MARTIN WILLING
Der Traum von der Rheinwiese
Berührung
mit der Musik
Für die Türme des Doms hatte ich keine Augen.
Dort, wo der Rhein durch Köln fließt, lag Nacht über den Wiesen des
östlichen Ufers. Ein Dutzend Fremde standen nahe dem Wasser, in dem sich
die Lichter der Stadt spiegelten. Bei jedem Zug der Posaune blinkte sie
auf, die Trompete blitzte, die Klarinette blieb dunkel, das Schlagzeug
malte scharfe Konturen gegen den Nachthimmel, das weiße Fell meines
Banjos leuchtete wie eine Lampe.
Die vier Jazzer kannte ich flüchtig seit dem
Nachmittag. Unter den Leuten, die am Wasser verharrten, war mir nur ein
Gesicht vertraut, das eines Mädchens, 17 oder 18 und so jung wie ich.
Wir waren uns zuvor erst einmal begegnet, und zwar in Moers, wo ich zu
einem Kreis junger Musiker gehörte, die schon mal abends im Schlosspark
jazzten und im Tross ein paar Fans mitschleppten. Bei einer dieser
spontanen Open-air-Sessions war die junge Frau aus Köln dabei gewesen.
Der Abend bleibt mir unvergesslich, weil vom nahen Pastorat der
katholischen Kirche die Polizei gerufen wurde, die dann die Jazzer und
ihre Fans, versammelt auf einem Kinderspielplatz im Park, wegen Störung
der Nachtruhe des Platzes verwies.
Ich war der jungen Frau mit meinem Banjo im
Gepäck nach Köln gefolgt, denn - so hatte sie mich informiert - am
späten Abend würde am Fluss gejazzt. Sie kellnerte in einer Kölner
Szenekneipe. Dort war unser Treffpunkt. In den wenigen Stunden meiner
Kölner Visite tauchte ich in eine faszinierend andere Welt ein, die mir
gleichwohl auf unerklärbare Weise heimisch war. Jazzer und Jazzfreunde
brauchen nicht lange, um ihre Seelenverwandtschaft zu erkennen.
Das
viersaitige Tenorbanjo war mein drittes Instrument nach Klavier und
Gitarre, das ich spielte, wobei ich auf dem elterlichen Flügel zum
Verdruss meiner Familie längst keine klassischen Stückchen mehr
klimperte, für die ich als Kind teuren Klavierunterricht genossen hatte.
Martin Willing
am Klavier: 50 Jahre danach.
Ich hatte mich zu einem renitenten Noten-Legastheniker entwickelt, der
nur nach Gehör spielte und in Klangbildern musizierte. Für mich war das
Klavier Rhythmus-, nicht Melodieinstrument. Es folgte unter meinen
Fingern bluesonalen Stimmungen. Beim Blues war ich tief im Innern
berührt wie von keiner anderen Musik. Und wenn ich die Meister hörte,
die den Boogie oder den Blues spielten, bewegte sich mein ganzer Körper.
Natürlich hatten es meine Eltern gut gemeint,
als sie mir beim Übergang vom Kind zum Jugendlichen eine Gitarre
schenkten und dazu den Unterricht in klassischer Gitarre. Schon bald
entwich ich dem Abspielen vom Blatt und brachte mir die Griffe selbst
bei, die im Laufe der Lernphase zu durchaus kunstvollen Akkorden
heranreiften.
Was ich aus meiner begleitenden Gitarre
herausholte, kann so schlecht nicht gewesen sein, denn als ich - da war
ich der Obertertia kaum entwachsen - zusammen mit meinem
Klassenkameraden Henner Reichmann, der die gängigen Schlager unserer
Zeit auf dem Akkordeon drauf hatte, für ein Stündchen die Tanzkapelle
beim Presseball des Moerser Presseclubs bildete, ergriff niemand die
Flucht.
Ich brauchte Klangbilder und Rhythmus. Vom
Gospel schon früh gefangen, konzentrierte ich mich als Jugendlicher auf
den Blues in seiner schwärzesten Prägung. Wenn ich Platten hörte oder
Konzerte besuchte, wusste ich schon nach den ersten Takten, ob es
„meine„ Musik war. Ich erinnere mich an ein Gospelkonzert mit einem
professionellen Chor aus Amerika, das ich enttäuscht nach der Pause
verließ, weil in meinen Ohren die Sänger die Bluesonalität nicht perfekt
beherrschten, so wie ich es erwartet hatte.
Martin Willing,
Bluessänger (Signierkreide).
Den schlichten Aufbau des Blues aus drei
Chorussen hatte ich in Fleisch und Blut, die Bluetöne im Gefühl. Ich
liebte sie auch im Oldtime-Jazz, der als Dixieland in den 50er- und
60er-Jahren populär geworden war, und fühlte mich zu dieser Szene immer
stärker hingezogen.
Bei jeder Gelegenheit hörte ich die Platten des
Klarinettisten Bernhard Stanley Bilk, der als Mr. Acker Bilk Weltruhm
erlangte und dessen zitternden Tonfugen mir durch Mark und Bein gingen,
und natürlich die von Chris Barber, dessen erster Banjomann, Lonnie
Donegan, mein Vorbild war, als ich, von der sechssaitigen Gitarre
kommend, mir das Spiel auf dem viersaitigen Tenorbanjo beibrachte.
Der Wechsel von Gitarre zum Banjo markierte nur
äußerlich den Zeitpunkt, an dem meine kompromisslose Liebe zum alten
Jazz entfacht war.
Schon als Kind brauchte ich melodischen
Wohlklang in meinem Ohr, um die Musik als meine zu empfinden. Die
bekanntesten Opern und Arien hätte ich mitpfeifen können, so oft hatte
ich sie am elterlichen Plattenspieler genossen. Noch heute dringt, wenn
das Autoradio Mozart oder Verdi spielt, das Bild in mein Gedächtnis, wie
ich vor dem braunen Möbelstück in unserem Wohnzimmer lag und in mich
aufsaugte, was der Zehn-Platten-Wechsler ertönen ließ.
Meine neue Musik, deren Harmonie und Rhythmus
mich fesselten, begegnete mir zum ersten Mal in der Nachbarschaft des
Elternhauses. In der Abteistraße lebten die Trippe-Brüder, und einer von
ihnen hatte in Moers die Wandergruppe „Zugvogel" aufgebaut. Das
Zugvogel-Heim befand sich in einem Solitärbau auf dem Gelände des
Martin-Stifts an der Filderstraße. Als ich dort zum ersten Mal einen
Heimabend erlebte, am Kamin mit offenem Feuer, heißem Tee und Liedern,
die der Gruppenleiter sang und auf seiner Gitarre spielte, war ich wie
glücklich wie bei einer Erleuchtung.
Wir sangen Volkslieder, die jedem
geläufig waren, und Lieder aus fernen Ländern, die erst viel später
populär wurden. Unser Zugvogel-Führer kannte sie schon und brachte sie
uns bei. Es wäre mir egal gewesen, wenn verkopfte Musikkritiker uns die
manchmal schwermütigen, sentimentalen Lieder um die Ohren gehauen
hätten. Ich liebte an diesen Liedern ihren weichen Wohlklang und lernte,
mein Gehör für Harmonien zu schulen.
Natürlich faszinierte den 14-, 15-jährigen
Jungen auch die Naturverbundenheit der Gruppe. Wir schulterten
Rucksäcke, die wir
Affen nannten, und wanderten und trampten durch den
Niederrhein, trafen in einem Wäldchen an verabredeten Stellen wieder
zusammen, holten aus dem Gebüsch lange Stangen, die dort zuvor abgelegt
worden waren, bauten unsere Kote aus einzelnen Planen auf und
verbrachten die Nacht auf einer Lichtung vor dem Wäldchen. Am Feuer im
schwarzen Zelt wurde gesungen und erzählt. Für den Tee hatte jeder eine
halbe Kokosnussschale dabei.
Mein handgeschriebenes Liederbuch aus dieser
Zeit wurde mir zur liebsten Lektüre. Ich begleitete mich auf der Gitarre
zu Hause und wuchs langsam in meine ersten Jazz-Harmonien hinein.
Ich
hatte mein Instrument dabei, als ich, immer noch Jugendlicher, von
Nordengland, wo ich für sechs Wochen in einer Familie lebte, um meine
Englischkenntnisse zu verbessern, für einige Tage nach London trampte,
um in der europäischen Jazzmetropole der damaligen Zeit zu hören, was
ich so liebte.
Mein Gibson-Banjo von 1940.
Von dem Privatverkäufer dieses Banjos erwarb ich auch ein zweites Banjo
- ein wunderschön verziertes Instrument aus Frankreich. Rund 40 Jahre
später, nämlich im Jahr 2013, mailte mich dieser Verkäufer an und
fragte, ob ich dieses französische Banjo noch besitze. Er wolle das
Instrument gerne zurückzukaufen.
In der ersten Nacht verkroch ich mich im Hydepark, der abends abgesperrt
wurde, in einen kleinen Zeltpavillon, der neben einem verwaisten
Getränkestand aufgebaut war. Die zweite Nacht verbrachte ich auf einer
Parkbank, standesmäß bedeckt mit Zeitungen und trotzdem am nächsten
Morgen vollgekleckert mit dem, was die Tauben im Baumgeäst über mir
unter sich gelassen hatten.
Nicht dass das wichtig gewesen wäre, aber für
meine Geschichte haben die beiden ungemütlichen Nächte durchaus
Bedeutung, denn ich muss ziemlich erschöpft ausgesehen haben -
vielleicht auch nur wie ein blutjunger Pennbruder. Jedenfalls machte ich
beim Eintritt in ein Jazzlokal irgendwo in London, von dem ich gelesen
hatte, dass dort die Größen des Jazz regelmäßig spielen würden, eine
bemerkenswerte Erfahrung: Die Leute starrten mich an, als käme ich aus
einer anderen Welt.
Ich führte das auf meine etwas unorthodoxe
Erscheinung zurück und zupfte an meinem bekleckerten, nur grob
gesäuberten Mantel. Dann verdrückte ich mich in eine Ecke und wartete
das weitere Geschehen ab. Tief hinten im weitläufigen Lokal hörte ich
ihn rollen: Jazz vom Feinsten.
Nach einigen Momenten hatten sich meine Augen an
das schwache Licht in dem Jazzlokal gewöhnt. Und dann überkam mich, den
Pennäler aus der Kleinstadt am Niederrhein, ein mulmiges Gefühl. Die
dunklen Gesichter der vielen Gäste wurden nämlich nicht heller, denn es
waren - so habe ich es jedenfalls in Erinnerung - ausnahmslos schwarze
Jazzfreunde, die das Lokal bevölkerten. Einer muss wohl die Verwirrung
des Jugendlichen gespürt haben. Er kam zu mir und löste in wenigen
Augenblicken durch seine Freundlichkeit meine Verspannung.
Es wurde ein sensationeller Abend. Mr. Acker
Bilk, dessen Stücke wie Ohrwürmer in mir waren, stand leibhaftig mitten
unter uns und spielte eine Klarinette, wie ich sie eindringlicher nie
wieder gehört habe.
Von solcher Musik träumte ich damals auf der
Rheinwiese bei Köln, und es machte mir nichts aus, dass wir
unvollkommene Amateurmusiker waren. Denn es blieb kein Traum: Musik, die
mit den eigenen Fingern gespielt wird, schenkt Glücksgefühle - tiefer
und unmittelbarer, als das je beim Hören der Meister möglich wäre.
Mit 17 oder 18 Jahren war ich soweit, dass ich
die meisten Stücke aus dem Repertoire der bekannten Jazzbands auf meinem
Instrument beherrschte und ich, ohne lange zu fackeln, in Amateurbands
den Banjomann geben konnte. Die Titel, ihre Harmonien und den
Chorus-Aufbau hatte ich in einem grünen Ringbuchheft gesammelt. Beim
täglichen Üben tat es gute Dienste, vor Publikum wurde frei gespielt.
Als Jennifer Langlands, ein Mädchen aus der
Familie, die mich in Nordengland im Jahr zuvor während der Schulferien
aufgenommen hatte, zu einem Gegenbesuch nach Moers kam, hing ich mit ihr
tagelang vor dem Schallplattenapparat und spielte immer wieder
Blues-Stücke ab, während die junge Engländerin den oft schwer
verständlichen Text für mich aufschrieb.
Jennifer half mir,
die englischen Texte auszuformulieren.
Mein Pech war, dass die nicht wenigen
Amateurgruppen, mit denen ich als Jugendlicher am Niederrhein und in
Westfalen in Kontakt gekommen war, ausnahmslos schon Banjomänner hatten.
Bläser wurden gesucht, Banjospieler nicht. Mir blieben nur Gastrollen.
So entwickelte ich mich mit meinem
Rhythmusinstrument zwangsläufig zum Solisten, was widersprüchlich, aber
nicht zu ändern war, und spielte auch später, als ich längst für
Zeitungen arbeitete, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Noch heute fühle ich
mit meinem Wohnungsnachbarn mit, bei dem der helle, durchdringende Klang
des Banjos wegen der dicken Mauern nur als belästigendes Geräusch
angekommen sein muss.
Ein Rhythmusinstrument wie das Banjo braucht die
Band. Die sollte es nun endlich bekommen - Ende 1970, als ich mich nach
meinem beruflichen Wechsel in Emmerich eingelebt hatte und mit
Amateurjazzern in Kontakt gekommen war. Wir, ein Hauptschullehrer
(Klavier und Gesang), ein Berufsschüler (Schlagzeug), ein
Immobilienhänder (Bassgitarre) und ein Journalist (Banjo), gründeten die
Daniel Düsentrieb's Jazzcompany.
Drei Jahre lang trafen wir uns jede Woche zum
Proben in wechselnden Refugien, bis wir in Emmerich einen Keller mit
herrlichem Gewölbe beziehen konnten. Wir spielten auch auswärts gegen
Honorar, so zum Beispiel in einem Gelderner Szenelokal an der Issumer
Straße, das es heute nicht mehr gibt.
Mit meiner Berufung zum Lokalchef der
„Rheinischen Post" in Geldern - Mitte 1973 - ging diese schöne Episode
mit einer eigenen Jazzband zu Ende.