Janßen, Hendrina (Tütten
Din)
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Kauffrau in Kevelaer | * 1914 | † 2005
Ihr
Leben ist so reich verlaufen wie ihr Wortschatz groß, ihr Mundwerk
prächtig und ihr Dickschädel hart waren. Mit diesen Eigenschaften war sie
eine überaus selbstständige und
liebenswerte Dame: Hendrina Janßen, besser bekannt als
Tütten Din.
Sie hat die Anekdote, wie sie zu dem Beinamen
Tütten Din
gekommen ist, 1000 Mal erzählt. Und immer wieder hörten die Leute
gern zu, wenn Hendrina Janßen mit kräftiger Stimme und in bestem Platt
ihre eigene Geschichte erzählte, ein Leben reich an Dönekes, an harter
Arbeit, an traurigen Erlebnissen und an familiären Freuden.
Es beginnt 1914; sie ist eins von sieben Geschwisterkindern, vier
sterben bald nach der Geburt. Sie selbst steht früh als Verkäuferin in
einem Lebensmittelgeschäft, das in ihrem Elternhaus an der Biegstraße
untergebracht ist und von Nöll Beckers, dem Fleischer und Schlachter von
der Bahnstraße, als Filiale geführt und mit Wurstwaren beliefert wird.
Vor
allem aber kurvt sie auf dem Fahrrad durch Kevelaer und Umgebung. Ihre
riesigen Weidenkörbe belädt sie mit Waren, die für die Bauern im Umland bestimmt
sind, Zucker, Salz und Mehl, alles in Tüten verpackt, die sie aus
Zeitungspapier dreht; so bringt das Kävels Bläche einen Doppelnutzen.
Von den Höfen nimmt sie Eier aller Klassen mit zurück, um sie an der
Biegstraße zu verkaufen. Der Transport verlangt eine besondere
Fertigkeit, denn die mit 1000 Eiern bestückten Körbe bringen erheblich
mehr Gewicht auf die Waage als das Mädchen.
Manchmal ist sie mit einer voll bepackten Karre unterwegs. Vorher hat
sie angeschirrt: Ihr stämmiger Spitz muss sich ins Zeug legen.
Dina ist noch jung, da gilt sie schon als Original.
Hendrina Janßen als junge
Frau.
Eine
weitere Einnahmequelle: Die Familie hält selbst Hühner und kauft sie
massenweise zu, nimmt sie aus, säubert und rupft sie, und bietet sie auf
Wochenmärkten an. Sie verarbeiten auch Enten und Gänse – sehr ungern,
denn zu Weihnachten kommen Kunden gern auf den letzten Drücker und
bestellen eine Gans. Dann fängt die Familie an zu rupfen. Die Federn
hängen im ganzen Haus.
Aus Dina wird Tütten Din, die Hühner-Dina. 1938 heiratet die junge Frau
Theo Janßen, bekommt 1939 ihr erstes Kind, das früh stirbt, ein Jahr
darauf ihren Sohn
Theo, und steht allein mit der Verantwortung für Kind,
Haus und Einkommen. Ihr Mann ist Soldat und kehrt erst zehn Jahre später
nach Kriegsdienst und Gefangenschaft zurück.
Dina Janßen muss sich und ihr Kind allein über Wasser halten. Sie
bekommt keinen Pfennig Unterstützung und tut, was sie immer getan hat.
Sie handelt mit Waren - jetzt auch über die zehn Kilometer entfernte
Grenze hinweg. Sie schmuggelt, fährt mit Körben voll Eiern hin und her
und
verstaut darunter päckchenweise Kaffee, den sie in Holland 20
Pfennig preiswerter bekommt als in Kevelaer. Sechs Päckchen kann sie pro
Fahrt unterbringen. „1 Mark 20 Gewinn“, frohlockt sie.
Die Körbe bersten fast, so viele Eier führt sie mit. Kunden und
Lieferanten müssen das Rad halten, wenn sie aufsteigt, und sie
anschieben. Aus eigener Kraft bekommt sie das Gewicht auf zwei Rädern
erst bewegt, wenn sie rollt. Ihre größte Sorge: Dass sie unterwegs ein
Hindernis zwingt abzusteigen. Dann kommt sie nicht weiter.
Einmal wird sie erwischt, aber noch auf deutscher Seite. Ihre Eier
stammen, so behauptet sie, von einem deutschen Bauern. Leider stellt
sich heraus, dass der Mann nur zehn Hühner besitzt - Tütten Din hat aber
1000 Eier in ihren Körben. Trotzdem können ihr die Zöllner nichts
anhaben, denn den Eiern ist nicht anzusehen, ob sie aus Holland oder
Deutschland stammen. „Ein Pech“, ärgert sich einer von denen, die sie
vernehmen, „dass Eier aus Holland nicht viereckig sind. Dann hätten wir
Dich jetzt.“ Die Eier werden beschlagnahmt, Dina kommt ungeschoren
davon.
Nicht immer ist sie mit Rad oder Karre unterwegs. Manchmal steht ihr ein Wagen
zur Verfügung, den Führerschein hat sie noch vor Ausbruch des Krieges
gemacht. Das Benzin ist knapp, aber weil sie hilft, die Bevölkerung zu
versorgen, bekommt sie sogar Spritgeld: fünf Mark im Monat. Das Vehikel
teilt sie mit Arzt Dr. Gausselmann.
Endlich ist der Krieg aus, und ihr Mann kehrt aus der Gefangenschaft zurück. Da er keinen Meisterbrief hat, darf er keine eigene Metzgerei
betreiben. Aber er macht Hausschlachtungen bei Bauern und wurstet dort.
1950 bekommt sie ihr drittes Kind: Maria. 1956 übernehmen sie und ihr
Mann von Nöll Beckers das Ladengeschäft.
1961 bringt einen besonderen
Tag: Der junge Theo, mit gerade 21 Jahren frisch gebackener
Fleischermeister, macht sich im Haus an der Biegstraße mit eigener
Metzgerei und Schlachterei selbstständig. Er bleibt Tütten Thei, obwohl
die Viehcher, die er tellerfertig aufbereitet, ein bisschen größer sind,
als die Flattermänner von einst.
Nur elf Jahre später verliert Hendrina Janßen ihren Mann.
Sie
bleibt ihrem Elternhaus und ihrer Familie treu und kümmert sich im
Geschäftshaushalt gern mit um die Enkelkinder. Bis ins hohe Alter bleibt
das Rad ihr bevorzugtes Gefährt.
Ihre liebste Beschäftigung kommt ihrem großen Mundwerk zugute: Sie trägt
mit Mutterwitz, reicher Gestik und einem grandiosen Gedächtnis
plattdeutsche Gedichte vor. Die Kevelaer-Sammlung „Maisüches en
Heijblumme“ kennt sie fast auswendig. So ist sie gern gesehene
Erzählerin bei zahllosen Mundartabenden und unterhält Säle voller
Plattfreunde.
Das bleibt auch der Post nicht verborgen. Wenn bei ihr ein Brief
eingeht mit der Adresse „Frau Tütten Din, Biegstraße“, wissen die
Zusteller, wo sie einzuliefern haben.
Hendrina Janßen stirbt 2005 mit 91 Jahren. Dabei hatte sie sich fest
vorgenommen, 100 zu werden.
In einem
Mundart-Gedicht hat
Willi Rommen sie beschrieben:
Tütten Din
Lopt gej öwer de Bieg, dann kommt gej vorbej
an de Metzgerej van den „alde“ Janßes Thei.
Dern hat okkern Frouw, wie soll et well sinn,
dat ess die ons all bekennde Tütten- Din.
Miek de Mütterverein of andere ör Feste,
giv Dina dor ör Döntges te beste.
Ok Fastelovend, wie soll et well sinn,
klömde in de Bütt ons Tütten-Din.
Dat schönsten ess, Dina mekt alles op platt,
sej hätt ja ok völ Gedichtges en Döntges satt.
Van Dag sinn nimmer völ, die dat noch dünn,
dröm lot sej meer wier dun, ons Tütten-Din.
Wej hope, dat sej noch völ Johre bevt ja hier,
dann hebbe wej met ör ok noch völ Plesier.
Sej ess ja noch röstig, enn överall darbej,
Tütten-Dinn, die Frouw van Janßes Thei.