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    SACHBEGRIFFE |
Tatort Rathaus: Der Fall van der M.

1930: Unterschlagungen im großen Stil  

Wappen KevelaerIm Februar 1930 wurden der Kassendirektor des Rathauses Kevelaer, Theodor van der M., und sein Bruder, der Müller Heinrich van der M., verhaftet. Ihnen wurde vorgeworfen, Unterschlagungen im großen Stil begangen zu haben.

Der festgenommene Kassendirektor wurde "zur Untersuchung seines Geisteszustandes in die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau überführt", meldete damals das Kävels Bläche. "Sein Bruder Heinrich, der der Begünstigung, Hehlerei usw. stark verdächtig ist, wurde beim Amtsrichter in Cleve vorgeführt. Nach stundenlangem Verhör mußte er aber wieder auf freien Fuß gesetzt werden, da ein dringender Tatverdacht sich nicht ergeben hat."

Im Kölner Hof trat die Amtsvertretung Kevelaer zu einer geheimen Krisensitzung zusammen. Bürgermeister Bernhard Widmann äußerte sich zu den Vorgängen in seiner Verwaltung. An der Sitzung nahm auch ein Steuerinspektor des Landesfinanzamts Düsseldorf teil. Widmann teilte mit, dass bis jetzt Unterschlagungen von 47.000 Mark festgestellt seien. Der Kassendirektor habe sich durch raffinierte Manipulationen getarnt und das Geld in seine eigene Tasse gesteckt. Verschiedene Revisionen hätten die Falschbuchungen nicht aufgedeckt.

Die Kriminalpolizei verhörte unterdessen die Ehefrau des verhafteten Kassendirektors in ihrer Wohnung. Zu den beträchtlichen monatlichen Ausgaben der Familie verweigerte die Frau jede Aussage. Aus den bisherigen Ermittlungsergebnisse wurde bekannt, dass van der M. bereits 1927 mit der Entdeckung seiner Veruntreuungen gerechnet und seitdem Vorkehrungen getroffen hatte: Mit seinen Brüdern seien, so äußerte sich die Kripo, Scheingeschäfte abgeschlossen worden. Die KB berichtete:

 "Beispielsweise hat er im Jahre 1927 seine ganze Wohnungseinrichtung, die einen Wert von über 20 000 Mark hat, seinem Bruder Heinrich durch Kaufvertrag übereignet, und hat diese dann von seinem Bruder gegen eine jährliche Miete zur Benutzung erhalten. Durch solch raffinierte Manipulationen, deren es viele gibt, die aber noch der Aufklärung durch die äußerst rührig und zuverlässig arbeitende Kriminalpolizei bedürfen, hoffte van der M. anscheinend im Falle der Aufdeckung seiner Schwindeleien das veruntreute Geld retten und von diesem nachher ein sorgenfreies Leben führen zu können. Dies wird ihm jetzt aber kaum gelingen, da man hinter seine Schliche gekommen ist. Hoffentlich gelingt es der Kriminalpolizei, wenigstens einen Teil der veruntreuten Gelder wieder herbeizuschaffen."

Wenige Tage später gab es neue Informationen: Über 62.000 Mark Gemeindegelder und 33.000 Mark Kirchengelder habe van der M. unterschlagen. Der inzwischen im Gefängnis zu Kleve einsitzende Kevelaerer sagte aus, ihm sei es nicht möglich gewesen, mit seinem Gehalt von über 10.000 Mark im Jahr auszukommen. Seine Frau habe derart hohe Ansprüche gestellt, dass er dadurch zu den Unterschlagungen getrieben worden sei.

Einige Wochen danach war die tatsächliche Schadenshöhe ermittelt: Unterschlagungen in Höhe von 98.489,45 Mark. Hinzu kam ein Schaden von 25.000 Mark, weil van der M. Außenstände nicht eingetrieben hatte, die nun verjährt waren.

Im März 1930 zogen die Angehörigen des untreuen Kassendirektors von Kevelaer weg. Im Juni begann dann der Prozess vor dem Klever Schöffengericht.

Theodor van der M., 1890 geboren, hatte nach dem Besuch der Rektoratsschule 1906 als Lehrling bei der Gemeindekasse Kevelaer seine berufliche Laufbahn begonnen. Ab 1924 war er Direktor der Gemeindekasse. Vor Gericht räumte er die Unterschlagungen offen ein. Die monatliche Revision der Gemeindeverwaltung sei keine Revision gewesen, er habe schalten und walten können, wie er gewollt habe.

Theodor van der M. unterschlug alle Gelder, die er kriegen konnte: Pachtgelder von Gemeinden und Privatleuten, Wassergelder, Elektrizitätsgelder, Kirchensteuern, Schulgelder und anderes mehr. Damit finanzierte er den luxuriösen Lebensstil seiner Familie, bezahlte teure Lebensversicherungen und Reisen.

Das Gericht verurteilte den Kevelaerer zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und fünfjährigem Ehrentzug.

Viele Jahrzehnte später erinnerte sich Elisabeth Holtmann, die Tochter von Fritz Holtmann, an den Fall, als die Vorgänge in Martin Willings KB-Serie „Kevelaers dunkle Jahre“ geschildert wurden. Elisabeth Holtmann berichtete (2003), ihr Vater habe - wie alle Bediensteten in den Notzeiten nach dem Ersten Weltkrieg - von dem Gemeinderentmeister Theodor van der M. einen Gutschein erhalten, der das Gehalt ersetzte. Fritz Holtmann, der nach dem Zweiten Weltkrieg Kevelaers erster Stadtdirektor wurde, hatte vor dem Krieg das Wohlfahrtsamt inne.

Elisabeth Holtmann erzählte die Geschichte einer Zigarrenkiste: Die habe auf dem Schreibtisch des Kassen-Rendanten gestanden. Immer wenn der Decke geöffnet worden sei, habe Theodor van der M. den Spruch lesen können: "Du sollst nicht stehlen!"

Ob Wahrheit oder Legende - das bleibt ungeklärt. Tatsache aber ist, dass die Leute über den Lebensstil der Familie van der M. schon in den 1920er-Jahren erstaunt waren: "Meine Mutter hat sich damals gewundert, dass sich van der M. eine Flugreise nach London mit Fensterplatz leisten konnte, obwohl er nicht mehr Gehalt bekam als mein Vater."

Nach dem Prozess kannten die Kevelaerer die Gründe.

© Martin Willing 2012, 2013