Broetje, Annemarie
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Journalistin, Schriftstellerin | * 1925 | † 2002
Im
Wettener Hospiz schloss Anfang 2002 eine Frau ihr Leben in Frieden ab,
die Anfang der 1970er-Jahre Mitarbeiterin von
Martin Willing in der
Lokalredaktion Emmerich der
Rheinischen Post gewesen war. Als
Willing sie im Hospiz Wetten besuchte, erkannte er sie kaum wieder. Fast
drei Jahrzehnte hatten sie sich nicht gesehen.
Wohlbehütet in einem wohlhabenden Elternhaus wuchs Annemarie Broetje in
Magdeburg auf und genoss, obschon evangelisch getauft, bei katholischen
Nonnen eine erstklassige Schulausbildung. Als sie 17 war, starb ihre an
Leukämie erkrankte Mutter (1942). Das Mädchen, durch den Krieg um die
Chance betrogen, sich auf einen den Talenten entsprechenden Beruf
vorzubereiten, ging als technische Zeichnerin nach Berlin, ständig in
Sorge um ihren Vater, der inzwischen im Ruhrgebiet für einen
Textilkonzern arbeitete - in Dortmund, das von Luftangriffen immer
wieder heimgesucht wurde.
In Berlin entdeckte Annemarie ihre Vorliebe für die Schauspielkunst,
nahm in ihrer Freizeit Unterricht und schrieb Gedichte. Sie verehrte die
große Zarah Leander sehr und besaß eine umfängliche Sammlung von Fotos
der Sängerin und Schauspielerin, zum Teil mit persönlicher Widmung. Wenn
die Sirenen Fliegeralarm auslösten und die Menschen in die Keller
flüchteten, hatte Annemarie immer ihren Handkoffer dabei, in dem sie die
Fotos verwahrte. Andere persönliche Sachen, beispielsdweise Ausweise,
waren ihr nicht so wichtig.
In der ersten Nachkriegszeit lebte sie bei ihrem Vater, der sie über
alle Maßen liebte. Als Einrichter neuer Karstadt-Kaufhäuser musste er
seinen Wohnsitz häufiger wechseln. In Emmerich, seiner letzten Station -
hier starb Max Broetje 1962 - kamen Vater und Tochter zunächst in einem
zur Hälfte eingestürzten Hotel unter. Max Broetje bereitete in der
furchtbar zertrümmerten Stadt den Aufbau einer Karstadt-Filiale vor.
Von Emmerich aus reiste Annemarie Broetje hin und wieder nach Berlin, um
Verwandte zu besuchen. Bei einer dieser Gelegenheiten suchte sie die
Villa von Zarah Leander auf, schellte, aber außer dem Gärtner war
niemand da. Zarah Leander war verreist. Von dem Gärtner, der der
Besucherin das Haus zeigte, bekam sie die Heimatadresse der Künstlerin
in Schweden.
Es entwickelte sich eine Korrespondenz, die dazu führte, dass Annemarie
Broetje in die Dienste der Sängerin trat und für sie eine Tournee
vorbereitete. Im Cadillac der Sängerin, von ihrem Chauffeur gelenkt,
fuhr die neue Mitarbeiterin voraus, suchte Hotelzimmer aus, inspizierte
die Bühnen, arrangierte Empfänge, verfasste, wie man heute sagt,
PR-Artikel und versorgte die Presse mit Informationen.
In Emmerich, wo Annemarie Broetje in den 1960er-Jahren journalistisch
mehr und mehr Fuß fasste, begegnete Martin Willing ihr zum ersten Mal.
Er kannte ihre Vorgeschichte nicht und erfuhr davon erst bei ihrem
Begräbnis in Emmerich, als der Berliner Schriftsteller Paul Seiler
anrührend über seine Kusine und ihr Leben sprach.
Annemarie Broetje war freie Mitarbeiterin der
Rheinischen Post
in Emmerich, deren Lokalteil Martin Willing ab 1970 betreute, eine
zuverlässig und schnell arbeitende Journalistin, die jeder in der Stadt
am Rhein kannte - aus der Zeitung, als Vorsitzende des Tierschutzvereins
und als Fahrerin eines unglaublich kleinen Autos, eines
Kleinschnittger, einer Oldtimer-Rarität. Für eine Zeitungsstory
lenkte Annemarie Broetje einmal ihr Mini-Auto neben einen Lkw und ließ
Fotografin Nicole Berkowicz, ihre treue Freundin bis zum Schluss, den
spektakulären Kontrast ablichten. In der Bildunterzeile schrieb
Annemarie Broetje dem Lkw-Fahrer den Satz zu: „Sagen Sie mal, kriegt der
schon Benzin oder noch die Brust?“
Unvergessen sind ihre Künstlerinterviews, die sie in der Garderobe des
Emmericher Theaters für die Zeitung führte. Hier war Annemarie Broetje
in ihrem Element.
Die Aufschlagseite des Manuskriptes für den Roman "Schaatten
über der Welt" von Annemarie Broetje.
Dass sie auch schriftstellerisch gearbeitet hatte, erfuhr Martin Willing
erst nach ihrem Tod. Ihre Vertraute Nicole Berkowicz überließ ein
Roman-Manuskript dem Kevelaerer Journalisten. Bei ihm sei es besser
aufgehoben, sagte Nicole Berkowicz.
Leseprobe: Erste Seite des Roman-Manuskriptes von Annemarie Broetje.
Sie und Martin Willing hatten sich in den folgenden Jahrzehnten aus den
Augen verloren, als kurz vor Weihnachten ein Freund aus Emmerich sagte,
dass Annemarie Broetje jetzt in Wetten sei. Länger als zwei Jahrzehnte
nach einer Operation, mit der eine Erkrankung überwunden schien, war das
Leiden wie über Nacht wieder aufgetaucht. Annemarie Broetje war aus dem
Krankenhaus direkt nach Wetten ins Hospiz entlassen worden. Als der
Kevelaerer sie vor Weihnachten besuchte, war sie bereits sehr schwach,
aber immer noch tiefsinnig:
„Ich glaube nicht, dass ich hier ewig bleibe“.
Ihre Freundin Nicole, die Fotografin, begleitete sie in den letzten
Wochen und auch in der letzten Stunde. Statt eines Totenzettels
verteilte sie am Tag des Begräbnisses ein Foto von Annemarie Broetje.