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INHALTSVERZEICHNIS

DELIA EVERS

Zeitung im Osten: SPREEaufwärts (1)

Erste freie Wochenzeitung nach der Wende in Brandenburgnterzeile

Im Jahr 1989, als die Einwohner von Kevelaer zum ersten Mal von den Plänen des Stadtdirektors > Heinz Paal hörten, auf der Hüls ein Balnearisches Kur- und Erholungszentrum zu entwickeln, standen in Berlin und in der DDR welthistorische Veränderungen bevor. Die Mauer, mit der sich die DDR abgeschottet hatte, begann zu bröckeln. Wir saßen zwar tief im Westen, 600 Kilometer von Berlin entfernt, und doch wurden wir in Kevelaer von den geschichtlichen Ereignissen in Ostdeutschland plötzlich und unerwartet direkt berührt.

Die ungarische Regierung hatte Anfang Mai die Befestigungen an der Grenze zu Österreich abgebaut und im August nutzten DDR-Bürger ein Festival bei Sopron zur Flucht über die kaum bewachte Grenze. Ende August durften DDR-Bürger, die sich in die Bonner Botschaft in Budapest geflüchtet hatten, in die Bundesrepublik ausreisen. Am 4. September zog die erste Montagsdemonstration in Leipzig: Bürgerrechtler bekämpften die Zustände in der DDR, nicht aber ihren Staat.

Am 11. September öffnete Ungarn seine Westgrenze. Binnen drei Tagen flohen 15.000 DDR-Bürger nach Österreich, die meisten davon weiter in die Bundesrepublik. Ende September waren es 30.000.

Gleichwohl wurde am 7. Oktober der 40. Jahrestag der DDR mit Aufmärschen und Militärparaden inszeniert. Und Ehrengast Michail Gorbatschow sprach Erich Honecker gegenüber das schon bald geflügelte Wort: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Gut zehn Tage danach trat Honecker zurück.

Dann kam, am Freitag, 9. November, die berühmte Pressekonferenz in Berlin, auf der SED-Bezirkschef Günter Schabowski die Reisefreiheit der DDR-Bürger verkündete und auf Nachfragen eines italienischen Journalisten, ab wann sie denn gelte, antwortete: „Sofort“. Tausende strömten daraufhin zu den Grenzstationen. Wenig später hoben sich die ersten Schlagbäume, in Gang gesetzt von völlig verwirrten Grenzpolizisten, die sich gegen die anstürmenden Massen nicht anders zu helfen wussten. Die Mauer war an diesen Stellen offen, aber niemand wusste, ob sie offen bleiben würden.

Delia EversIch hörte die Nachricht im Autoradio während einer Fahrt nach Hamburg, wo ich meinen Bruder Stephan Evers besuchen wollte. Eingeschaltet war Radio Niedersachsen.

Delia Evers (1990).

„Herrgott im Himmel“, rief der Rundfunkredakteur ins Mikrofon und versuchte sich zu beruhigen. Funkstille auf dem Äther, dann erneut ein Ausruf: „Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!“ Seine Stimme vibrierte, rang um Fassung und klang plötzlich tonlos und leise:

„Die DDR reißt die Mauer ein.“

Das Radio brachte fortan keine Musik mehr, nur noch Live-Übertragungen aus Berlin, wo vor dem Schöneberger Rathaus Reden gehalten wurden. Während Millionen Deutsche vor den Fernsehschirmen saßen und jede neue Nachricht von den unglaublichen Entwicklungen einsogen, war ich ganz auf das Autoradio konzentriert - bis zur Ankunft in Hamburg am späten Abend.

Mein Bruder Stephan sagte: „Verdammt, jetzt müsste man in Berlin sein.“ Fünf Minuten später saßen Stephan und ich im Auto und fuhren Richtung Berlin.

Unterwegs lief pausenlos das Radio. Die Neuigkeiten bestürmten uns schneller, als der Verstand die Botschaften verarbeitete. Hundertmal fiel an diesem einen Abend jener Satz ungläubigen Staunens - ausgesprochen von Rundfunk- und Fernsehreportern, von Bürgern vor den Bildschirmen und Radios, von Menschen an der Mauer: „Das kann nicht wahr sein.“

Dann warteten wir an der DDR-Grenze bei Gutow in einer Fahrzeugschlange. Der erste nachhaltende Eindruck: Überall standen Menschen zusammen und redeten. Vor einer Absperranlage etwas weiter im Gelände hatten sich fünf Männer postiert und pinkelten die verhassten Zäune an. Einer der Männer sprang wenig später in einen Trabi aus der DDR, die anderen lehnten sich an einen Wagen Marke „West“. Die DDR-Beamten schauten geflissentlich am Geschehen vorbei, so wie sie bisher wohl „gewissenhaft“ hingesehen hätten.

Als wir näher an den Kontrollpunkt heranrollten, sahen wir links neben uns einen kleinen Menschenauflauf: Westdeutsche standen in der frostkalten Nacht mit Blumen, Kuchen und Getränken an der Abfertigung. Hier wie überall an den Übergängen zur Bundesrepublik wurden passierende DDR-Wagen mit Blüten geschmückt. Hände trommelten auf die Autodächer und klopften ihr „toi-toi-toi“ in die Ohren der Insassen, die das Geschehen genau so wenig fassten wie ihre westdeutschen Nachbarn. Gebäck, sektgefüllte Gläser und Glückwünsche „wanderten“ in die Wagen „Marke Ost“. Weinende Menschen waren unfähig sich zu bedanken, sie nickten mit ihren Köpfen, legten ihr Hände vors Gesicht.

Am folgenden Samstag beschrieb eine Frau in einem Interview ihre Gefühle: „Jahrelang hat man uns unterdrückt, endlich haben wir unsere Würde wieder.“

Doch noch in der Nacht zu diesem Samstag entwickelten sich Ereignisse, die Stunden vorher ein unerreichbarer Traum gewesen waren. Es war zwei Uhr, als Stephan und ich West-Berlin erreichten. Mein Bruder, der zuvor Jahre in Berlin gelebt hatte, lotste uns an den hoffnungslos überfüllten Brennpunkten vorbei in Richtung Brandenburger Tor. Wir passierten Autoschlangen und fuhren bis fast vor die Berliner Mauer.

Hunderttausende von Menschen bevölkerten die Straßen. Und die Professionalität, mit der West-Berliner selbst ein solches Geschehen „organisierten“, berührte beinahe peinlich: Längst wurde an eilig aufgestellten Ständen Glühwein ausgeschenkt; zum Volksfest fehlten nur noch die Buden für Bratwurst und Pommes.

Ein riesiger Sendemast der Post ragte in den Himmel und übertrug in alle Welt die unglaublichen Ereignisse; noch kurz vor unserer Ankunft hatten Reporter direkt unter der Mauer auf einer hell erleuchteten Bühne das Unfassbare beschrieben: Hunderte von Deutschen aus West und Ost hangelten sich unterhalb des Brandenburger Tors an der Mauer hoch, thronten auf der Mauerkrone und skandierten in die surrenden Kameras ihre Forderung: Die - Mauer - muss - weg!

Sie riefen es, und in der Nacht schlugen sie mit Spitzhacken, Hammer und Meißel in den symbolbeladenen Beton, einige arbeiteten Stücke heraus und brachen nach stundenlangem Rackern eine ganze Betonplatte herunter. Am nächsten Tag standen fliegende Händler auf dem Ku-Damm, die für 20 Mark ein Stück Mauer verkauften.

Das Unbegreifliche in der Nacht: Weder die DDR-Grenzer noch die West-Berliner Polizei griffen mit Gewalt ein. Trotzdem knisterte nervtötende Spannung: Was wollte sich die DDR-Führung noch alles gefallen lassen? Spürten die Menschen, die vom Westen her gegen die Mauer anrannten, wie explosiv die Lage geworden war?

Am folgenden Tag hatten die Deutschen aus Ost und West einen neuen Brennpunkt: den Potsdamer Platz. Hier, im Herzen der alten Stadt Berlin, sollte ein neuer Übergang in die Mauer geschlagen werden. Doch mit dem Wagen war das Gelände nicht mehr zu erreichen. Tausende Autos aus Ost-Berlin und der DDR verstopften die Straßen der Millionenstadt; das stinkende Zweitaktergemisch löste bei Tausenden Kopfschmerz und Übelkeit aus, ließ Hunderte in Ohnmacht fallen. Helfer des Katastrophenschutzes, Ärzte und Krankenhäuser behandelten im Akkord.

Trotz des unerträglichen Gestanks beklagte sich niemand. Strahlende Gesichter auf den Straßen suchten strahlende Gesichter in den DDR-Autos. Und sie strahlten tatsächlich, ein bisschen unsicher, aber unsagbar glücklich.

Ich stand mit meinem Bruder am Checkpoint Charly und betrachtete die Wessis, die Stunde um Stunde am Kontrollpunkt ausharrten, Auto um Auto beklatschten, Hände in die Wagen reichten, Arme durch die heruntergekurbelten Fensterscheiben schoben und ihren Nachbarn aus Ost-Berlin über die Haare streichelten, wenn die Menschen die Fassung verloren. Und es waren viele, die innerlich aufgewühlt nicht mehr an sich hielten. Tiefe Bewegtheit in allen Gesichtern. „Das hat nichts mit Deutschtümelei zu tun“, sagte eine Frau ungefragt in die Menge, „wir würden uns genau so freuen, wenn die Holländer oder Dänen plötzlich die Freiheit geschenkt bekämen.“ Wenig später sagte sie noch: „Es ist einfach ergreifend, wenn Menschen frei werden. Da muss man doch mitfühlen.“

Wir verbrachten den kurzen Rest der Nacht bei Bekannten in Kreuzberg, klebten schon am frühen Morgen zusammen mit Freunden vor dem Fernseher und staunten noch immer ungläubig.

Dann der Versuch, zur Baustelle am Potsdamer Platz zu gelangen: Selbst mit dem Fahrrad war an manchen Stellen nur schwer durchzukommen. Tausende waren vor uns da, umlagerten auf West-Berliner Seite den Bagger, der für den Durchbruch den Weg freischaufelte. Die Menschentraube hing so dicht am Baufahrzeug, dass es zeitweilig manövrierunfähig war. Immer wieder forderte die Polizei über Flüstertüten dazu auf, den Arbeitern mehr Platz zu geben.

Ungezählte Menschen spazierten vom Potsdamer Platz bis zum Brandenburger Tor, passierten Andenkenläden mit deutsch-deutschen Flaggen, mit Ansichtskarten und Fotos von der Mauer, über denen ein frisch gepinseltes Schild hing: „Die letzten Bilder von der Mauer, wie sie einmal war.“ Beharrlich rammte auf der gegenüberliegenden Seite der Mauer als Beweis ein östlicher Bulldozer seine Werkzeuge gegen den Beton.
Die ganze folgende Nacht wurde weitergearbeitet, am nächsten Morgen um 8 Uhr war der Übergang frei. Das Gedränge war derart groß, dass es lange Zeit dauerte, bis sich die ersten Ossies einen Weg bahnen konnten.

Zu dieser Zeit saßen wir am Frühstückstisch unserer Gastgeber und stärkten uns für die Rückfahrt. Die Verkehrsnachrichten prognostizierten für den Übergang Helmstedt 17 Stunden Wartezeit bei der Ausreise in die Bundesrepublik. Wir fuhren über Gutow in Richtung Hamburg und kamen so hervorragend und problemlos durch, als führen wir in die Niederlande.

Noch bis Hamburg standen auf jeder Autobahnbrücke, die wir unterquerten, Westdeutsche und winkten. Transparente verkündeten den DDR-Besuchern: Ihr seid herzlich willkommen.

Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt voraussagen, wie sich die DDR nun weiterentwickeln würde. Am 13. November kündigte Hans Modrow, gerade zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt, weitreichende Reformen an. Spekulationen über eine Wiedervereinigung erteilte er eine Absage. Am 3. Dezember traten das Zentralkomitee und das Politbüros der DDR zurück.

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© Martin Willing 2012, 2013