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INHALTSVERZEICHNIS

MARTIN WILLING

Zeitung im Osten: SPREEaufwärts (2)

Erste freie Wochenzeitung nach der Wende in Brandburg

Politiker zu BesuchGut drei Monate danach, Anfang März 1990, begleitete ich eine Gruppe von Kommunalpolitikern aus dem Kreis Kleve nach Fürstenwalde östlich von Berlin.

Besucher aus dem Westen (v.l.): Alfons A. Tönnissen (Kleve) und Albert Reinartz (†, Veert) in einer Poliklinik in Fürstenwalde, die unterstützt wurde.

Sie hatten Sachspenden für die Poli-Klinik in der Kreisstadt im Gepäck, gesammelt in Krankenhäusern und Apotheken des Kreises Kleve. Helmut Peters, Unternehmer in Kevelaer, hatte seinen Kleinbus zur Verfügung gestellt. Ich fuhr im Privatwagen des Klever Unternehmers und Kreispolitikers Alfons A. Tönnissen mit. So belästigten wir niemanden: Wir waren beide Pfeifenraucher.

„Es ist, so gewinnt man den Eindruck beim Besuch vor Ort, alles noch viel schlimmer“, schrieb ich wenig später in einer KB-Reportage. Aber auch Selbstkritisches: „Da bringt unsere Gruppe auch Medikamente mit, die auf den Müll wandern werden: Präparate, die ohne den entsprechenden Nachschub für Langzeitbehandlung gar nicht erst eingesetzt werden. Heilen will gelernt sein. Gottseidank hat niemand Bananen mitgebracht. Immer wieder, ob im Fürstenwalder Krankenhaus, ob beim Treffen mit Handwerkern und Bauern, immer wieder sagen die Leute drüben, was man auf diese Formel bringen kann: Wir brauchen Wissen um die Dinge, nicht die Dinge selbst. Sie sagen es so zurückhaltend, dass man es oft erst beim Nachdenken mitbekommt. Fast kehren sich die Medaillen um: Die Gaben werden überaus dankbar entgegengenommen, um dem Schenkenden die schöne Prozedur nicht zu vermasseln.“

Kirche in FürstenwaldeEin Gasinstallateur, seit 17 Jahren in Fürstenwalde selbsständig - auch das gab es -, sagte mir bei unserem Besuch, was er brauchte: Geld aus ERP-Töpfen? Nein. Fachwissen? Nein. Er brauche Wissen um Kostenrechnung, um Marketing.

Im Zentrum von Fürstenwalde (1990).

Er sagte, mit Stolz in der Stimme, dass er einmal in der Woche einen Kundentag habe. Einen ganzen Tag lang stehe er Kunden zur Verfügung, die seine Dienste brauchten. Ich fragte nicht, was denn sei, wenn das Gerät am Tag darauf kaputtgehe. Denn vorher hatte der Handwerksmeister die Antwort gegeben: Die Warteliste reiche für mehrere Monate.

CDU-SchildIn der Fürstenwalder CDU-Zentrale kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Ausgelegt waren bereits die „Grundsätze für das Programm der CDU“ - geliefert aus der Parteizentrale in Bonn. Der Wandel von der einstigen Blockflötenpartei zur Schwesterpartei der westdeutschen CDU musste wie ein Wunder blitzschnell vollzogen worden sein. Aber immer noch saßen vier hauptamtliche Parteifunktionäre im Fürstenwalder CDU-Büro an der Thälmannstraße - vier Hauptamtliche für knapp 400 Mitglieder, bezahlt vom DDR-Staat.

Ich besuchte auch das gemeinsame Parteibüro der Fürstenwalder SPD und des Demokratischen Aufbruchs - eine Bruchbude, die jedes westdeutsches Bauamt unverzügelt vernagelt hätte. Es war Wahlkampf im Kreis Fürstenwalde: Am 18. März 1990 sollten die DDR-Bürger zum ersten Mal die Volkskammer frei wählen dürfen. Auf der Rückreise von Fürstenwalde fragte ich mich, ob wir den Wahlkämpfern vielleicht nur ihre Zeit gestohlen hatten.

Im CDU-BüroZu Hause studierte ich die Broschüre „Christliche Demokraten für eine gesicherte Zukunft der Menschheit“ vom August 1989. Darin wurde von den „Rechten der Völker und Menschen“ gefaselt - SED-Propaganda übelster Sorte. Ich hatte die Broschüre aus einem dicken Stapel mitgehen lassen: Sie waren in einem Abstellregal der CDU-Geschäftsstelle vorerst entsorgt worden - auf dem Klo.

Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Nis Clason (l.), im Fürstenwalder CDU-Büro, das mit einem Fotokopierer der CDU aus dem Kreis Kleve ausgestattet worden war.

Die Erfahrungen, die ich vor Ort in Fürstenwalde gemacht hatte, waren in den nächsten Tagen ständiges Thema in der Kevelaerer KB-Redaktion und lösten eine wichtige Entscheidung aus. Delia und ich kamen zu dem Schluss, dass wir als Journalisten und Zeitungsherausgeber gefordert waren: Den Fürstenwaldern fehlten - wie allen DDR-Bürgern - in erster Linie Informationen. Die „Märkische Oder-Zeitung“, die täglich unter anderem in Fürstenwalde erschien, war zu diesem Zeitung noch eine vom Staat kontrollierte Zeitung alten Zuschnitts. Den Einwohnern der Kreisstadt wäre mit einer neuen Lokalzeitung, von unabhängigen Journalisten gemacht, am besten gedient.

Wir machten uns noch vor der Volkskammerwahl am 18. März auf den Weg nach Fürstenwalde, recherchierten Stoff für zwei Nullnummern einer Zeitung für Fürstenwalde, ließen sie in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren in Straelen bei Keuck drucken und verteilten sie kurz darauf bei einem weiteren Besuch in Fürstenwalde auf der Straße. Es waren kostenlose Leseproben für „SPREEaufwärts - Lokale Wochenzeitung für den Kreis Fürstenwalde“, unsere Neugründung, die wir ohne jede Marktuntersuchung, ohne irgendeine DDR-Erfahrung und ohne Infrastruktur wie Büro und Personal aus dem Stand herausbrachten.

Es gab nur eine Motivation und ein Ziel: Wir wollten - wie viele andere - unseren Beitrag für die Herkules-Aufgabe leisten, die man später „Aufbau Ost“ nennen sollte.

Wie schnell wir waren, erfuhren wir erst später: SPREEaufwärts war die erste Zeitungsgründung eines westdeutschen Verlags für eine Kreisstadt in der (noch bestehenden) DDR, und die dafür gegründete Spree-Verlag GmbH war das erste notariell beurkundete Joint-Venture nach der Wende im Land Brandenburg.

Delia in unserem Büro
Delia Evers in unserem ersten "Redaktionsbüro" im Kreis Fürstenwalde: Improvisieren war das Gebot der Stunde (1990).

Aber zunächst einmal hatten wir nichts: kein Büro, keine Wohnung und keinen Telefonanschluss. Das Wohnheim einer karitativen Einrichtung zwischen Fürstenwalde und Bad Saarow diente ein paar Mal als „Hotel“, bis wir in Bad Saarow einen gewieften Hausbesitzer ausfindig machen konnten, der uns seine „Datscha“ im Garten für die willkommene D-Mark vermietete. Die Datscha war ein Gartenhäuschen, in dem sich immerhin Klo, Dusche und Kohleofen befanden. Für einige Monate musste das reichen. Hier stand unser Laptop, auf dem die Zeitungsberichte geschrieben wurden und mit dessen Hilfe wir die ersten Grundlagen für den Spree-Verlag - Datenbank für die Abonnentenverwaltung, Tabellen für die Kalkulationen - entwickelten.

Ins DDR-Festnetz kamen wir mit unserem Autotelefon natürlich nicht hinein, aber immerhin erreichten wir die Heimatredaktion, wenn der Wagen an einer bestimmten Stelle im Raum Bad Saarow anhielt. Bis dorthin, so hatten wir durch Zufall herausgefunden, reichte das westdeutsche C-Funknetz.

In der Datscha arbeiteten wir einmal mit Unterstützung des Kevelaerer Juristen > Peter Roosen die Gesellschaftsverträge für die neue Spree-Verlag GmbH durch. Roosen hatte bereits erste Erfahrungen mit dem DDR-Recht und den gesetzlichen Bestimmungen für Joint-Ventures mit westdeutschen Unternehmen gesammelt und konnte uns helfen.

Da vorgeschrieben war, dass wenigstens ein DDR-Bürger Mitgesellschafter der GmbH sein musste, baten wir den hauptamtlichen Leiter des CDU-Kreisbüros in Fürstenwalde, Horst Kurzhals, um Hilfe bei der Suche einer geeigneten Person. Auf seine Vermittlung hin konnten wir Regina Galm, Redakteurin bei der „Märkischen Oderzeitung“ (MOZ) in der Fürstenwalder Kreisredaktion, gewinnen, nahmen sie in die Gesellschaft auf und stellten sie als Chefredakteurin von SPREEaufwärts im Spree-Verlag ein. Die MOZ war die in der Wendezeit mit nahezu gleicher Redaktionsmannschaft umfirmierte Zeitung „Neuer Tag„, bis dahin Organ der Bezirksleitung der SED. Sie ist heute die größte Regionalzeitung im östlichen Brandenburg, herausgegeben im Märkischen Verlags- und Druckhaus, das je zur Hälfte von den Verlagen der Südwest-Presse sowie Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten getragen wird.

Wie schwer Regina Galm beim Eintritt in unsere Redaktion bereits erkrankt war, konnte sie kaum selbst geahnt haben. Sie musste aus gesundheitlichen Gründen schon nach wenigen Monaten ausscheiden. Für die Rechtmäßigkeit unseres Joint-Ventures hatte das keine Folgen, weil die DDR-Regierung die Bestimmungen zu diesem Zeitpunkt bereits gelockert hatte und wir nicht gezwungen waren, einen anderen DDR-Bürger in die Spree-Verlag GmbH holen.

Faksimile der ersten Ausgabe von SPREEaufwärtsAm Mittwoch, 16. Mai 1990, erschien die „Nr. 1 des 1. Jahrgangs“ von SPREEaufwärts. Mein Titelaufmacher trug die Überschrift „Wohnungsnot stinkt zum Himmel“.

Die Nr. 1 von SPREEaufwärts: Sie war die erste freie lokale Wochenzeitung in der sich auflösenden DDR. Wir gründeten dafür die Spree-Verlag GmbH, das erste Joint-Venture nach dem Mauerfall, das im Land Brandenburg notariell beurkundet wurde.

Es war eine Reportage von der Besichtigung eines Miethauses, in dessen Keller Jauche stand und in den Wohnungen Ameisen und anderes Getier herumkabbelten. „2000 Menschen in Fürstenwalde brauchen dringend eine andere Wohnung, kriegen aber keine. Die Wohnungssituation in der Kreisstadt ist eine schiere Katastrophe“.

Den ersten Abonnenten von SPREEaufwärts - Ingeborg Schmidt - stellten wir auf Seite 1 im Bild vor.

Völlig neu war für die Fürstenwalder, dass eine bezahlte Anzeige erstens jederzeit aufgegeben werden konnte und zweitens tatsächlich prompt in der nächsten Ausgabe erschien. Dass man die Zeitung heute bestellte und schon ab der nächsten Woche im Briefkasten hatte, wurde ebenfalls als schöne Errungenschaft bestaunt.

Schon nach wenigen Monaten mussten wir uns das Hauptproblem unserer Zeitung in Ostdeutschland eingestehen: Wir würden unter den Einheimischen niemanden finden, der mit unserem Tempo und der von uns eingesetzten Technik Schritt halten könnte. Woher sollten sie auch das notwendige Wissen haben? Auf Lernfortschritte, die sich nach Monaten, vielleicht erst Jahren einstellen würden, konnten wir aber nicht warten, weil jede Woche eine zwölfseitige Lokalzeitung erarbeitet, gesetzt und umbrochen werden musste, gedruckt im 650 Kilometer entfernten Straelen, jede Woche im Auto nach Fürstenwalde gebracht und dort unter schwierigsten Bedingungen vertrieben.

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© Martin Willing 2012, 2013