Französische
Besatzungszeit
►
22 Jahre Herrschaft Napoleons über den Niederrhein | 1792 - 1814
Die Enteignung des gesamten Kirchenbesitzes in Frankreich
beginnt am 2. November 1789 auf Antrag des Ex-Bischofs von Autun,
Charles Maurice de Talleyrand-Périgord († 1838): Die französische
Nationalversammlung erklärt das Kirchengut zum Nationaleigentum.
Napoleon Bonaparte. Abbildung zitiert aus: Jörg Becker/Karl-Heinz
Tekath (Hrsg.), Franzosen am unteren Niederrhein. Heimat und
Verkehrsverein Goch, 1994. S. 61
Als Entschädigung für diese umfassende Säkularisation des kirchlichen
Eigentums sichert der Staat zu, den Pfarrern ein Staatsgehalt zu zahlen
und die bis dahin von der Kirche getragene Armenfürsorge zu übernehmen.
1792 - Preußen und Österreich liegen mit Frankreich im
Krieg. Am 17. Dezember 1792 besetzen französische Truppen Gebiete des
Niederrheins und marschieren an diesem Tag auch in Kevelaer ein.
Unter
General Mirande steht die französische Nord-Armee entlang der Maas. Von
dort aus fallen die Franzosen zu Raubzügen ins Gelderland ein, aus dem
sich preußische Streitkräfte nach der militärischen Niederlage der
Österreicher bei Jülich (3. November 1794) völlig zurückziehen werden.
Das gesamte linke Rheinland wird im
Frieden von Basel (5. April
1795) zunächst vorläufig und im
Frieden von Lunéville (9.
Februar 1801) völkerrechtlich vom deutschen Kaiserreich an
Frankreich abgetreten.
Wenige Monate vor der Besetzung Kevelaers Ende 1792
haben die Gläubigen in einer Prozession das 150. Stiftungsjahr der
Wallfahrt zur "Trösterin der Betrübten" gefeiert (9. Juli). Allerdings:
Kirchenschätze aus dem Wallfahrtsort werden in Sorge vor Vernichtung
oder Konfiszierung durch die Franzosen zur Nordsee-Insel Nordstrand
gebracht. Zwölf Karren, vollgepackt mit Kelchen, Kerzenhaltern,
Monstranzen und Kleinodien, rollen nach Norden, und sie kommen auch
unversehrt auf Nordstrand an. Dort lagern sie 16 Jahre lang in einem
Haus der Oratorianer - bis zum Totalverlust im Jahr 1806: Das Haus fängt
bei einem Unwetter Feuer, und in den Flammen gehen sämtliche
Kirchenschätze aus Kevelaer verloren.
Mit den Franzosen ist nicht zu spaßen: Der Superior des Oratoriums wird
am 17. Dezember 1792, dem Tag des Einmarsches in Kevelaer, um 100 Pfund
Fleisch und 200 Pfund Brot erpresst. Der Franzosen-Trupp zieht am
folgenden Tag wieder ab und kommt am 19. Dezember zurück. Er besetzt das
Oratorianer-Kloster. Keiner der Insassen darf hinaus. Der Kommandierende
verlangt von dem Kloster die Zahlung von 15,000 Pfund - eine ungeheuer
hohe Summe Geldes. Bei Weigerung, so wird gedroht, werden vier
Oratorianer als Geisel nach Frankreich abgeführt.
Die eingeschüchterten Klosterbewohner und helfende Einwohner Kevelaers
zahlen 15,000 franz. Ds (beinahe 4,000 Thl.).
Viele Geistliche sind bereits Ende 1790 aus Frankreich
geflohen, weil sie die Eidesleistung auf die neue Verfassung verweigern.
In Goch leben 1794 mehr als 40 französische Priester, die bei den
katholischen Einwohnern frei wohnen dürfen und von ihnen unterhalten
werden. In Emmerich ist Johann Heinrich von Frankenberg, der Primas von
Belgien und Erzbischof von Mecheln, untergetaucht.
Inzwischen schreitet im revolutionären Frankreich die
"Dechristianisierung" voran. Geistliche und Ordensleute werden verfolgt.
Die christliche Zeitrechnung wird am 2. September 1792 durch einen
republikanischen Kalender mit einer 10-Tage-Woche ersetzt. Nicht genug:
Das Christentum wird im November 1793 "offiziell abgeschafft". Alles
Entscheidungen von kurzer Geltungsdauer: Ab 1806 ist der Kalender-Spuk
vorbei. Dann gilt die alte Zeitrechnung wieder.
Was die Deutschen erwartet, falls es zu einer
dauerhaften Besatzung kommt, wird also in Frankreich bereits
vorexerziert und schließlich - zum Teil - auch am Niederrhein
durchgesetzt: Öffentlicher Kult und alle Zeichen der Religion wie Kreuze
werden verboten. Das Begräbnis muss ohne Totengeleit, Glockengeläut und
Priester erledigt werden.
Prozessionen nach und in Kevelaer werden mit der Begründung abgeschafft,
dass sich in ihrem Gefolge Gesinde herumtreibe, das ein "Frevel wider
die göttliche Majestät wäre". Erst mit dem Konkordat, das Napoleon und
Papst Pius VII. im Jahr 1801 unterzeichnen werden, werden solche absurden
Beschränkungen aufhören. Danach darf wieder zum Gnadenbild gepilgert werden.
In Kevelaer wird die Bedrohung von Kirche und Gnadenort allerdings
unterschätzt. Am 28. April 1793 zieht eine feierliche Dankprozession zur
Gnadenkapelle: Das Gnadenbild, das man mitsamt den Silbersachen und dem
Archiv vor dem Einfall der Franzosen versteckt hat, wird an seinen
angestammten Platz zurückgebracht.
Die Gefahr ist aber nicht vorüber, sondern die Fremdherrschaft beginnt
sich jetzt auszubreiten. 1794 ist das gesamte linke Rheinufer von den
Franzosen besetzt.
1795 sind alle linksrheinischen Fürstentümer wie Geldern, Moers und
Kleve Frankreich einverleibt.
Die 1803 zunächst in Frankreich vollzogene
Säkularisation hätte ohne Napoleons Druck kaum eine solche Radikalität
erreicht. Der Papst stört den Verweltlichungs-Prozess nicht durch
Versuche, die geistlichen Fürstentümer im zerfallenden alten Reich zu
retten, weil er als Reaktion noch weitergehende Einschränkungen und
Verluste befürchtet.
Die
Menschen zwischen Rhein und Maas rechnen mittlerweile mit
langjähriger Besatzung - tatsächlich wird sie nur bis 1814 dauern. In
den 22 "Franzosen-Jahren" werden die Strukturen am Niederrhein auf den
Kopf gestellt. Das Land wird in Departements eingeteilt. Der Raum
Kevelaer zählt zum Roer-Departement mit der Hauptstadt Aachen.
Das Roer-Departement: Kevelaer fehlt unerklärt auf dieser Karte. Abbildung zitiert aus: Jörg Becker/Karl-Heinz
Tekath (Hrsg.), Franzosen am unteren Niederrhein. Heimat und
Verkehrsverein Goch, 1994. S. 35
Das
Roer-Departement besteht aus den vier Arrondissements Aachen, Köln,
Krefeld und Kleve. Das Arrondissement Kleve hat zehn Kantone, nämlich
Kleve, Kranenburg, Ravenstein, Gemert, Kalkar, Xanten, Goch, Horst,
Wankum und Geldern. Zum Kanton Geldern gehören die Mairien (Gemeinden)
Geldern, Veert, Pont, Walbeck, Arcen, Twisteden, Kevelaer, Wetten,
Kapellen, Issum, Sevelen, Vernum, Nieukerk und Eyll.
Mit dem "Sonderfrieden von Basel" (1795) ist Preußen kein Kriegsgegner
Frankreichs mehr. Preußen gibt klein bei, weil es wenigstens seine
rechtsrheinischen Gebiete vor den französischen Truppen schützen will.
Der preußische Teil des Herzogtums Geldern wird quasi an Frankreich
abgetreten. Da ist Napoleon Bonaparte gerade 26 Jahre alt und bereits
seit zwei Jahren Brigadegeneral. Nun wird er auch zum Oberbefehlshaber
der französischen Armee in Oberitalien berufen.
Am 4. September 1797 hat Napoleon zwar die
antichristliche Revolutionsphase in Frankreich beendet, aber im besetzten
Rheinland herrschen immer noch raue Sitten: Ordensleute und Priester
dürfen innerhalb der eroberten Gebiete nicht versetzt werden. Anfang
1798 wird allen geistlichen Gemeinschaften verboten, Novizen
aufzunehmen. Wer bereits als Novize in einem Konvent lebt, darf keine
Gelübde mehr ablegen und muss sein Kloster innerhalb von zwei Dekaden
verlassen. Und: Am 2. April 1798 verbietet die Zentralverwaltung der
Roer-Departements, zu dem Kevelaer zählt, alle kirchlichen Zeremonien
außerhalb der Gotteshäuser.
Die Reformen werden durchgezogen. Der Adel verliert seine gutsherrlichen
Rechte; Zünfte, Innungen und Gilden müssen sich auflösen (26. März
1798). In Kevelaer sind alle Schützengilden betroffen:
St.-Antonius-Gilde, St.-Josefs-Bruderschaft, St.-Hubertus-Gilde und
St.-Sebastianus-Gilde.
Als die französischen Verwalter nach Inventarlisten für Mobiliar und
Gegenstände der Kerzen- und Gnadenkapelle verlangen, fällt die
schriftliche Auskunft (4. Mai 1798) überaus dürftig aus. Den Grund
kennen die Eingeweihten: Die meisten Kostbarbeiten und Kultgegenstände
sind nach Nordstrand ins "Exil" gebracht worden - in eine scheinbare
Sicherheit. Die Franzosen glauben der dürren vorgelegten Inventarliste
nicht. Am 18. Mai verlangt Kommissar Molitor unter Zeugen nach einem
alten Register, das den wahren Bestand aufzeigt - mit welchem Erfolg,
ergibt sich aus den historischen Quellen nicht.
Das gesamte Rheinland ist ab 1804 politisch und
administrativ in das französische Kaiserreich eingegliedert. Die
Bevölkerung schert sich freilich nicht um die kalendarischen
Absonderheiten französischer Zeitrechnung, sondern hält weitgehend an
den Ereignissen des christlichen Kalenders mit seinen zahlreichen
Feiertagen fest. Auf lokaler Ebene führt das zu einigen Verwicklungen
zwischen zivilen und kirchlichen Gemeinden.
Trotz der Einschränkungen für die Kevelaer-Wallfahrt pilgern jährlich
zunächst noch weit über 100.000 Menschen zum Gnadenbild der
Trösterin der Betrübten. Allerdings fällt das Pilgeraufkommen bis
zum Jahr 1811 auf seinen historischen Tiefstand von nur noch 86 Gruppen.
Doch hierbei handelt es sich nur um einen quantitativen Wert ohne
qualitative Bedeutung für die Kevelaer-Wallfahrt, wie sich schon sehr
bald nach Beendigung der "Franzosenzeit" zeigen wird. Im übrigen ist im
katholischen Rheinland kein aktiver Widerstand gegen die Besatzer
festzustellen; vielmehr arrangiert sich die Bevölkerung zunehmend mit
den Gegebenheiten, die die französische Administration mit sich bringt.
Kevelaer ist in jener Zeit unter den Orten des Niederrheins leicht
privilegiert, weil hier der Katholizismus, den die französische
Besatzungs-Verwaltung allerorten unterdrückt und bekämpft, relative
Freiheiten genießt und christliche Kulthandlungen ausüben kann. So darf
Bischof Berdolet an zwei Tagen im Jahr 1807 in Kevelaer das Sakrament
der Firmung spenden.
Papst Pius VII. überreicht Kardinal Consalvi (l.) die
Ratifizierungsbulle des Konkordats von 1801. Abbildung zitiert aus: Jörg
Becker/Karl-Heinz Tekath (Hrsg.), Franzosen am unteren Niederrhein.
Heimat und Verkehrsverein Goch, 1994. S. 45
Die katholische Kirche verlässt sich auf das Konkordat vom 15. Juli
1801, das Papst Pius VII. mit Napoleon geschlossen hat. Die daraus
abgeleiteten Staatskirchenverträge (4. Mai 1802) führen auch in den vier
linksrheinischen Departements zu radikalen Veränderungen: Die
klösterlichen Institutionen werden aufgelöst sowie Bistümer, Pfarreien
und Priesterseminare unter staatlicher Aufsicht neu geordnet.
Die Folgen dieses Konkordats wirken noch heute:
Wegen der folgenden Konfiszierungen des Kirchenbesitzes übernimmt Anfang
des 19. Jahrhunderts der Staat die Besoldung der Pfarrer und Bischöfe,
womit die Kirche - finanziell gesehen - quasi zur "Staatskirche" und die Priester zu
"Staatsdienern" werden. Die Geistlichen haben als Gegenleistung einen
Treueeid gegenüber dem Staat zu leisten (die Rheinländer sind ab dem 18.
Mai 1802 französische Bürger). Die Verpflichtung des Staates, den Einzug
des Kirchenbesitzes zu entschädigen, führt noch 200 Jahre nach der
Säkularisation in Deutschland zu Geldzahlungen in dreistelliger
Millionenhöhe an die deutschen Bistümer (Staatsdotationen).
Geschlossen und konfisziert werden 1802 am Niederrhein außer dem
Oratorianer-Kloster in Kevelaer in Geldern die Klöster der der
Karmeliter, Kapuziner, Karmelitessen, Augustinerinnen und
Franziskanerinnen, in Weeze das Kloster Marienwasser, in Asperden das
Zisterzienserinnenkloster Graefenthal und in Marienbaum das
Birgitinenkloster. In panischer Sorge wird das Gnadenbild von Marienbaum
zunächst nach Rees, dann für zwei Jahre in Xanten in Sicherheit
gebracht.
Nachdem die französischen Besatzer das Oratorianer-Kloster in Kevelaer
aufgehoben haben, muss es innerhalb von zehn Tagen geräumt werden.
Einige Oratorianer-Patres bleiben in Kevelaer und wohnen nach ihrer
Vertreibung aus dem heutigen Priesterhaus bei hilfsbereiten Bürgern.
Orator-Superior Melchior van Cleemputte († 1817), zugleich
Wallfahrtsrektor in Kevelaer, besteht in seiner Eigenschaft und Stellung
als Pfarrer von St. Antonius auf seinem Recht, die privaten Pfarrräume
weiterhin bewohnen zu dürfen. Damit wird das bereits konfiszierte
Klostergebäude zum "Pastorat" der Pfarrei St. Antonius, das unter dem
Schutz des Staates steht.
Melchior van Cleemputte.
Das ist für das heutige Priesterhaus ein Glücksfall, denn der Immobilie
hat die freie Versteigerung gedroht. Für diesen Fall haben sich viele
Bürger aus Kevelaer spontan zusammengeschlossen, um das Kloster
gemeinsam zu kaufen. Darüber ist ein notarieller Akt vom 10. Januar 1804
(vor Notar Franon Gueldres) abgeschlossen worden. Verwirklicht werden
musste der der Kloster-Kauf durch die Bürger freilich nicht, denn die Immobilie
verbleibt im Pfarrbesitz. Das Orator-Gebäude und die Gärten werden
allerdings zeitweilig von der Bürgergruppe, die sich auf den Erwerb des
Ensembles vorbereitet hat, gepachtet, bis die Eigentumsverhältnisse
restlos geklärt sind.
Am 4. Juli 1802 werden überraschend die zum Kloster gehörende
Gnadenkapelle und die KerzenkapeIle versiegelt. Die Prozession aus
Amsterdam steht vor verschlossenen Türen. Am folgenden Tag erscheint
Unterpräfect Dorsch von Cleve und lässt beide Kapellen entsiegeln und
wieder öffnen.
Während im katholischen Spanien erbitterte
Widerstandshandlungen gegen die französischen Besatzer fast zum Alltag
gehören, ist es im Rheinland zunächst eher "ruhig" geblieben. Weniger
der Ärger mit den Beschränkungen der Religionsausübung führt schließlich
im Rheinland zu stärkerer Ablehnung der neuen Machthaber - vielmehr sind
es die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lasten, die Napoleon -
insbesondere im fünften Koalitionskrieg (bis 1809) - den Rheinländern
zumutet.
Nun steht auch noch sein Russland-Feldzug vor der Tür. Das
Roer-Departement wird steuerlich ausgepresst, um die militärischen
Ambitionen des Korsen finanzieren zu können. Außerdem sind die
Niederrheiner empört über den 1802 eingeführten allgemeinen
Militärdienst, den man hier bisher nicht gekannt hat. Wehrpflichtig ist
jeder Mann zwischen 20 und 25 Jahren. Erstaunlich: Von der Wehrpflicht
befreit sind u.a. Theologiestudenten und Mitglieder des Klerus.
Seit dem 19. Februar 1806 sind die Kirchen und Klöster, die für den
Pfarrgottesdienst oder auch aus anderen Gründen unentbehrlich sind,
wieder freigegeben. Auch Wallfahrten mit Prozessionen sind wieder
erlaubt, sofern die Pilger keine Diözesangrenze überschreiten müssen.
Bis 1809 hat sich das Aufkommen weitgehend erholt: 140.000 Pilger werden
in jenem Jahr gezählt.
Offene oder heimliche Zustimmung vieler Menschen am Niederrhein findet
eine der Konsequenzen aus den französischen Kirchen-Enteignungen: Die
Bistums-Leitungen sind nun "entfeudalisiert" - manche sprechen gar von
"sozialisiert" und "demokratisiert". Der wohlhabende, meist adelige
rheinische Klerus muss sich künftig mit karger Besoldung aus zunächst
französischer, dann preußischer Staatskasse bescheiden. Die geistlichen
Fürstentümer im verblichenen Heiligen Römischen Reich, die mit
unangemessener Intensität über ungezählte Menschen haben Macht ausüben
können, gehören endgültig der Vergangenheit an.
Napoleon schätzt - während seines
späteren Verbannungsaufenthalts auf der Insel St. Helena - selbst ein, dass sein
Gesetzeswerk
Code civil, mit dem er nach der Einführung am 21.
März 1804 entscheidend zur Modernisierung Deutschlands beiträgt,
bedeutsamer ist als seine 60 Siege auf den Schlachtfeldern Europas.
Titelblatt der ersten Ausgabe des "Code civil".
Abbildung zitiert aus: Horst Möller, Fürstenstaat oder
Bürgernation. Deutschland 1763-1815, S. 561
Napoleon befindet sich auf der Höhe seiner Reputation und fühlt sich
bereits als Schöpfer eines französischen Empires, das sich über ganz
Europa erstreckt. Die während seiner Regentschaft nach dem Werk
Code
civil geschaffenen Gesetzesbücher sind beeindruckend:
Zivilprozessordnung (Code de Procédure Civile, 1807), Handelsgesetzbuch
(Code de Commerce, 1808), Strafprozessordnung (Code d'Instruction
Criminelle, 1811) und Strafgesetzbuch (Code Pénal, 1811). Sein
Gesetzeswerk wird heute als einmalig in der europäischen
Rechtsgeschichte eingeschätzt.
Aber Napoleon ist nicht nur Staatsmann, sondern auch Feldherr mit dem
Drang, über möglichst große Landflächen regieren zu können.
Kaiser Franz II. (* 1768, † 1835), der letzte Kaiser
des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, kommt Napoleon zuvor: Er
nimmt 1804 den Titel eines erblichen Kaisers von Österreich an, gründet
damit das Kaiserreich Österreich und stellt dem erwarteten
Frankreich-Empire einen souveränen Staat entgegen. Dadurch soll
Ranggleichheit mit Napoleons künftigem Kaiserreich hergestellt werden.
Als Franz I. regiert der Monarch bis 1806 zusätzlich auch unter seinem
Titel als "Erwählter Römischer Kaiser". In dem am 11. August 1804
proklamierten Kaiserreich Österreich sind alle habsburgischen Erblande
zusammengefasst.
Einige Wochen zuvor, am 18. Mai 1804, hat der französische Senat den
Konsul Napoleon "durch die Gnade Gottes und die Gesetze der Republik zum
Kaiser der Franzosen" ausgerufen. Am 2. Dezember 1804 krönt sich in
Paris Napoleon Bonaparte in der Kirche
Notre Dame selbst zum
Kaiser der Franzosen. Sein Kaisertum, das soll die Handlung wohl
ausdrücken, verdankt er sich selbst. Napoleon legt allerdings auch Wert
darauf, durch den Papst geweiht zu werden.
Krönung Napoleons zum Kaiser, Gemälde von Jacques Louis David
(Ausschnitt).
Abbildung zitiert aus: Horst Möller, Fürstenstaat oder
Bürgernation. Deutschland 1763-1815, S. 571
Napoleon tritt im Herbst 1804 eine Besichtigungsreise an und besucht
auch die Städte Venlo, Straelen und Geldern, wo er auf Schloss Haag
übernachtet.
Unterdessen geht das Gemetzel auf den Schlachtfeldern
weiter. Bei Austerlitz schlagen Napoleons Truppen am 2. Dezember 1805
die österreichisch-russischen Armeen vernichtend. Österreich muss am 26.
Dezember 1805 dem knallharten Friedensschluss von Preßburg zustimmen. Am
14. Oktober 1806 schlagen Napoleons Streitkräfte in der Dopppelschlacht
von Jena und Auerstedt das preußische Heer und vernichten damit das alte
Preußen: Wegen krasser Führungsfehler können französische Truppen in das
Land einfallen, und das preußische Offizierskorps, einst Sinnbild für
militärische Stärke und Disziplin, kapituliert auf jämmerliche Weise.
Das alte Preußen ist Vergangenheit. König Friedrich Wilhelm III. flieht
mit Familie und Hofstaat in den Osten seines Reichs. Die Soldaten des
preußischen Heers sind in alle Winde zerstreut.
Am 27. Oktober 1806 reitet der Kaiser der Franzosen nach dem Sieg über
die Preußen durch das Brandenburger Tor in Berlin. Preußen muss 1806 auf
den Rest des Herzogtums Kleve verzichten; für den Herzog von Kleve und
Berg bringt der Umbruch die Standeserhebung zum Großherzog von Berg und
die Ausweitung des Großherzogtums mit sich.
Auslöser für radikale Veränderungen im Kräfteverhältnis sind vor allem
die Gründung des
Rheinbunds und das Ende des Deutschen Reichs.
Der
Rheinbund, quasi ein (kleineres) Ersatzgebilde für das nun
untergegangene "Heilige Römische Reich Deutscher Nation", wird am 12.
Juli 1806 in Paris gegründet. Konsequenterweise legt Kaiser Franz am 6.
August 1806 die römische Kaiserkrone nieder, wozu ihn Napoleon zuvor
ultimativ aufgefordert hat.
Sechs Reichsstände (z. B. Länder wie Bayern oder Württemberg) sind mit
dem Kur-Erzkanzler - der den Titel eines "Fürsten Primas" annimmt - aus
dem Verbund "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" ausgetreten. An
die Stelle des Deutschen Reichs treten nun vier deutsche Staatengruppen,
die den
Rheinbund bilden. Als die frühere Großmacht Preußen
1806 kollabiert, treten in den folgenden zwei Jahren alle deutschen
Staaten - außer Österreich, Rest-Preußen, Schwedisch-Pommern und
Dänisch-Holstein - dem
Rheinbund bei. Nun ist er ein
Zusammenschluss von 39 Staaten mit 14,6 Millionen Einwohnern.
Der
Rheinbund lebt allerdings von Frankreichs Gnaden. Die
größeren
Rheinbund-Staaten müssen Soldaten für die
napoleonischen Armeen stellen, die von dem Korsen 1809 gegen Österreich,
1812 gegen Russland und 1812/13 gegen eine alliierte Armee aus Preußen
und Russen eingesetzt werden.
Der bislang als unbesiegbare geltende Napoleon kehrt vom Winterfeldzug
gegen Russland (1812) mit fast aufgeriebener Armee zurück. Trotzdem kann
er eine neue Truppe rekrutieren, muss aber die Rückeroberung des
Rheinlands durch ein wiedererstarktes Preußen hinnehmen (Völkerschlacht
bei Leipzig, 16. bis 19. Oktober 1813; Rheinübergang der Preußen unter
General Friedrich von Bülow bei Wesel, Dezember 1813).
Nun sind die "französischen Kevelaerer" wieder Preußen. Die Rheinländer
greifen kaum ein und belassen es bei den meisten Veränderungen, die die
Franzosen eingeführt haben.
Zeitgleich kommt es zur Völkerschlacht bei Leipzig (16. Oktober 1813).
Unter französischem Befehl stehen 190.000 Soldaten (Franzosen, Sachsen,
Badener, Württemberger, Schweizer, Italiener und Polen), unter
alliierter Leitung warten über 200.000 Mann (Preußen, Österreicher,
Russen und Schweden) auf den Angriffsbefehl. Es ist die größte
militärische Konfrontation zweier Streitmächte in der bisherigen
Kriegsgeschichte Europas.
Zunächst scheint es, als könne sich Napoleon behaupten. Seine
Kavalleristen schaffen es sogar beinahe, die auf einem Beobachtungshügel
versammelten Monarchen - Kaiser Franz II. von
Österreich, Zar Alexander I. von Russland und Preußens König Friedrich
Wilhelm III. - gefangen zu nehmen. Jedoch fahren Kosaken unverzüglich einen
kühnen Gegenangriff und verhindern die Gefangennahme. Der scheinbare
Sieg Napoleons in Leipzig ist in Wirklichkeit eine blutige Niederlage,
die zum ersten Mal den preußischen Widerstand gegen die französische
Besatzung massiv beflügelt.
Die napoleonische Herrschaft ist Ende 1813 vorbei, auch
wenn Preußen am 18. Juni 1814 in der Schlacht von Waterloo doch noch ein letztes
Mal gegen den Korsen ins Feld ziehen muss. Bereits im Frühjahr 1814
nimmt am Niederrhein die preußische Verwaltung ihre Arbeit auf. Der
Rhein ist nun keine Grenze mehr. Jedoch nicht alle Niederrheiner sind
darüber glücklich: Das überwiegend von Katholiken bewohnte Rheinland
gehört nun zu einem Staat, in dem überwiegend Protestanten leben. Was
von Preußen zu erwarten ist, wissen sie noch nicht.
Anfang 1814 wird der Niederrhein von den französischen Soldaten geräumt.
Etwa am 12. Januar 1814 rücken die ersten Kosaken in einige Orte im
heutigen Kreis Kleve ein, so auch in Twisteden. Sie gehören zu den mit
Preußen Verbündeten. Am 13. Januar, gegen 11.30 Uhr, reiten die Kosaken
auf ihren kleinen Pferden vom Harttor aus in die Stadt Geldern, wo die
Soldaten stationiert werden.
Napoleon dankt ab. Die verbündeten Mächte schließen am 30. Mai 1814 mit
dem neuen französischen König Ludwig XVIII. Frieden.
Auf dem Wiener Kongress, dessen Schlussakte vom 9. Juni
1815 datiert, wird die europäische Landkarte neu gezeichnet. Preußen
tritt alle Gebiete westlich der Maas und einen Landstreifen von einer
halben Meile Breite östlich des Flusses an das
Königreich der
Vereinigten Niederlande ab. Es ist der gleiche Grenzverlauf, der heute
die Bundesrepublik Deutschland von den Niederlanden trennt. Die Preußen
setzen die Einsprachigkeit durch und verlangen, dass die Einwohner
deutsch sprechen.
Das wird Anfang der 1820er-Jahre auch der Bischof von Münster von seinen
Pfarrern am Niederrhein verlangen, sobald das Gebiet zwischen Rhein und
Maas von Aachen abgekoppelt und dem Bistum Münster zugeordnet ist.
Dadurch geht allerdings das angestammte Niederländisch der
westlichen Rheinländer im Laufe der Zeit verloren.
Das "französische" Bistum Aachen, dem Kevelaer zugeschlagen ist, wird
aufgelöst. Der Niederrhein gehört nun, so verfügt es eine päpstliche
Bulle vom 16. Juni 1821, zum Bistum Münster, was allerdings erst am 20.
Oktober 1823 vollzogen wird.
Für die Wallfahrtsleitung in Kevelaer hat die "Franzosenzeit" bis heute
einschneidende Nachwirkungen: Der Rektor der Kirchen am Kapellenplatz,
der bis 1802 stets ein Orator-Herr, ein Pater aus dem
Oratorianer-Kloster, gewesen ist, kommt seit der Säkularisation aus der
Reihe der Weltpriester.
Der Versuch, mit dem
Canisianer-Orden
für die Wallfahrtsleitung eine neue Priester-Genossenschaft ins Leben zu
rufen, hat nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Canisianer sind
zwar bis heute in Kevelaer engagiert, aber es handelt sich
ausschließlich um Brüder und nicht um Geistliche.
Nach der Wiedereingliederung der Rheinlande in die preußische
Provinzialverwaltung gelingt es zunächst kaum, preußisches Recht
durchzusetzen. Der
Code Napoléon (
Code civil) ist in
den rheinischen Departements mehr als nur akzeptiert.
Napoleons Gesetzeswerk macht den Korsen zu einem großen Reformer - zu
einem der Väter des modernen Deutschlands. Aber er ist es nicht allein.
Minister Hardenberg (l.), zum Stein.
Abbildung zitiert aus: Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation.
Deutschland 1763-1815, S. 614, 615
Die preußischen Minister zum Stein (Heinrich Friedrich Karl
Reichsfreiherr vom und zum Stein, * 1770, † 1840) und Hardenberg (Karl
August Freiherr von Hardenberg, * 1750, † 1822) haben längst Reformen in
die preußische Politik und Gesellschaft eingebracht und sind dabei vom
preußischen König stark unterstützt worden.
So sind nun alle Bürger Preußens vor dem Gesetz gleich; Leibeigenschaft
und Frondienst gibt es nicht mehr. Kaufleute nutzen die Chancen, die die
neue Gewerbefreiheit bietet. Und alle Bürger, die ins Erwerbsleben
einsteigen, genießen das Recht der freien Berufswahl.
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Für dieses Dossier wurde u.a. folgende Literatur
benutzt:
• Jörg Becker/Karl-Heinz Tekath (Hrsg.), 1794-1814, Franzosen am
unteren Niederrhein. Heimat- und Verkehrsverein Goch, 1994.
• Ludwig Bergmann (Kleve), Wallfahrtsorte und
Wallfahrtsbrauchtum am unteren Niederrhein. Werden und Wachsen
einer Kultlandschaft (Doktorarbeit). Kevelaer 1949.
• Peter Dohms, Rheinische Katholiken unter Preussischer
Herrschaft - Die Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt im Kreis
Neuss. Meerbusch 1993.
• Alois van Doornick, Hermann Toonen, Rudi van Bühren, 450 Jahre
St. Antonius-Gilde, Romfahrt 1994 19. bis 27. März. Kevelaer
1994.
• Irene Feldmann, Der Niederrhein in der "Franzosenzeit". Die
französische Verwaltung im Departement Roer 1798 - 1814. In:
Dieter Geuenich, Der Kulturraum Niederrhein. Bd. 2. Im 19. und
20. Jahrhundert. Bottrop/Essen 1997.
• Irmgard Hantsche, Vom Flickenteppich zur Rheinprovinz. Die
Veränderung der politischen Landkarte am Niederrhein um 1800.
In: Dieter Geuenich, Der Kulturraum Niederrhein. Bd. 2. im 19.
und 20. Jahrhundert. Bottrop/Essen 1997.
• Dorothee Flemming-Lühr, Kevelaer im Wandel der Zeiten.
Kevelaer 2000.
• Willem Frijhoff, Die protestantische Reformation in den
Niederquartieren. In: Johannes Stinner/Karl-Heinz
Tekath
(Hrsg.), Gelre - Geldern - Gelderland, Geschichte und Kultur des
Herzogtums Geldern, Historischer Verein für Geldern und
Umgegend. Geldern 2001.
• Josef Heckens/Richard Schulte Staade (Hrsg.), Consolatrix
Afflictorum. Das Marienbild zu Kevelaer. Bercker. Kevelaer 1992.
• Manfred Höfer, Die Kaiser und Könige der Deutschen. Bechtle.
München/Esslingen 1998.
• Dietmar Janssen, Kevelaer als Wallfahrtsort - eine
wirtschafts- und sozialgeographische Studie. Düsseldorf 1993.
• Heinrich Janssen/Udo Grote (Hrsg.), Zwei Jahrtausende
Geschichte der Kirche am Niederrhein. dialog. Münster 1998.
• Heinrich Krickelberg, Die Wallfahrt zu Kevelaer, von ihrem
Anfange bis zur zweihundertjährigen Jubel-Feier im Jahre 1842,
4. Auflage (ergänzt um die Ereignisse bis 1858), Köln 1858.
• Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland
1763-1815. Siedler. Berlin 1989.
• Robert Plötz, Die Wallfahrt nach Kevelaer - Ein Wallfahrtsort
und seine Geschichte. Mercator. Duisburg 1986.
• Heribert Schlensok, Kevelaer - Europa des Glaubens. Bercker.
Kevelaer 1987.
• Josef Smets, Niederrheiner unter Napoleons Fahnen. In:
Geldrischer Heimatkalender 1990.
• Peter Stenmans, Kevelaer - Wallfahrtsort in der Barockzeit
(Manuskript, unveröffentlicht). Kevelaer 1993.
• M. V. T. Tenten, Von den Niederquartieren zur Provinz. Kurzer
Abriss der Geschichte des Gelderlandes von 1578 bis heute. In:
Johannes Stinner/Karl-Heinz Tekath (Hrsg.), Gelre - Geldern -
Gelderland, Geschichte und Kultur des Herzogtums Geldern.
Historischer Verein für Geldern und Umgegend. Geldern 2001.
• Heinrich Wester, Kevelaer - Wallfahrt und Pfarrei. Eine
rechtsgeschichtliche Studie (Doktorarbeit). Bercker. Kevelaer
1936
|