage des Personalausweises sowie der Lebensmittelkarten aller
Mitglieder seines Haushalts die Quoten abholen. Für das neue Geld muss
im entsprechenden Wert alte Reichsmark abgeliefert werden. „Wohlfahrts-
und Rentenempfänger, die nicht über die für die Gegenzahlung
erforderliche Summe verfügen, können einen Vorschuß erhalten, der
allerdings zurückgezahlt werden muß“, verkündet die Behörde am Tag vor
der Ausgabe.
Im „Ersten Gesetz zur Neuordnung des deutschen Geldwesens“ wird die neue
Währung Deutsche Mark genannt. Das alte Geld - Reichs-, Renten- und
Besatzungsmark - ist ab dem 21. Juni ungültig mit Ausnahme der
Altgeldnoten und Münzen mit einem Nennwert von höchstens einer Mark.
Diese Noten und Münzen bleiben zu einem Zehntel ihres bisherigen
Nennwerts bis zum Ersatz durch neues Kleingeld im Umlauf. Briefmarken
bleiben ebenfalls zu einem Zehntel ihres Nennwerts gültig.
Jeder Einwohner erhält als Kopfquote 60 Mark der alten Währung in neues
Geld umgetauscht. Davon werden 40 DM am Sonntag, 20. Juni 1948,
ausgegeben, die restlichen 20 Mark einen Monat später. Löhne und
Gehälter werden in der neuen Währung in der gleichen Höhe wie bisher
gezahlt. Verpflichtungen wegen alter Schulden ruhen eine Woche lang,
dann müssen sie wieder bedient werden - mit dem neuen Geld. Betriebe
können ihr Barvermögen umtauschen, und zwar bis zu 60 DM pro
Arbeitnehmer. Die Uhr tickt: Altgeld, das bis zum 26. Juni nicht
angemeldet oder abgeliefert ist, verfällt.
Im Kreis Geldern werden fast drei Millionen D-Mark ausgeschüttet. Nur 18
Einwohner verfügen nicht über genügend Altgeld, um es gegen die 60 DM
eintauschen zu können. Ihnen hilft die zuständige Gemeinde.
Amtsdirektor
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Fritz Holtmann warnt 14 Tage
nach der Währungsreform die Kevelaerer Bevölkerung: Die Bürger sollen
„mit dem neuen Geld sparsam umgehen und keine übereilten Käufe tätigen“.
Die Gemeinde könne in Notfällen nicht helfen, weil sie dafür kein Geld
habe.
Aber vom Kauf des ersten richtigen Bohnenkaffees lassen sich die
Kevelaerer Ende Juni bestimmt nicht abhalten. Jeder Einwohner ab
vollendetem 18. Lebensjahr darf 62,5 Gramm Bohnenkaffee im Monat
erwerben. Am Erstausgabetag gibt‘s die Portion für zwei Monate auf
einmal - 125 Gramm.
Dass die D-Mark das „deutsche
Wirtschaftswunder“ einleiten wird, können sich die Menschen in den
zerbombten Städten noch nicht vorstellen. Brachial reagieren die Sowjets
auf die einseitig in den Westzonen eingeführte Währung. Die ehemalige
Hauptstadt, von den vier Siegermächten verwaltet, wird fünf Tage nach
Einführung der D-Mark abgeriegelt. Nichts geht mehr. Berlin ist auf dem
Landweg nicht zu erreichen.
Die Westmächte richten zur Versorgung der Stadt mit lebenswichtigen
Gütern eine Luftbrücke zwischen den Westzonen und Westberlin ein.
Amerikaner und Briten schicken täglich bis zu 500 Flugzeuge mit
Versorgungsgütern nach Berlin. Mit Jubel werden die „Rosinenbomber“
empfangen.
Die Luftbrücke steht seit wenigen Tagen, da tagen die elf
Ministerpräsidenten der Westzonen-Länder in Koblenz. Sie stehen unter
dem Eindruck der dramatischen Vorgänge um Berlin und sollen die Gründung
eines westdeutschen Staates vorbereiten.
Am 1. Juli haben sie von den Militärgouverneuren deren Anordnungen, die
Londoner Empfehlungen, in Empfang genommen. Die Ministerpräsidenten
bestehen darauf, dass der neue Staat nur ein Provisorium sein dürfe, der
eine gesamtstaatliche Lösung nicht blockiere. Sie lehnen vorgeschlagene
Begriffe wie „Verfassung“ und „Verfassungsgebende Versammlung“ für
dieses Provisorium ab und dringen darauf, dass nur vom „Grundgesetz“ und
„Parlamentarischen Rat“ gesprochen wird.
Deutschland, so ihre Überzeugung, darf nicht geteilt bleiben.