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Der Umfall der Redaktion
Am Montag, 17. November 1980, überschlugen sich die Ereignisse - in einem Rahmen eines absonderlichen Schauspiels. Seit dem Morgen klapperten Schreibmaschinen in den Redaktionsräumen wie an jedem Werktag. Emsig waren die Kollegen darauf bedacht, als Werktätige, die pflicht- und gewohnheitsmäßig ihrer Arbeit nachgehen, in Erscheinung zu treten und in Deckung zu bleiben.
Nur wer eingeweiht war, spürte das gespenstige Drama, dessen erster Aufzug begonnen hatte. Nach den Solidaritätssprüchen vom Samstag und den kämpferischen Ermunterungen der Kollegen, der Lokalchef solle die Geschichte durchstehen, die beiden Redaktionen stünden wie ein Mann hinter ihm, geriet die angestrengte Betriebssamkeit in die Nähe eines Schmierentheaters.
Statt wie zwei Tage zuvor beschworen, die Klamotten hinzuschmeißen, falls der Redaktionsleiter gefeuert würde, schuftete einer der Kollegen den ganzen Vormittag so heftig wie selten und halste sich noch die Arbeiten der Sekretärin auf, die im Urlaub weilte. Wie umgedreht war auch der Kollege, der auf der Krisensitzung am Samstag noch beteuert hatte, er freue sich bereits auf seine Zeit als Reisejournalist.
Martin Willing wartete am Vormittag in seinem Büro auf die avisierte Ankunft eines Vorgesetzten aus Düsseldorf, um die sofortige Beurlaubung in Empfang zu nehmen. Der Düsseldorfer machte es kurz und bündig, denn er kam schon nach wenigen Augenblicken aus dem Raum heraus und ging durch das benachbarte Redaktionsbüro, in dem ich saß. Eine Anhörung oder Aussprache, so hörte ich später von einem Vertrauten in Düsseldorf, hatte weder jetzt noch später stattgefunden.
Das Impressum wurde umgehend geändert.
Verantwortlich war ab sofort - bis zur Einsetzung eines Nachfolgers für
Martin Willing - der Lokalchef einer Nachbarredaktion, der am Mittag in
der Gelderner Redaktion eintraf, um nach dem Rechten zu sehen. Da hatten
die Kollegen bereits so fleißig gearbeitet, dass die nächste Ausgabe
stand: Aufmacher, Mehrspalter, Meldungen, Bilder - alles war fertig.
Einer der Kollegen hatte sich an diesem Montag mit seinem Arbeitseinsatz
besonders hervorgetan. Er übernahm für fast die ganze Woche Außentermine
und das Spiegeln der Seiten. Damit war nicht nur die vorher beschworene
Solidarität zerstört - sie wäre jetzt auch absurd gewesen, denn die
Arbeit, die die Kollegen aus Protest gegen die Beurlaubung ihres
Redaktionsleiters niederlegen wollten, war längst getan beziehungsweise
für die nächsten Tage geregelt.
Ich war als einzige übrig geblieben, die in dieser Krisensituation zum beurlaubten Lokalchef hielt. Alle anderen Kollegen versagten ihm ihre Solidarität. Einer von ihnen, der in einer örtlichen Gliederung des Deutschen Journalistenverbands führend tätig war, musste sich später für sein Verhalten in einem Ehrengerichtsverfahren verantworten.
Mir ging es seelisch so schlecht, dass ich mich gegen 17.30 Uhr abmeldete. Als ich erklärte, dass ich krank sei, tauschten zwei Kollegen ein Grinsen aus. Später erfuhr ich von einem Ohrenzeugen, dass einer der Kollegen sofort den Vorgesetzten in Düsseldorf angerufen hatte: „Die Evers spielt jetzt krank".
Am Dienstag, 18. November, erschien Martin Willing noch einmal in der Redaktion, um seine Arbeitskraft anzubieten - ein Vorgang, der bei einem eventuellen Arbeitsgerichtsprozess bedeutsam sein könnte. Niemand außer mir hatte mit ihm Kontakt aufgenommen. Längst war ihm klar geworden, dass die übrigen Kollegen ihn wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen hatten.
Einer der Kollegen machte einen Erklärungsversuch für den Umfall der Redaktion und deutete an, im Gegensatz zu ihm, dem Redaktionsleiter, hätte für die Kollegen die Existenz auf dem Spiel gestanden. Er, Willing, hätte ja schon eine andere Arbeitsstelle in der Hinterhand gehabt.
Der geschasste Lokalchef war über diese Falschinformation, mit der die Kollegen ihr Gesicht wahren und Unschuldshände vorweisen wollten, tief betroffen. Er brauchte einige Momente, um sich in seinem Büro zu sammeln, um dann ein letztes Mal mit den Redaktionsmitgliedern zu sprechen.
„Ich hatte und habe nie etwas anderes im Rücken gehabt", sagte er und zeigte, wie sehr er menschlich enttäuscht war. „Was ich Ihnen stets voraus gehabt habe und haben werde, ist meine Substanz, mein Mut und meine Ehre."
Nach dieser Klarstellung verließ Martin Willing die Redaktion. Es war die letzte Begegnung. Bis auf einen nahm keiner der umgefallenen Kollegen je wieder Kontakt zu dem früheren Lokalchef auf. Die meisten von ihnen sah nie wieder - weder in den fast 30 Jahren seiner Arbeit für das Kevelaerer Blatt, noch danach.
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© Martin Willing 2012, 2013