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Zweite Pilgerreise nach Portugal
Das Reisemobil ist abfahrtbereit. Ich warte noch auf den Anruf von Delia Evers aus Rom, die nach der Seligsprechung von Schwester Euthymia erste Eindrücke zur Heimatredaktion telefoniert.
Hunderttausende Pilger kamen zum Wallfahrtsabschluss 2001 nach Fatima. Fotos: Martin Willing
Als der Vorabbericht für unsere Zeitung Kevelaeerer Blatt geschrieben ist, fahre ich los.
Es ist
Sonntag Nachmittag. Ich breche zum zweiten Mal nach Fatima auf.
Der Weg ist weit. Sehr weit. Als ich auf Höhe von Lourdes in den
Pyrenäen
sind, habe ich erst die Hälfte der Strecke geschafft. Zwischen Kevelaer
und Fatima liegen normalerweise 2.650 Kilometer. Aber ich nehme bei
Burgos in Spanien nicht wie vor vier Jahren, als ich das erste Mal
Fatima besucht habe, die südliche Route auf Madrid und Lissabon zu,
sondern die südwestliche über Salamanca nach Guarda in Portugal. Das
kürzt die Strecke nach Fatima um gut 200 Kilometer ab, malträtiert aber,
wie ich zu spät merke, Motor und Fahrwerk, weil Portugal nur aus hohen
Bergen zu bestehen scheint und man nicht jedes Schlagloch umfahren kann.
1997 und 2001:
Pilgerfahrten von Martin Willing im Reisemobil nach Fatima in Portugal.
Mittwoch Nachmittag erreiche ich Fatima. Es ist die Woche des
Wallfahrtsabschlusses mit seinem Höhepunkt am 13. Oktober, dem letzten
Erscheinungstag. Als ich auf den Ring um das 9000-Seelen-Dorf einbiege,
rechne ich damit, dass die Parkplätze vor dem heiligen Bezirk belegt
sind, weil zum Abschluss Hunderttausende Pilger erwartet werden. Aber
alle sind frei, sogar der Parkplatz, der zur Basilika fast so nah liegt
wie der in Kevelaer vor Pastors Garten.
Die Temperaturen sind herbstlich mild so wie überall in Europa. Ein
Gewitter liegt in der Luft, und am späten Abend wird es gewaltig
schütten. Ich gehe zur Basilika und zur Gnadenkapelle. Einige Hundert
Menschen mögen jetzt hier auf dem Vorplatz sein, der sich von den Stufen
der Basilika etwa einen Kilometer bis zum Pastoralzentrum Paul VI.
zieht, wo am nächsten Morgen der 4. Kongress der europäischen
Wallfahrtsstädte beginnen wird, für den ich akkreditiert bin.
Links neben der Überdachung für das Gnadenbild und die winzige Kapelle
an der Erscheinungsstelle befinden sich die Ständer für Opferkerzen. Ich
kaufe einige und stelle sie zwischen das Chaos von krumm und schief
stehenden Kerzen. Der Wachssumpf am Boden der Opferstände wird in den
nächsten Tagen mehrmals lichterloh brennen.
Am nächsten Morgen schellt der Wecker um 6 Uhr. Ich mache mich fertig,
weil um 8 Uhr zum Auftakt des Kongresses eine hl. Messe in der Basilika
gefeiert wird. Da kurz vor acht immer noch alles ziemlich ruhig ist,
werfe ich einen kritischen Blick auf die Turmuhr der Basilika und sehe,
dass ich eine Stunde zu früh bin: Es ist - nach portugiesischer Zeit -
erst 7 Uhr. Also gehe ich zurück zur Teekanne.
Die schöne Hallenbasilika von Fatima ist kaum zu einem Viertel besetzt,
als in- und ausländische Priester, die am Kongress teilnehmen, einziehen
und gemeinsam zelebrieren. Zu den Priestern am Altar zählt auch der
Wallfahrtsrektor von Altötting, Wilhelm Probst. Unter den Besuchern
erkenne ich Altöttings Bürgermeister Herbert Hofauer, den ich zuletzt in
Tschenstochau gesehen habe, und Jean-Pierre Elcheroth aus Luxemburg, den
Leiter des dortigen Diözesanpilgerbüros, der seit Jahrzehnten immer
wieder in Kevelaer anzutreffen ist.
Für die Messfeier bekomme ich ein Heft mit den Noten und Texten der
Lieder. Meine Kenntnisse der portugiesischen Sprache beschränken sich
freilich auf die wenigen Brocken, die von einem Schnellkurs auf
Kassette, die ich unterwegs abgespielt habe, hängen geblieben sind. Und
die paar Wörter, die ich kenne, kommen wohl nicht vor. Aber das Schöne
an einer katholischen Messfeier ist ja auch, dass sie im Kern überall
auf der Welt gleich ist und mitgefeiert werden kann, selbst wenn kein
Wort der Landessprache verstanden wird.
Nach der Messe marschiere ich eine Viertelstunde, um von einem Ende des
Platzes zum anderen zu kommen, dorthin wo das Kongresszentrum steht.
An den beiden Haupttagen des Kongresses geht es um die „Foot Pilgrimage
in the Past, in the Present and in the Future“ (Fußwallfahrt gestern,
heute und morgen). Das wäre eigentlich ein klassisches Thema für
Kevelaer gewesen, denn in Europa gibt es nur wenige
Marienwallfahrtsorte, die über eine so lange und intensive Erfahrung mit
Fußwallfahrten wie Kevelaer verfügen.
Die Strukturen und Entwicklungsmöglichkeiten solcher Pilgerreisen kann
man allerdings nirgendwo besser studieren als im nordspanischen Santiago
de Compostela. Der berühmte Weg zum Grab des hl. Jakobus ist quasi der
Inbegriff von Fußwallfahrt. Ihr ungebrochener Reiz kann auch die
Organisatoren der Marienwallfahrten motivieren, den „unzeitgemäßen“,
kontemplativen Marsch der Fußpilger hoch zu schätzen und zu fördern.
Kevelaerern muss man das nicht sagen, denn hier vergeht in der
Wallfahrtszeit kein Tag, an dem nicht Fußgruppen mit Fahne, Gebet und
Gesang einziehen, und sei es nur nach einem kleinen Fußweg vom Stadtrand
ins Zentrum.
Was wir von Fatima lernen können, leitet sich indirekt aus der völlig
anderen Struktur des dortigen Wallfahrtsgeschehens ab. Zu Fatima führen
nicht, wie nach Santiago de Compostela, traditionelle Pilgerwege aus
weiten Bereichen Europas, auf denen ungezählte Fußpilger über die
Jahrhunderte Spuren hinterlassen haben.
Der erst 1917 entstandene
Marienwallfahrtsort wird auch nicht, wie Kevelaer, Altötting und
Lourdes, aber auch Luxemburg, Maria Einsiedeln (Schweiz), Mariazell
(Österreich) und Loreto (Italien) von maßgeblichen Urlaubsrouten Europas
berührt. Außer den Portugiesen und den vergleichsweise wenigen
Portugal-Urlaubern aus dem Ausland kann niemand „mal eben“ einen
Abstecher nach Fatima machen. Spontanpilger, die nicht nur für Kevelaer
immer wichtiger werden, können sich naturgemäß in dem dünn besiedelten
Land an der Atlantikküste in bedeutender Anzahl nicht einstellen.
Aus diesem Grund konzentriert sich das Wallfahrtsgeschehen von Fatima
hauptsächlich auf die wenigen Erscheinungstage von Mai bis Oktober.
Entsprechend sind die großen europäischen Fatima-Pilgerreisen
terminiert. Dann können es durchaus Hunderttausende an einem Tag sein,
die den Platz vor der Basilika bevölkern. Und bei den Papstbesuchen -
schon Paul VI. pilgerte nach Fatima - wurde die versammelte Menge sogar
auf eine Million Menschen geschätzt.
Alles ist in Fatima auf Großpilgertage ausgerichtet. Darin liegt einer
der wesentlichen Unterschiede zu Kevelaer. Die Dimensionen sind völlig
andere. Wären die scheinbar wenigen Pilger, die ich an meinem
Ankunftstag in Fatima - zwei Tage vor der bewegenden Lichterprozession
am Vorabend des 13. Oktobers - im heiligen Bezirk gesehen habe und die
auf dem riesigen Areal wie verloren wirkten, geschlossen zum
Kapellenplatz in Kevelaer gezogen - der kleine Platz wäre „voll“
gewesen.
Die „niederländische“ Filigranstruktur, die Kevelaers Kapellenplatz und
sein Umfeld prägt, entspricht wie selbstverständlich der Bescheidenheit
des Gnadenbildes der Trösterin der Betrübten. Gerade diese
Zerbrechlichkeit des Kevelaerer Heiligtums strahlt eine besondere Kraft
aus. Papst Johannes Paul II., so berichteten unsere Bischöfe, sprach
lange Zeit davon, wie sehr er von dem kleinen, blassen Bildchen
beeindruckt worden sei.
Kevelaer könnte gar nicht, selbst wenn die sonstige Infrastruktur darauf
eingestellt wäre, einen konzentrierten Massenbesuch wie Fatima
verkraften. Zwar muss auch Kevelaer mit „Stoßgeschäften“ fertig werden -
nach wie vor sind die Herbstwochen mit den Marienfesten besonders
beliebt -, aber der Wallfahrtsleitung gelingt es Jahr für Jahr, die
Pilgerströme auf die gesamte Pilgerzeit zu verteilen, wobei die in der
Mitte der 70er-Jahre durch Rektor Richard Schulte Staade vorgenommene
Ausdehnung der Wallfahrtszeit um zwei Monate sehr hilfreich ist.
Damit wird zugleich, um einen Begriff aus der Wirtschaft zu verwenden,
das „Risiko diversifiziert“: Kevelaer hängt existenziell nicht von
wenigen Großwallfahrten ab, sondern lebt von der Summe vieler
Prozessionen, von denen sich immer noch weit über 1000 im Jahr förmlich
anmelden. Und es lebt mit wachsender Bedeutung von den ungezählten
Kleingruppen und Individualpilgern.
Nun liegt die Frage nahe, ob Fatima abhängig von massenhaft
einfliegenden Auslandspilgern ist und sich Sorgen um die Zukunft machen
muss; denn wenn „die mal ausbleiben“ - was dann?
Wer aus dem deutschen Kulturkreis kommt, in dem von Entfremdung zu den
christlichen Kirchen, ja von Entchristlichung so viel geredet wird, dass
sich praktizierende Gläubige schon fast wie ein Anachronismus vorkommen,
überträgt leicht seine Erfahrungen auf andere Kulturkreise, so als
müsste es dort auch so zugehen. Dass Fatima in erster Linie nicht von
außen mit Leben erfüllt wird, erfahre ich geradezu körperlich während
der Lichterprozession und am nächsten Vormittag bei der heiligen Messe
auf dem Basilikaplatz mit vielleicht Hunderttausend Menschen. Zwar sind
unter ihnen, wie ich aus dem Lautsprecher höre, 13 Pilgergruppen allein
aus Deutschland, aber sie gehen in dem Meer von Portugiesen unter.
Wie stark die einheimische Bevölkerung zu ihrem Marienwallfahrtsort
steht, deutet sich bereits am Nachmittag vor der abendlichen
Lichterprozession an, als sich die Parkplätze und Überdachungen zu
füllen beginnen. Leute breiten unter Vordächern von Häusern, auch
„unseres“ Kongresszentrums, Decken aus. Die steinernen Tische und
Sitzbänke am Rande der Parkplätze werden mit Folien überspannt und
bilden Aufenthalts- und Schlafraum für Familien, die den 13. Oktober,
den letzten Erscheinungstag, im Heiligtum zu Fatima verbringen wollen.
Winzige Zelte werden auf den unbefestigten Parkplätzen neben Autos
aufgeschlagen.
Ich sehe, dass eine fünfköpfige Familie mehr schlecht als recht in einem
Mittelklassewagen übernachten will. Rund um den heiligen Bezirk sind
innerhalb weniger Stunden die Freiräume mit Nachtlagern
abenteuerlichster Prägung übersät. So muss es vor 150 oder 200 Jahren in
Kevelaer ausgesehen haben, als die Pilger weniger in Hotels und
Herbergen nächtigten, sondern in Scheunen und notdürftig hergerichteten
Lagern. Dass die Pferdekutschen auch in Fatima heute PS-Kutschen sind,
tut kaum was zur Sache. Es sind, soweit das Auge reicht, sämtlich Autos
mit portugiesischen Kennzeichen. Und sie kommen, so erfahre ich aus
einem der Vorträge des Kongresses, hauptsächlich aus dem nördlichen Teil
Portugals. Der Süden, besonders der Bezirk um die Hauptstadt Lissabon,
hat für die Fatima-Wallfahrt geringere Bedeutung.
Natürlich sehe ich viele dieser kleinen, schwarz gekleideten, alten
Frauen mit Kopftuch, die für einen südländischen Wallfahrtsort angeblich
so typisch sind. Aber nicht sie, sondern die ungezählten jüngeren
Menschen, die so chic gekleidet sind wie für einen Spaziergang über die
Düsseldorfer Kö, prägen die bunte Menschenmenge. Nicht vergessen werde
ich das Bild von einem jungen Mann, der etwa 300 Meter vor der
Gnadenkapelle, einen Rosenkranz in der Hand, auf seinen Knien
vorwärtsrutscht. Neben ihm geht im Schneckentempo ein hübsches Mädchen,
vielleicht seine Freundin, die ihm, so habe ich es einmal gesehen, über
den Kopf streichelt.
Fatima ist schon am späten Nachmittag vor der Lichterprozession, die um
21.30 Uhr beginnt, wie verwandelt. Wo normalerweise 9000 Einheimische
leben, bewegen sich jetzt mindestens zehnmal so viele Menschen in der
sanften Hügellandschaft, deren Mittelpunkt der heilige Bezirk bildet. Wo
immer ein freies Plätzchen war, drängen sich nun Minizelte, Verschläge,
Autos, über deren geöffnetem Kofferraum Folien gespannt sind. Für
nervenschwache Ordnungshüter aus Deutschland wäre das nichts.
Jetzt weiß ich auch, warum die Gemeinde Fatima rund um den Bezirk so
reichlich viele Toiletten mit Waschgelegenheiten installiert hat. Die -
zahlreichen - Hotels in Fatima haben eher für Ausländer, nicht aber für
das „portugiesische Volk“ Bedeutung an den Festtagen. Es wird, wie wir
sagen würden, „wild campiert“.
Natürlich hat ein Fremder, der aus einem von Gesetzen und Vorschriften
durchorganisierten Land kommt, beim Anblick eines solchen Feldlagers,
von dem er plötzlich und unerwartet umzingelt ist, Bedenken, ob das wohl
alles gut geht. Tatsächlich war es in der Nacht ruhig, friedlich, und
schon am frühen Morgen des nächsten Tages waren die Massen bereits
wieder auf dem Platz zur Feier der hl. Messe. Später, beim Gang durch
die mit Devotionaliengeschäften reich bestückten Straßen von Fatima,
sehe ich in Cafés Einheimische, die zum Kaffee mitgebrachtes Essen
verspeisen. Das zählte in Kevelaer noch bis in die Nachkriegszeit zum
gewohnten Bild.
Auffallend mehr als heute in den Kevelaerer Geschäften werden in den
Devotionalienläden von Fatima Skulpturen angeboten - in allen Größen und
Preislagen, viele in einer Anmutung, die man als kitschig bezeichnen
könnte. Einer der wenigen Läden, in denen Kunsthandwerk für so genannten
gehobenen Geschmack gezeigt wird, gehört den Steyler Missionaren. Ich
erstehe als Geschenk für einen Daheimgebliebenen eine kleine
handgeschnitzte, unbemalte Madonnenskulptur.
Holz ist, so unser
Eindruck, der meist benutzte Werkstoff für nach unserem Empfinden schöne
Devotionalien aus Fatima. Für Massenware überwiegt natürlich auch hier
Kunststoff. Was ich vermisse, sind Devotionalien aus Bronze, dem
Werkstoff, der für Kevelaer und andere nordeuropäische Wallfahrtsorte
eine so bedeutende Rolle spielt. Kevelaerer Kunstwerkstätten, die Bronze
verarbeiten, könnten in Fatima einen noch unbesetzten Markt finden, der
auch für höherpreisige Devotionalien - wie die Holzschnitzereien
beweisen - aufnahmefähig ist.
In einem Laden fällt mir ein kleines Kreuz ohne Korpus auf. Es ist aus
Metall. Querbalken und Träger sind fast so schmal wie ein Streichholz.
Warum mich ausgerechnet dieses fast nur angedeutete Kreuz so anspricht,
kann ich mir noch nicht erklären. Es hängt heute über dem kleinen
Eingang zum Hauskapellchen in unserem Refugium in Ostfriesland. Ich habe
es zu meinem Sterbekreuz erklärt.
Wer eine Lichterprozession in Lourdes erlebt hat, ahnt bereits, was mich
beim
Besuch in Fatima am tiefsten bewegt hat.
Hundertausende Lichter auf dem Platz vor der Basilika in Fatima.
Ich mache mich gegen 21 Uhr auf
den Weg zum Basilikaplatz und schwimme in einem Strom von Menschen mit,
der immer dichter wird. Viele Leute haben kleine Klappstühle bei sich,
deren Bedeutung ich erst später erfahre, als mein Rücken nach
zweieinhalb Stunden streikt und ich mich auf den Asphalt setzen muss.
Gegen 21.30 Uhr, als die Feier beginnt, zünden die ersten Pilger ihre
Kerzen an. Mit einziehender Dunkelheit flirrt das Licht der großen
Platzlampen in Kreuzform. Ich überblicke noch nicht, wieviele Menschen,
die sich der angestrahlten Fatima-Madonna vor der Gnadenkapelle
zuwenden, jetzt auf dem Platz versammelt sind. Wie in einer
Kettenreaktion leuchten immer mehr Kerzen in den Händen der Pilger auf.
Das Lichtermeer wälzt sich, soweit das Auge reicht.
In vielen Sprachen wird der Rosenkranz gebetet. Einmal beginnt der
Vorbeter auf Deutsch: Gegrüßet seist du Maria. Und die Menge antwortet
auf Portugiesisch: Sancta Maria. Schließlich wird die Fatima-Madonna
durch die Menge zum Altar vor die Basilika getragen, und die Menschen
singen dazu das Ave Maria, das in den Marienorten der Welt zu hören ist,
und heben ihre Kerzen.
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© Martin Willing 2012, 2013