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INHALTSVERZEICHNIS |
Die Geschlossenheit der Redaktion
Es war die 46. Kalenderwoche des Jahres 1980. Die Journalisten der Tageszeitungen in Deutschland, die in Berufsverbänden organisiert waren, wurden vom Deutschen Journalistenverband (DJV) und von der Deutschen Journalisten-Union (DVU) darüber informiert, dass die seit Monaten geführten Verhandlungen über einen Manteltarifvertrag, der unter anderem die Arbeitszeiten neu regeln sollte, aus Sicht von DJV und DJU gescheitert waren.
Die Journalisten-Gewerkschaften riefen daher ihre Mitglieder für Freitag, 14. November, zu einem Warnstreik auf. Um den Druck auf die Verleger zu erhöhen, sollten die gewerkschaftlich organisierten Redakteure an diesem Tag für einige Stunden die Arbeit ruhen lassen.
Den Verlegern drohte schmerzliches Ungemach: Die meisten Redakteure gehörten entweder dem DJV oder der DVU an - in der Gelderner RP-Redaktion waren das fast alle -, und die zu bestreikende Ausgabe war die vom Samstag, also die umfangreichste und wirtschaftlich wichtigste Ausgabe der Woche.
Die Streikaktion war geschickt terminiert und - so zeigte sich schon neun Tage danach - überaus erfolgreich: Bereits am 23. November 1980 stimmten die Verleger dem Abschluss eines neuen Manteltarifvertrags mit 40-Stunden-Woche und faktischer 5-Tage-Woche, Sonn- und Feiertagszuschlag von 150 Mark sowie Urlaubsgeld von 70 Prozent des Gehaltes zu. Es war ein historischer Durchbruch für die bei Tageszeitungen arbeitenden Journalisten, den sie sich nicht zuletzt durch ihren Streik erkämpft hatten. In mehr als hundert Tageszeitungsredaktionen hatten am Freitag, 14. November 1980, Redakteure für mehrere Stunden ihre Arbeit nieder gelegt. Viele Ausgaben erschienen daraufhin nur als Notausgaben.
Von diesen etwa fünfhundert bis tausend Journalisten, die an diesem Freitag dem Streikaufruf gefolgt waren, hatte keiner irgendwelche Repressalien seines Verlages zu befürchten. Denn es war ein offizieller Arbeitskampf, ausgerufen durch die Gewerkschaften. Jeder Teilnehmer war durch Recht und Gesetz vor Repressalien seines Arbeitgebers geschützt.
Nur einer nicht.
In der RP-Redaktion Geldern war jeder über den für Freitag ausgerufenen Streik bestens informiert. Und alle waren mit Eifer bei der Sache, als wir gemeinsam überlegten, wie die von der Gewerkschaft formulierte Forderung nach einer auf 40 Wochenstunden beschränkten Arbeitszeit unterstützt werden könnte. Nach Diskussionen bekräftigten die sechs Journalisten - die vier Mitglieder der Lokal- und zwei der Schlussredaktion - ihre Entschlossenheit, dem Streikaufruf zu folgen.
Gleichzeitig bestand Einigkeit, dass wir auf keinen Fall wirtschaftlichen Schaden anrichten wollten. Eine „echte Arbeitsverweigerung", die zur Ausdünnung oder gar zum Ausfall des Lokalteil hätte führen können, stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Wir wollten, darin waren wir uns einig, nur einen symbolischen, aber keinen „echten" Streik mit wirtschaftlichen Folgen für den Verlag. Allerdings sollte er nicht so still und leise ablaufen, dass ihn niemand bemerken würde. Unsere Aktion sollte wahrgenommen werden.
Wir waren sicher, dass unser „symbolischer Streik" die mildeste Variante sein würde, mit der wir im Rahmen des legalen Arbeitskampfs Flagge zeigen konnten. Und um ganz sicher zu gehen, dass schwer wiegende Konsequenzen für die Kollegen ausgeschlossen waren, ließ Redaktionsleiter Martin Willing am selben Tag einen Rechtsanwalt seines Vertrauens den geplanten Vorgang beurteilen. Der Anwalt bestärkte ihn in der Auffassung, dass die Kollegen, die nur symbolisch „streiken" würden, vollkommen geschützt seien.
Zunächst wurde der gemeinsam erarbeitete und von Martin Willing in die Schreibmaschine getippte Text der Erklärung besprochen und von allen Redaktionsmitgliedern unterschrieben.
Das Originalschreiben der „Streik"-Erklärung,
die am 15. November 1980 veröffentlicht wurde. Es trägt die Unterschrift
aller sechs Redaktionsmitglieder. (Die Unterschriften sind - bis auf die
von Delia Evers
und Martin Willing - hier unleserlich gemacht).
Eine Kopie der Erklärung gab Martin Willing in Satz. Im Manuskript wurde eine sehr kleine Schriftgröße angewiesen. Die wenigen Zeilen wurden in einen flachen dreispaltigen Kasten auf der ersten Lokalseite eingebaut und war, da kurz und klein, von viel „Luft" umgeben.
Der Text lautete:
Die Redaktionsmitglieder der RP Geldern sind gestern dem Aufruf des Deutschen Journalistenverbandes gefolgt, die Arbeit für eine begrenzte Zeit ruhen zu lassen. Der Warnstreik hat folgenden Hintergrund: Um einen Lokalteil wie „Aus dem Gelderland„ dem Leser anbieten zu können, muß jedes Redaktionsmitglied mindestens 50 bis 60 Stunden wöchentlich arbeiten, obwohl lediglich 40 Stunden bezahlt werden. Der Verband fordert u.a. eine erhebliche Reduzierung der Arbeitszeit. Dies ist nur durch personelle Verstärkung der Redaktionen zu erreichen.
In der Nacht von Freitag auf Samstag, in der im Hause Schaffrath die Bleizeilen der Zeitungsseiten umbrochen wurden, begab sich Lokalchef Martin Willing in die Mettage und übernahm anstelle des diensthabenden Schlussredakteurs, der die Erklärung ebenfalls unterschrieben hatte, die Verantwortung für den Schlussumbruch des Gelderner Lokalteils mit dem „Streikkasten" auf der ersten Seite. Damit wollte Willing ausschließen, dass dem Kollegen der Vorwurf gemacht werden könnte, er hätte die Veröffentlichung des Kastens verhindern können - und müssen.
Am Vormittag des Samstags befassten sich Verlagsdirektion und Redaktionsspitze in Düsseldorf mit dem Fall. Erste Informationen drangen zum Lokalchef: Am liebsten würde man Martin Willing fristlos feuern, aber einen Prozess vor einem Arbeitsgericht mit eventueller publizistischer Begleitung - die Redaktion Geldern war gerade von der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet worden - wollte man vermeiden. Willing sollte nach Wesel strafversetzt werden und als einfacher Redakteur tausend Mark weniger verdienen als bisher. Ersatzweise könne man nach einer so genannten „einvernehmlichen Lösung" suchen.
Einer der „Düsseldorfer", der an den Krisengesprächen in der Zentrale beteiligt gewesen war, rief den in Ungnade gefallenen Lokalchef an und gab ihm den Tipp, aus eigenem Antrieb in die folgende Montag-Ausgabe einen erklärenden Text einzurücken, um die Wogen zu glätten und das Schlimmste zu verhindern.
Für die „eigene" Erklärung lieferte der „Düsseldorfer" einen Textvorschlag gleich mit, den er am Telefon vorlas und den Martin Willing mitschrieb. Der Wortlaut:
Die Notiz in der Samstag-Ausgabe betreffend die Arbeitszeiten von Journalisten hat offensichtlich zu einer Reihe von Missverständnissen geführt. Deshalb sei wie folgt erläutert:
1. Wir, die Gelderner Redakteure, haben am Freitag eine knappe Stunde lang diesbezüglich anstehende Fragen erörtert; von einem regelrechten Warnstreik, erst recht etwa von einem dreistündigen, kann keine Rede sein.
2. Wir sind und bleiben der Meinung, daß journalistisches Engagement nicht von der Uhrzeit abhängig ist, und stimmen deshalb mit gegenteilig erhobenen Forderungen nicht überein. Wir können und wollen keine „Stechuhr-Journalisten„ sein.
3. Das Thema „Arbeitszeit ist nicht auf Journalisten und schon gar nicht auf in Geldern tätige beschränkt. Es gilt - und darauf wollten wir aufmerksam machen - für das ganze Bundesgebiet.
Wir selbst werden uns wie bisher angestrengt bemühen, den Lesern einen Lokalteil wie „Aus dem Gelderland" zu bieten.
Mit diesem Textvorschlag trat Martin Willing am Samstag, 15. November, vor die Redaktion, die sich im Privathaus eines Kollegen in Geldern vollzählig bis auf ein Redaktionsmitglied, das sich später telefonisch zuschaltete, versammelt hatte.
Die Kollegen gaben sich zunächst empört über das Ansinnen. Das lese sich ja wie Klein-Beigeben. Die Mannschaft stehe wie ein Mann hinter dem Lokalchef und der gemeinsamen Aktion. Für den Fall, dass der Redaktionsleiter gefeuert würde, wäre die sofortige Arbeitsniederlegung sämtlicher Redaktionsmitglieder die angemessene Reaktion. Und falls dann allen gekündigt würde, gingen die Lokal- und Schlussredaktion gemeinsam zum Arbeitsgericht.
Trotz des Ernstes der Lage erzählten Redaktionsmitglieder in ausgelassener Stimmung, was sie beruflich tun würden, wenn das den Abschied von der RP bedeuten sollte. Ein Kollege zeigte sogar Begeisterung, als er ausmalte, wie er künftig als freier Reisejournalist unterwegs sein werde. Das habe er schon immer gewollt.
Nach der spontanen Ablehnung des von dem „Düsseldorfer" diktierten Textes ließ Willing in der Runde eine inhaltlich ähnliche, aber selbstbewusstere Fassung diskutieren, die weniger nach „Rückzug" klang. Der Lokalchef riet seinen Kollegen dringend dazu, wenigstens diese neu gefasste Erklärung anzunehmen, und betonte, dass sich die Redaktionsmitglieder damit auch aus ihrer sich selbst auferlegten moralischen Verpflichtung, im Falle eines Falles die Klamotten hinzuschmeißen, befreien könnten.
Wir trennten uns in der Erwartung, dass die Erklärung in der zweiten Fassung in der Montag-Ausgabe veröffentlicht würde. Niemand war über die Erklärung begeistert, aber wenn mit ihr die Lage entspannt werden könnte, dann sei sie hinzunehmen.
Am Sonntag, 16. November, hatte Martin Willing regulären Sonntagsdienst in der Redaktion. In Weeze-Laarbruch war ein Termin wahrzunehmen - eine Gedenkfeier auf dem Ehrenfriedhof für gefallene Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Willing stand unter den Teilnehmern wie neben sich und bekam von dem, was gesprochen wurde, so gut wie nichts mit. Trotzdem schrieb er später in der Redaktion einen brauchbaren Artikel und redigierte die am Montag erscheinende Lokalausgabe in gewohnter Weise - ohne die Erklärung, die auf der Redaktionsbesprechung am Tag zuvor mit Bauchschmerzen akzeptiert worden war.
Willing wusste seit dem späten Samstagabend, dass die Düsseldorfer inzwischen einen klaren Schnitt beschlossen hatten. Ein Insider aus der Verlagszentrale hatte Willing darüber in der Nacht informiert. Die Erklärung und ihre Veröffentlichung waren damit sinnlos geworden.
Als sich der Lokalchef am Sonntag zum Ehrenfriedhof in Weeze aufmachte, kam ihm das wie seine eigene Beerdigung vor. Am Montag, das war nun klar, würde er seines Amtes enthoben und beurlaubt werden. Ihm würden nur zwei Lösungen gelassen: Entweder Versetzung nach Wesel mit Gehaltskürzung oder Ausscheiden aus den Diensten des Verlags.
Er
ordnete seinen Schreibtisch und erfuhr kurz vor Verlassen der Redaktion,
dass der Verlag die Veröffentlichung einer von Düsseldorf formulierten
Erklärung angeordnet hatte.
Die konnten er und die Bezieher des Blattes am nächsten Morgen oben
rechts auf der Titelseite lesen:
In eigener Sache
Verlagsleitung und Chefredaktion der Rheinischen Post stellen zu der am
Samstag, 15. November, an dieser Stelle abgedruckten Behauptung
folgendes fest:
1. Es ist bisher gegenüber den zuständigen Stellen weder behauptet noch
gar bewiesen worden, daß zur Herstellung des Lokalteils „Aus dem
Gelderland„ jedes Redaktionsmitglied mindestens 50 bis 60 Stunden
arbeiten müsse.
2. Es trifft auch nicht zu, daß nur 40 Stunden wöchentlich bezahlt
würden.
Wegen der besonderen Bedingungen journalistischer Arbeit, die sich
weitgehend der Reglementierung entzieht, gibt es bisher keine tariflich
fixierte Wochenarbeitszeit. Die von den Journalisten-Gewerkschaften
gegenwärtig in der Tarifauseinandersetzung verlangte Einführung der
40-Stunden-Woche ist innerhalb des Journalistenberufes stark umstritten.
Redakteure wollen sich nicht der Stechuhr unterwerfen.
3. Die Rheinische Post zahlt in der Regel ihren Redakteuren, auch jenen
im Gelderland, übertarifliche Gehälter.
Sechs Tage nach der Beteuerung, unter Journalisten sei eine Regelung zur 40-Stunden-Woche „stark umstritten", setzten die Verleger ihre Unterschrift unter einen neuen Manteltarifvertrag, der exakt das festschrieb.
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© Martin Willing 2012, 2013