|
|
|
Die
Pfarrgemeinde St. Marien ist voll der Freude. Der junge Kaplan, der
gerade seinen Dienst aufgenommen hat, macht einen sympathischen
Eindruck und tritt locker auf. „Ich gehe gerne unter die Leute und
trinke auch mal ein Bier mit ihnen. Gerade zu den Jugendlichen einer
Gemeinde darf die Distanz eines Kaplans nicht zu groß sein“, sagt
Franz-Josef Stange im ersten Gespräch mit dem KB.
Der 36-jährige Münsteraner hat einen „eigenen Kopf“ und zieht nach wenigen Tagen
aus dem Priesterhaus in eine separate Wohnung im
Don-Bosco-Heim. In ihr richtet sich der Kino- und Musikfreund gemütlich
ein und freut sich seines Lebens.
„Ich möchte meine Eigenständigkeit behalten“, sagt er. „Ein Priester,
der in einer Gemeinde lebt, muss für jeden erreichbar sein.
Wer zu mir kommen möchte, kann dies gerne tun, auch ohne
Anmeldung an der Pforte des Priesterhauses.“ Und dann sagt er: „Ich
hoffe, dass die Kevelaerer meinen Stil akzeptieren.“
Was er bisher von St. Marien kennen gelernt hat, macht ihm Mut und
Freude. „Es ist eine sehr motivierte und aktive Gemeinde. Sie hat das
Bedürfnis, Gemeinschaft zu erfahren. Deshalb ist es für mich als Kaplan
wichtig, mit ihr einen gemeinsamen Weg zu gehen.“ Er betont das
Gemeinsame, das sein kurzes Leben bestimmen und die Herzen der Menschen
in St. Marien öffnen wird.
Als gelernter Bankkaufmann hat Franz-Josef Stange mit 24 Jahren ein
Theologiestudium in Münster begonnen - angeregt durch die Jugendarbeit,
die ihm so wichtig ist. 1985 wird er in Altenoythe, einem kleinen Dorf
im Oldenburger Land, zum Diakon geweiht. Die Priesterweihe erhält er
1986. In Oldenburg, wo er bis zu seiner Versetzung nach Kevelaer tätig
ist, unterstützt er den Arbeitskreis „Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung
der Schöpfung“, in dem er über vier Jahre lernt, wie man mit wenigen
Mitteln wirksam arbeiten kann. In St. Marien wird dem Kaplan die gesamte
Jugendarbeit übertragen. Wichtig ist ihm auch der Aufbau von
Beziehungen zu jungen Familien.
Er braucht den Draht zu den Mädchen und Jungen nicht zu suchen, er hat
ihn, kann denken und leben wie sie. Sonntags ist er in den
Kindergottesdiensten an der Friedenstraße zu Hause, „alltags“ in den
Sorgen und Problemen von Jugendlichen und Kriegsdienstverweigerern.
„Es ist nicht seine Sache, groß zu diskutieren“, wird später sein Freund
Georg Fedke über ihn sagen. Stange ortet ein Problem und räumt es aus
dem Weg. „Er sieht Lösungen oft unmittelbar.“ Gibt es in der Not für ihn
nichts zu tun, behält er sein heiteres Wesen. Not gehört für ihn
zum Menschsein. Kann er allerdings helfen, tut er es mit ganzem
Herzen und ganzem Einsatz. Georg Fedke: „Er holt die Menschen da ab, wo sie stehen“, will
sie nicht an der Hand halten, sondern sie auf die Füße stellen.
Und er spricht nicht drumherum. Als einer der jungen Autoren der Rubrik
„Bedenkliches“ im Kevelaerer Blatt nimmt er Mitte Oktober 1991 offen zum
„Fall Eugen Drewermann“ Stellung:
„Seit Anfang der
80er-Jahre steht Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann im
Kreuzfeuer von begeisterter Zustimmung und heftigster Ablehnung. Nun ist
ihm vom Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt die
Lehrerlaubnis an der Theologischen Fakultät in Paderborn entzogen worden
wegen seiner Äußerungen zu Amt und Kirche, der Jungfrauengeburt und der
Abtreibung.
Bekannt wurde Eugen Drewermann als ein Theologe, der mit Hilfe der
Psychoanalyse tiefenpsychologische Deutungen des christlichen Glaubens
wagte. Er hat die Welt der Bilder in der Bibel, aber auch in den Märchen
neu entdeckt und interpretiert. So hat er auch versucht, das
Markusevangelium tiefenpsychologisch auszulegen. Ziel seiner Auslegung
ist es, aus den Texten des Evangeliums ‘Bilder von Erlösung’ zu erheben,
die dem Menschen helfen sollen, sein eigenes Leben neu zu verstehen. Er
möchte den Menschen aus dem Getto der Angst herausholen. Jesus sei
gekommen, die Menschen von der Angst zu befreien. ‘Jesus erlöst die
Menschen, indem er sie erfahren läßt, daß Angst die falsche Haltung
ist.’
Solche Worte machen mir als Christ und Theologe Mut. Um so bedenklicher
finde ich es, daß Eugen Drewermann keinen Platz mehr in unserer Kirche
hat. Aber gerade ein Seelsorger, dem es darum geht, den Menschen Mut zum
Glauben, Mut zum Leben zu machen, muß seinen Platz in unserer Kirche
haben. (...)“
Dann kommt der 2. Februar 1995.
Um 16 Uhr schlägt die Totenglocke der Basilika. Viele Kevelaerer wissen:
Ihr Kaplan ist gestorben.
Menschen bleiben in den Straßen stehen. Beklemmend stille Sekunden folgen.
Plötzlich dröhnt aus dem Turm
der Marienkirche wuchtig, festlich und froh das volle Ostergeläut.
Tod und Auferstehung - für wen
liegen sie enger beieinander als für einen Geistlichen? Dennoch unfassbar ist
für viele Pfarrangehörigen, dass ihr Kaplan „Franjo“ Stange nicht mehr
lebt. Er hat eine Lungenentzündung verschleppt.
Sein Freund Georg Fedke erinnert sich an die erste
Begegnung: „Er stand da in einem bunt gestreiften Pullover. Wir sahen
uns an und waren gleich ,per Du‘“. Franz-Josef Stanges Leben hat wenig
mit äußeren Werten zu tun gehabt. „Seine Wohnung sah aus wie eine
Studentenbude“. Die Jugendarbeit war seine Welt.
In seiner Primizpredigt 1990 hatte der Geistliche sich einen Gedanken
von Jeremias zum Leitwort gewählt: Er wolle sich Neuland unter den Pflug
nehmen. „Er zog in Kevelaer Furche um Furche“, meinte Pastor
Richard Schulte Staade nach Stanges Tod und behielt das Bild bei. „Jetzt hat er
sich selbst in die letzte Furche gelegt.“ Die Saat könne aufgehen. In
einem Nachruf auf ihren Kaplan sagten die Jugendlichen von St. Marien
ihrem Franjo: „Wir werden in Deinem Sinne weitermachen.“
Auf die Frage nach dem „Warum mit 40 Jahren?“ sagte Schulte Staade, nicht die Menschen
hätten das Maß zu setzen. Kaplan Franz-Josef
Stange habe ungewöhnlich intensiv „und immer nach vorn drängend“ gelebt.
„Die Nützlichkeit eines Lebens liegt nicht in seiner Länge, sondern in
seiner Anwendung“, schrieb Michel de Montaigne vor mehr als vier
Jahrhunderten. Und der
Kevelaerer Pastor sagte: „Jeder stirbt am Ende seines Lebens.“
Als 1996 für Franz-Josef Stange das erste Jahresamt in der Festmesse zum
Lichtmesstag begangen wurde, war sein Grab auf dem Kevelaerer Friedhof,
wo er, wie er es in seinem Testament gewünscht hatte, begraben liegt,
immer noch geschmückt. Es trägt auch einen
Gedenkstein, auf dem Franz-Josef Stanges Lieblingsgedanke, das
Gotteszeichen des alten Testaments, gezeigt wird.
Es ist der Regenbogen, der an das Gotteswort nach der großen Flut
erinnert: „Ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein.“