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    SACHBEGRIFFE |
Kraut, Gerhard

Ein Missionar aus Wetten | * 1881 | † 1968

Foto zeigt den Wettener Missionar Gerhard Kraut„Immer heiter - 
Gott hilft weiter - 
Ave Maria!“

Lebensmotto von Gerhard Kraut, mit dem er jeden Brief begann, den er in die Heimat schickte.


Bruder Gerhard Kraut, ein „kleiner“ Missionar aus Wetten, hat Geschichte geschrieben. Seine Abenteuer im Eismeer stehen denen großer Pioniere nicht nach. Sein Leben und Wirken wurde von Hermann Lembeck in dem Buch „Es ist zu kalt, um verliebt zu sein“ in der Reihe „Missionare, die Geschichte machten: Gerhard Kraut“ beschrieben.

Gerhard Kraut wurde 1881 in Wetten geboren. Er wuchs mit zwei Brüdern und vier Schwestern auf. Schon mit 13 Jahren verlor er seine Mutter. Da sein Elternhaus weit außerhalb des Ortes lag, wohnte er bei einem Onkel in Wetten und arbeitete in einer Schuhfabrik als Schäftemacher. Als Mitglied des Musikvereins übte er sich im Klarinettespielen und Fahnenschwenken. Als jungen Mann behinderten ihn eine Rückgratverkrümmung und der Ischiasnerv. Fünf Jahre lang mußte er wie ein altes Männchen am Stock humpeln. „Wegen des schwachen Rückens war ich später niemals sehr stark. Ich habe dennoch alle schweren Arbeiten mitgemacht“. Aber diese Behinderung hat ihn wohl frühzeitig ernst und oft einsam gemacht. 

Der Gesellenverein prägte ihn religiös und beruflich. Damals traten viele Kolpingsöhne als Brüder in einen Orden ein. Der 24-jährige Gerhard Kraut entschied sich 1905 für die Missionsgesellschaft der Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria in Hünfeld. Während des Noviziates half er in der Schuhmacherei, im Maschinenhaus und in der Schlosserei, was ihm später sehr nützen sollte. 

Um 1906 kam Bischof Gabriel Breynat, zuständig für das riesige Mackenzie-Gebiet in Kanada, in das Seminar Hünfeld. Er warb um Helfer, um die Eskimos an der Eismeerküste missionieren zu können. Den jungen Brüdern erzählte er von dem Mut des Stifters der Oblaten, Eugen von Mazenod, der 1841 von seiner 45-köpfigen Gemeinschaft vier Patres und zwei Brüder auf dringende Bitten der Bischöfe nach Kanada geschickt hatte. 

Die ersten Oblatenmissionare gründeten Pfarreien für die Einwanderer und zogen nordwestlich weiter ins Land zu den Waldläufern und Indianern. Schon 1847 gelang der Sprung zum Athabaskasee im Norden Kanadas. Bischof Breynat verschwieg aber nicht die Härte des Klimas (bis 50 Grad Frost), die Einsamkeit der langen Polarnacht, während der die Sonne wochenlang nicht über den Horizont kommt. - Bei dem Novizen zündete es. Gleich nach dem ersten Gelübde Anfang 1907 wurde Gerhard Kraut zusammen mit Bruder Noll zum nordfranzösischen Hafen Le Havre transportiert, von dort ging es mit dem Schiff nach Ottawa in Kanada, von wo aus die beiden Brüder - 3000 Kilometer Luftlinie - mit dem Zug dem Ziel entgegenfuhren. 

Im Juni 1907 erreichte Bruder Kraut seine erste Missionsstation St. Josef in Fort Resolution am Großen Sklavensee. Hier im Makkenzie-Gebiet gab es bereits viele Stationen: Missionshäuser, Schulen, Kinderheime und Krankenhäuser. Die Mission St. Josef hatte sich nach und nach zur Nachschubbasis für die nördlichen Stationen entwickelt. 

Was dort gebaut wurde, war alles aus Holz. Zuerst hatte man mit Menschenkraft Balken und Bretter aus den Stämmen herausgesägt, dann übernahmen Maschinen die Hauptarbeit. Im missionseigenen Sägewerk wurde Bruder Kraut damit betraut, die Dampfmaschine, Kreissägen und Hobelmaschinen zu bedienen und zu pflegen. Eine Schindelmaschine für die Dacheindeckung lief nicht. Bruder Gerhard studierte die halbe Nacht die Gebrauchsanweisung und betete zur Muttergottes von Kevelaer. Und mit vereinten Kräften sprang das Ding endlich an, was zur Folge hatte, daß der Wettener nunmehr der anerkannte Techniker war. Und nicht nur das: Kraut begann mit der Zucht von Schlittenhunden und schreinerte Schlitten, mit denen die Patres den Eskimos nachreisten, um ihnen das Wort Gottes zu verkünden.

1911 wurde aus dem Handwerker ein Seemann, wie er im Buche steht. Fort Resolution am Großen Sklavensee war Durchgangsstation für den Nachschub zum Norden. Außer Fisch, Fleisch und Holz mußte alles Notwendige zum Leben vom Süden her geliefert werden. Darum war hier das Missionsschiff stationiert, das nun dem ehemaligen Schuhmacher Gerhard Kraut anvertraut wurde. 

Es handelte sich um ein kleines, schwerfälliges Dampfschiff ohne Kiel, das keineswegs seetüchtig war. Und der Große Sklavensee ist ein riesiges Binnenmeer, das nur mit seetüchtigen Schiffen befahren werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Bruder Gerhard auf 40 t große Schiffe umsteigen; und 1928 wurde er „Kapitän“ der neuangeschafften „Immaculata“, eines 14 Meter langen Bootes mit 35-PS-Motor, mit dem er die 2000 km lange Strecke des Mackenzie hinunterfuhr und ein großes Flachboot mit tausenden Brettern, bestimmt für Einrichtungen der Missionsstationen, vor sich herschob. 

1930 endlich verfügte Bruder Gerhard über ein richtiges Schiff, das für das Eismeer geeignet war: Den neuen Schoner „Notre Dame de Lourdes“, den Papst Pius XI. zum großen Teil aus Vatikan-Mitteln gestiftet hatte. Das neue Schiff war 15 Meter lang, 5 Meter breit und hatte 40 Tonnen Tragfähigkeit. Der Flußdampfer besaß keinen Kiel und rollte stark bei stürmischer See. Die Unterseite war mit Kupferblech beschlagen, um dem Eis zu trotzen.

1932 wurde beschlossen, daß die „Notre Dame de Lourdes“ für die Versorgung der Patres im östlichen Eismeer verbleiben sollte. Das Schiff überwinterte also nicht mehr in St. Josef am Großen Sklavensee wie bisher. Deshalb wurde Bruder Gerhard nach Aklavik versetzt, was er schon lange befürchtet hatte. „Ganz im stillen gesagt: Mir graut vor den Fahrten im Eismeer. Aber mein Grundsatz war immer: Wie Gott will! Trotz allem freue ich mich auf die Küste, das Land und die Leute. Was soll ich mir Kopfschmerzen machen um die Zukunft - das dicke Ende kann schnell genug kommen“.

Der Wettener Ordensmann lebte fortan unter Eskimos. Sein Leben wurde nun von dem Rhythmus des Eismeer-Klimas bestimmt. Er überwinterte in Aklavik und versorgte die technischen Anlagen der Mission. Im Frühjahr machte er sein Schiff klar für die Fahrt. Sobald das Eis aufbrach, holte er Nachschub von der Insel Herschel und von Tuktuk, der neuen Niederlassung der Hudsonbay-Gesellschaft am Meer. 

Im Juli und August fuhr er dann tausend Kilometer entlang der Westküste bis zum Kupferfluß und wieder zurück. Dieser sich Jahre wiederholende Ablauf wurde 1942 unterbrochen, denn ein Visitator seines Ordens verlangte, daß er nun endlich seine drei Leistenbrüche auskurieren müsse. Kraut wurde zur Operation nach Edmonton geschickt.

Es wurde Sommer 1947. Bruder Gerhard fuhr wie immer als Maschinist auf der „Notre Dame de Lourdes“ und hatte zwei Missionsstationen am Eismeer mit Proviant und Post zu versorgen. Unterwegs brach ein Sturm mit Schneegestöber los. Das Schiff wurde durch Eisschollen und Eisfelder getrieben. Gegen Mitternacht jagte das Schiff auf eine breite Eisfront zu. Eine gewaltige Welle packte es wie eine Nußschale und setzte es auf einen Eisberg. Der Steuermann teilte Schwimmwesten und Rettungsringe an die Besatzung aus. Der Eisberg mitsamt dem Schiff driftete ins Ungewisse ab. In der Kajüte feierten die Priester die Heilige Messe. Tagelang tobte der Sturm. Die zum Nichtstun verurteilte Besatzung betete den Rosenkranz. 

Als der Sturm nachließ, stiegen die Leute aus und gingen auf dem Eis um das Schiff herum. Knapp trieb der Eisberg an einer Felseninsel vorbei. Das Schiff knackte in allen Fugen. Bruder Gerhard ließ den Motor anlaufen - die Schraube drehte noch. Wie aber das Schiff vom Eisberg bringen? Die Besatzung versuchte es mit Anker und Tauen, vergeblich. Bruder Gerhard brach viele Gewehrpatronen auf und versuchte mit dem Pulver eine Sprengung des Eises. Aber nur leises „Pfff“ - Gelächter, nichts tat sich.
Mit vereinten Kräften wurde dann Eis rund um das Schiff weggehauen. Dabei fielen einige Männer ins kalte Wasser. Ein paar Tage danach erschien ein 300-t-Frachter der Hudsonbay-Gesellschaft. Er brach durch die Eisschollen zur gefangenen „Lourdes“ und zog sie mit einem Seil von der Eisbank herunter, ohne sie zu beschädigen. Mit eigener Kraft fuhr die „Notre Dame“ im Kielwasser des Frachters in den nahen Hafen von Coppermine. Sie waren im Sturm in der einen Woche auf dem Eisberg rund 500 km nach Westen gedriftet.

1951 fühlte sich der inzwischen 70-jährige Bruder Gerhard allmählich alt. Weihnachten 1951 schrieb er an seine Brüder in Hünfeld: „Es vergeht fast keine Woche, wo ich nicht mit Mutter Erde oder ihrer weißen Decke in einer mehr oder weniger horizontalen Lage meine Bekanntschaft mache. Jeden Abend bewundere ich meine rechte Wade, die sich tagsüber in eine prächtige Herkulessäule verwandelt. Und was die äußere Erscheinung und Haltung des ´Kräutleins` anbelangt, so ist sie recht krumm und windschief, so daß sie den Turm von Pisa in den Schatten stellt. Daß so ein Gleichgewicht verlierendes Geschöpf sich nicht mehr im Kampf mit den Elementen, mit dem rauhen ungebändigten Norden und seinen Stürmen messen kann, ist leicht zu begreifen. Aber auch die sich immer mehrenden Arbeiten in Aklavik kann ich nicht mehr schaffen“. 
Kraut ging bereits am Stock. Seit November hatte er seine Versetzungsorder in Händen. „Doch will ich diesen Winter noch auf meinem Posten ausharren, sonst kämen die hiesigen Patres in eine schlimme Klemme, da augenblicklich keiner da ist, der mich vertreten kann“.

Erst im Sommer 1952 wurde der alte Mann in die USA ausgeflogen. In Godfrey im Staat Illinois, in einem Brüdernoviziat der amerikanischen Zentralprovinz der Oblaten, wurde Bruder Gerhard freundlich aufgenommen und als Pionier des Nordens geehrt. Er unterrichtete und informierte die Novizen und führte sie in die künftige Arbeit im Norden ein. 1954 reiste er wieder dorthin, diesmal nach Battleford in Kanada. Dort half er im Scholastikat der Theologiestudenten der St. Mary´s Provinz aus. Seine Briefe an die Heimat wurden seltener. Sein Geburtsort Wetten wollte ihn gern zur Feier seines Goldenen Ordensjubiläums bei sich haben. Bruder Kraut winkte ab.

1960 besuchte er auf Einladung des Bischofs sein altes Missionsfeld in Tuktuk am Eismeer. In Aklavik humpelte er durch die altbekannten Gebäude und inspizierte die neuen technischen Anlagen. „Und meine Wenigkeit? Ich kann Gott nicht genug danken, daß er mich undankbaren Sünder so gnädig geführt und gelenkt hat. Daß ich hier im Haus unter so guten Brüdern ein Heim gefunden habe für meinen Lebensabend, und daß er mir Achtzigjährigem noch immer Gesundheit und Humor spendet. Ich singe noch aus Herzenslust, leiste kleine, doch nützliche Dienste im Haus. Ich trage selbst auch Sorge, daß die ´Schiebkarre`, wenn auch wacklig, in Gang bleibt, indem ich die weisen Ratschläge des Pfarrers Kneipp befolge, die mir immer geholfen haben“.

Gerhard Kraut hatte sich 45 Jahre in der Eismission als Maschinist im Sägewerk, als Fischer auf gefrorenem See und als Maschinist auf wackeligen Flußdampfern gequält. Nicht Abenteuerlust, noch Ehrgeiz hielten den körperlich Schwachen so lange am Mackenzie und am Eismeer fest. „Hier stirbt jede Schwärmerei und Romantik“, hatte er mit 70 Jahren aus Aklavik geschrieben. „So lange bin ich schon im Land und habe mich noch nicht akklimatisiert. Immer noch fühle ich die Einsamkeit. Es ist zu kalt, um verliebt zu sein“.

Im letzten noch erhaltenen Brief vom 1. Dezember 1965 schrieb Bruder Gerhard seinen Verwandten in Deutschland: „Trotz des harten Lebens und allerhand Gebrechen habe ich ein hohes Alter erreicht. Alle, mit denen ich drüben in der Arktis gearbeitet habe, sind schon bei Gott. Jetzt im Ruhestand habe ich mehr als das Hundertfache erhalten, das der Heiland den Seinen versprochen hat. Bei mir will es Abend werden. Mit diesem Brief will ich von Euch Abschied nehmen. Ich kann es jetzt noch freiwillig tun. Seit langem lebe ich in einer Familie von Vätern und Brüdern, die zugegen sein werden, wenn mein Ende kommt.“ 

Und er schloss: „Seien wir gescheit und weise! Wie die klugen Jungfrauen sorgten für das Öl in ihren Lampen, so müssen wir uns mühen um ein christliches Leben. Beten wir füreinander! Lebt wohl! Auf Wiedersehen im Himmel! Euer Onkel Gerhard OMI.“
Gerhard Kraut starb drei Jahre später (1968) am Festtag des Heiligen Josef.

Quellenhinweis: Kevelaerer Persönlichkeiten 1

© Martin Willing 2012, 2013