|
|
Anschläge
gegen Schwule
und die überraschende Wende
Von
Martin Willing
Die wohl größte Leserbrief-Flut, die wir beim Kevelaerer Blatt je registriert haben, setzte nach Erscheinen des KB vom 25. März 1994 ein: In dem Bericht „Terror gegen schwules Paar“ hieß es, dass seit einigen Jahren ein Unbekannter zwei junge Männer wegen ihres Schwulseins verfolge. Nach dem zweiten Brandanschlag auf ihr Leben würden sie nun Kevelaer verlassen.
In den Kriminalfall, der später eine überraschende Wende nehmen sollte, ging es um Artur Schulze und Johann Müller (Namen verändert), die in der Wallfahrtsstadt arbeiteten und hier als schwules Paar in einer gemeinsamen Wohnung lebten. Zum zweiten Mal innerhalb von sieben Tagen war versucht worden, ihre Wohnung abzufackeln.
Die Polizei hatte der Redaktion bei den Recherchen bestätigt, dass in beiden Fällen Brandstiftung vorliege. Eindeutig seien Spuren von Brandbeschleunigern gefunden worden. Beim zweiten Brand war ein Sachschaden an Haus und Inventar von rund 200.000 Mark entstanden.
Artur Schulze (29), aus einer bekannten Kevelaerer Familie stammend, erzählte uns, er und sein vier Jahr jüngerer Freund würden seit Jahren terrorisiert. Drohbriefe hätten sie erhalten („Schwule brennen besser als Asylanten“), ihr Auto sei beschmiert und beschädigt worden und auf einmal sei ihr Hund verschwunden gewesen. Ein Drohbrief mit aufgeklebten Zeitungsschnipseln („Wir haben euren Hund. Euch kriegen wir auch weg“) und wenig später das Halsband des verschwundenen Hunds seien ihnen zugeschickt worden.
Die Geschehnisse klangen nicht nur dramatisch, sie waren es auch. „Es brennt schon wieder!“ Mit diesen Worten weckte Artur in der zweiten Brandnacht seinen Lebensgefährten Johann morgens um 5 Uhr. Das sich bereits entfaltete Feuer versperrte ihnen den Weg ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand, und zur Wohnungstür hinaus konnten sie auch nicht mehr. Sie kletterten aufs Dach und ließen sich an einer Dachrinne hinunter. Freundliche Nachbarn halfen den beiden Obdachlosen sofort und boten ihnen Kleidung und Übernachtungsmöglichkeit an.
Drei
Wochen danach brannte es zum dritten Mal, diesmal in der neuen Wohnung
des schwulen Paars in einem anderen Ort. Und nicht nur das. Der Postbote
brachte einen Drohbrief ins Haus - diesmal gegen unsere Zeitung
gerichtet. Ein Todeskreuz war mit Wortschnipseln kombiniert:
„Brandanschläge schwules Paar (Ortsangabe) Ihr und Eltern auch. Freitag,
8. April 1994“.
Dieser merkwürdige Drohbrief gegen das
Kevelaerer Blatt und seine Journalisten wurde der Kripo übergeben. Beim
späteren Brandstifter-Prozess in Kleve spielte der Brief eine wichtige
Rolle.
Die Ortsangabe bewies, dass der Absender den neuen Wohnort der aus
Kevelaer weggezogenen Freunde kannte. Und damit stand fest, dass es sich
nicht um „Kinderkram“ oder das Machwerks eines Trittbrettfahrers handeln
konnte. Und noch etwas bewies das Drohschreiben: Der Absender war
vermutlich nicht ungebildet, denn er schrieb die Adresse des Kävels
Bläche korrekt: Eichendorffstraße mit zwei ff.
Wir übergaben Umschlag und Brief der Kriminalpolizei und erstatteten
Anzeige wegen Bedrohung. Außerdem wurden im Verlagshaus
Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Das KB erhöhte die von einem Kevelaerer
Unternehmer ausgesetzte Belohnung von 1000 Mark für erfolgreiche
Hinweise auf den oder die Brandstifter auf 2000 Mark.
Während die ersten Reaktionen auf die Berichterstattung („Schwule sind Menschen„) eher verhaltend waren, trat nun der Kevelaerer Pfarrer Dr. theol. Emil Valasek eine Lawine los, und zwar mit seinem Leserbrief in der KB-Ausgabe vom 22. April 1994:
Die Ausführungen von Herrn Martin Willing sowie die damit zusammenhängenden Berichte über bedauerliche Vorgänge in Kevelaer passen sich dem aktuellen gesellschaftspolitischen Klima gut an. Die gewagte Verharmlosung, ja die Legitimierungsbestrebungen von homosexuellen Praktiken, wie es das Homosexuellen-Votum des Europaparlaments vom 8. Februar 1994 verlangt hatte, stellt die gesamte „Wertordnung auf den Kopf“ (Bischof Karl Lehmann). Es zeigt deutlich die „fortschreitende Erosion der Moral“ (Papst Johannes Paul II.) in der westlichen Welt und setzt das menschliche Leben der Dekadenz und Zerstörung aus.
Wo die Ausübung gleichgeschlechtlicher Beziehungen (mit Anal- und Oralverkehr!) als eine gleichwertige Spielart der Geschlechtlichkeit dargestellt wird, weil „Selbstverwirklichung“ und „Persönlichkeit“ als höchste Ziele gelten, die Hemmungslosigkeit als selbstverständlich angesehen und bereits Jugendlichen empfohlen wird: „Tu das, wozu du Lust hast, so oft du es willst (angefangen mit Onanie), ohne Rücksicht auf die anderen!“, braucht man sich über eine zutiefst asoziale und jegliche Menschenwürde verachtende Einstellung, die letztlich auch jegliches Miteinander unmöglich macht, nicht zu wundern.
Verantwortungsbewußtsein und Selbstdisziplin bleiben auf der Strecke - von der Wahrheit ganz zu schweigen.
Das zur Schau gestellte Schmutz-Toleranz-Gehabe entspricht zwar weitgehend dem Zeitgeist, nur nimmt der nicht gerne jene wahr, die als Folge abartigen Verhaltens und abartigerer Praktiken Stufe für Stufe nach unten fallen und eines Tages auf der Suche nach immer mehr sexuellen Reizen ausgebrannt als menschliche AIDS-Wracks am Boden liegen bleiben.
Homosexualität kann niemals als eine „andere Form der Sexualität“ gerechtfertigt werden. Sie ist und bleibt eine Anomalie und bei der Ausübung Perversion, himmelschreiende Sünde sowie Verführung. Mit Hilfe der Gnade ist sie zu überwinden. Das verlangt allerdings gelebten Glauben. Im Interesse eines geordneten Gemeinwesens muß der volle strafrechtliche Schutz vor homosexueller Verführung und Belästigung erhalten bleiben und auch wirksam durchgesetzt werden.
Das Kevelaerer Blatt machte seine nächste Ausgabe (29. April) mit dem Bericht „Empörung über Valasek-Brief“ auf. Dazu erschien mein Leitartikel, in dem ich mutmaßte, dass Pfarrer Valasek nun wohl den Bischof um seine Versetzung bitten würde. Bisher waren 21 Leserbriefe eingegangen, die alle in dieser Ausgabe - auf zwei Seiten - abgedruckt wurden. In sämtlichen Briefen kam zum Ausdruck, dass die Schreiber über die Ansichten des Geistlichen verwundert, empört oder entsetzt waren.
Auch ganz kurze Briefe waren darunter: „Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!“ (Stefan Reudenbach) oder „Du lieber Himmel!“ (B. Unkrig-Schläger und Antje Witteler).
Der evangelische Pfarrer von Kevelaer, Volker Raettig, begann seinen Brief so: „Die Luft ist mir beinahe weggeblieben“. Er verwies auf einen besonders gravierenden Punkt in der Valasek-Äußerung: „Der Leserbrief von Pfr. Valasek ist m.E. allein deshalb mißverständlich und auch gefährlich, weil er nicht eindeutig genug die Brandanschläge gegen anders Lebende und Liebende dem Geist des Evangeliums entsprechend klar brandmarkt.“ Und: „Die Brandanschläge von Kevelaer sind ein verwerflicher Anschlag gegen die Menschenwürde. Dies ist kein Weg, mit Andersdenkenden umzugehen. Das zuallererst haben die Kirchen dazu zu sagen.“
Sein katholischer Amtsbruder Alois van Doornick, Pfarrer in Kevelaer, fühlte sich ebenfalls herausgefordert: „Das Leiden vieler Homosexueller an ihrer eigenen Situation gebietet uns Seelsorgern Achtung gegenüber den Personen selbst. (...) Eine feinfühlendere Beurteilung und eine deutlichere Differenzierung zwischen den Kevelaerer Geschehnissen und den Dekadenzerscheinungen unserer Gesellschaft hätten wir uns gewünscht. Eine für unsere Gesellschaft sehr notwendige Moralpredigt hat an dieser Stelle und in dieser Form den gegenteiligen Effekt.“
Die Grünen-Politiker Norbert Panek und Hermann Brendieck machten „Nägel mit Köpfen“ und erstatteten bei der Staatsanwaltschaft Kleve Anzeige gegen Pfarrer Valasek „wegen des Verdachts der Volksverhetzung bzw. anderer in Frage kommender Tartbestände“ (Geschäfts-Nr. 5 Js 447/94).
Fünf weitere Leserbriefe erschienen in der KB-Ausgabe vom 6. Mai; zwei davon sprangen dem Kervenheimer Pastor zur Seite. Marianne Franken schrieb: „Ihre Zeitung ist schon öfter durch Negativ-Artikel über die katholische Kirche (...) aufgefallen. Und jetzt diese große Aufmerksamkeit zu den Reaktionen des Leserbriefs von Dr. E. Valasek! Ein gefundenes Fressen für Sie?“ Und Kaplan Paul Spätling (früher Kevelaer, jetzt Kranenburg) meinte: „Niedriger hängen, bitte niedriger hängen! Was hat dieser Pfarrer denn eigentlich verbrochen? Er hat sich des kapitalen Verbrechens schuldig gemacht, ohne Schnörkel die kirchliche Lehre über die sodomitische Sünde darzulegen. Dagegen erhebt das merkwürdige Kevelaerer Blättchen ein wildes Gezeter.“
In der Ausgabe vom 12. Mai erschienen die Leserbriefe Nr. 27 bis 30. Elisabeth Vißer schrieb: „Lieber ein Kirchenhetzer als ein Heuchler im Namen der kath. Kirche!“ Und: „‘Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!‘ Man kann nur hoffen, daß solche ‚Seelsorger‘ nie Steine in die Hand bekommen!“
Peter Wustmans meinte: „Wenn der Herr wirklich Hirn vom Himmel geschmissen hat, nicht alle haben‘s gefangen.“ Und Religionslehrer Claus Hösen: „Unser Bischof hat sicherlich genug Sorgen. Sie, Herr Spätling, dürften - 30 Jahre nach dem 2. Vaticanum! - eine davon sein!“
Briefe Nr. 31 bis 34 wurden am 20. Mai abgedruckt, darunter auch der von Hildegard Jahn: „Es ist kein Ruhmesblatt für Ihre Zeitung, denn die Art und Weise ähnelt dem Hetzblatt ‚Stürmer‘ im 3. Reich (...) Ich nahm eine Postkarte, weil Sie einen Brief nicht wert sind.“
Auch Leserbrief Nr. 36, geschrieben von Ursula Zöller, einer Journalistin aus Lippstadt, kritisierte das KB: „Schlimm ist, daß Sie Briefe durchgehen lassen, in denen unterstellt wird, Pfarrer Valasek habe sich als geistiger Brandstifter betätigt, indem er (angeblich) nicht genug Bedauern wegen der Anschläge auf zwei Homosexuelle in Kevelaer gezeigt habe.“
Dann äußerte sich der Kervenheimer Pastor ein zweites Mal in einem Leserbrief, der am 27. Mai erschien: „In meinem aufsehenerregenden Leserbrief vom 22. April (...) sprach ich von der Homosexualität als Verhaltensweise, also keineswegs von homosexuellen Menschen und schon überhaupt nicht von einem Brandanschlag, den die Kriminalpolizei mit der Zeit bestimmt aufklären wird.“
Damit ebbte die Leserbriefflut ab.
Im August 1994 stellte die Staatsanwaltschaft Kleve das Ermittlungsverfahren gegen den Geistlichen aus Kervenheim ein. Der Tatbestand der Volksverhetzung sei „nicht verwirklicht“ worden. Nicht jede herabsetzende Äußerung sei ein Angriff gegen die Menschenwürde anderer. Möglicherweise liege Beleidigung vor. Dafür hätte aber ein Betroffener, also ein Schwuler, Anzeige erstatten müssen. Die Antragsteller gehörten „wie die Ermittlungen ergeben haben, nicht dem durch den Beschuldigten angesprochenen Personenkreis an“. Sie seien also nicht antragsberechtigt gewesen.
Fast zwei Jahre zogen ins Land, da gerieten die Brandstiftungen in ein völlig anderes Licht. Artur Schulze, einer der beiden schwulen Freunde, wurde vor der Schwurgerichtskammer in Kleve angeklagt, insgesamt vier Brände (drei in den Wohnungen, einen in seinem Geschäft) selbst gelegt haben. Außerdem musste sich der Mann wegen des Verdachts des versuchten und vollendeten Versicherungsbetrugs verantworten.
An einem der Verhandlungstage musste ich als Zeuge aussagen. Ich wurde nach dem Drohbrief gefragt, der dem Kevelaerer Blatt geschickt worden war. Es sollte sich als wichtig herausstellen, dass wir Brief und Umschlag sorgfältig eingetütet der Kriminalpolizei übergeben hatten: Eine Analyse der Speichelreste an der Gummierung des Briefsumschlags hatte ergeben, dass die Speichelzusammensetzung der gesicherten Probe und die des Angeklagten eine sehr hohe Übereinstimmung aufwiesen.
Der Richter sprach behutsam auf Artur Schulze ein. Es könne ja auch sein, dass Schulze den Drohbrief zwar geschrieben, mit den Bränden aber nichts zu tun habe. Doch der Angeklagte blieb dabei: Er sei weder der Briefschreiber, noch der Brandstifter. Er habe allerdings die Angewohnheit, immer einige mit einer beklebten Briefmarke versehene Umschläge in seiner Wohnung auf Vorrat zu haben. Jeder hätte sie dort an sich nehmen und missbrauchen können.
Sein Freund Johann Müller wurde als Zeuge befragt. „Das war sehr knapp, wie wir da rauskamen. Das war eine Sache von zwei Minuten“, sagte er, als er die Vorgänge beim zweiten Wohnungsbrand schilderte.
Die Verteidigung führte im Schlussplädoyer aus, die Brandstiftungen seien dem Angeklagten nicht nachgewiesen worden; somit sei Artur Schulze frei zu sprechen. „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unbefugte Personen das Haus betreten haben.“ Die Staatsanwaltschaft dagegen sah die Täterschaft als erwiesen an und forderte drei Jahre und sechs Monate Haft.
Es kam noch heftiger. Artur Schulze wurde zu viereinhalb Jahren Gefängnis für schwere Brandstiftung sowie für vollendeten und versuchten Versicherungsbetrug in mehreren Fällen verurteilt.
Delia Evers, die für das Kevelaerer Blatt den Prozess in Kleve verfolgte, konnte die Klarheit, mit der der nun 31-Jährige schuldig gesprochen wurde, nicht nachvollziehen.
„Es bleibt ein schales Gefühl bei diesem harten Urteil“, schrieb sie in ihrem Schlussbericht für die Leser.
© Martin Willing 2012, 2013